von: Amina Abdulkadir, Ralf Schlatter / uha
14. August 2017

Wo klemmts in der Schweiz?

Am 1. August feierte sich die Schweiz selbst. Überall wurden Feuerwerke gezündet und Reden gehalten. Zwei Reflexionen über das Alpenland möchten wir hier darstellen. Die Rede des Schriftstellers und Kaberettisten Ralf Schlatter, die er in Lenzerheide (Graubünden) hielt und ein Interview mit der Autorin und Künstlerin Amina Abdulkadir.

© Schweiz Tourismus

Eine, die einen ganz eigenen Blick auf die Schweiz hat, ist die Autorin und Slam-Poetin Amina Abdulkadir. Geboren 1985 in Mogadischu als Tochter einer Schweizer Pflegefachfrau und eines somalischen Radiologen, kam sie mit vier Jahren in die Schweiz und ist in Hunzenschwil im Kanton Aargau aufgewachsen. Was wäre das Thema ihrer 1. August-Rede? Das Gespräch können Sie hier hören (SRF)…

Der aus Schaffhausen stammende Kabarettist („schön & gut“) und Schriftsteller Ralf Schlatter wurde eingeladen in Lenzerheide (Graubünden) die 1.-August-Rede zu halten. Vor über 1.000 Menschen sagte er pointiert, was aus seiner Sicht Sache ist. Mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen wir hier anschließend seine Rede.

 

 

 

«FREIHEIT»

 

Guten Abend, meine Damen und Herren,

landauf landab werden heute wieder 1.-August-Ansprachen gehalten. Und ich bin sicher, in praktisch jeder davon kommt mindestens einmal das Wort «Freiheit» vor. Die Freiheit der Schweiz, die Freiheit der Bürger, die Freiheit, die schon Wilhelm Tell damals, die Freiheit, die wir um keinen Preis, und so weiter, und so fort, oje.

Wenn die arme Freiheit wüsste, wie viel Schindluder in ihrem Namen getrieben wird. Ich weiss, es ist eine grosse Sehnsucht von uns Menschen. Frei sein. Ein grosses Wort. Und gerade darum sollte man sehr vorsichtig damit umgehen. Sind wir doch so frei und schauen uns diese Freiheit mal ein bisschen genauer an.

Dieses Lied zum Beispiel, kennen Sie sicher alle: Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Hm. Ich meine, nichts gegen das Lied, aber haben Sie sich schon mal überlegt, was der da singt? Ich meine, sind Sie frei, über den Wolken? Weil dann sitzt man dann da oben, in einer Fünferreihe, genau in der Mitte, rechts zwei gestresste amerikanische Wahlberater, oder russische, egal, auf jeden Fall gestresst, links ein hysterischer Teenager mit den Kopfhörern am Volumen-Anschlag, neben ihm die Mutter, die ein Dutyfree-Parfum nach dem anderen ausprobiert, vor mir so ein Tablett mit einem eingeschweissten Canapee, das aussieht, als würde es um Hilfe schreien und dann – zägg – ein Luftloch.

Hm? Ach, Sie sagen, Reinhard Mey singt gar nicht von uns, sondern von den Vögeln? Frei sein wie ein Vogel? Sie sind gut, schauen Sie sich die Vögel doch mal an! Ein einziger Stress, ein Leben lang! Meinen Sie etwa, die fliegen rum, um die Aussicht zu geniessen? Die müssen ihr Revier verteidigen, müssen jeden Tag was zu fressen haben, die Männchen müssen ein Weibchen finden, die Weibchen müssen ein Männchen finden, Männchen und Weibchen müssen einen Baum finden, müssen ein Nest bauen, dann die dauernde Angst, die Eier werden geklaut, kaum sind die Jungen da, kommt der Ernährerstress, Würmer ranschleppen, wieder Revier verteidigen, jeden Morgen sinnlos früh aufstehen und schreien und zetern, damits die anderen merken, jeden Winter sinnlos weit weg fliegen, hoffen, dass dort immer noch alles einigermassen grün ist, hoffen, den Heimweg wieder zu finden und dass hier auch noch alles einigermassen grün ist, und dann gehts wieder von vorne los, Weibchen suchen, Männchen suchen, Baum suchen —

Freiheit über den Wolken, meine Damen und Herren, das ist, mit Verlaub, etwa so absurd wie, na ja, wie ein Wolkenkratzer in einem Bergtal.

Das Gelände des Flughafens Kloten ist übrigens ein Vogelschutzgebiet. Und auf dem Gelände steht auch das Flughafengefängnis. Für Leute, die es bis hierher geschafft haben, und dafür wieder ausgeschafft werden. Dazu folgendes: Kein Mensch flüchtet freiwillig. Auch Armut ist Gewalt. Und wir haben, mit unserer Lebensweise und unserem Konsumverhalten, mehr mit dieser Armut zu tun, als uns lieb ist. Die wahre Geschichte zum Beispiel des Tomatenbauers aus Ghana. In die Flucht getrieben, weil billige Tomatenkonserven aus Apulien auf dem Markt in Ghana die Preise drücken. Er riskiert sein Leben, fährt übers Mittelmeer – und endet in Apulien. Wo er für einen Hungerlohn genau die Tomaten pflückt, die ihn zum Flüchtling gemacht haben. Zum sogenannten Wirtschaftsflüchtling. Der so heisst, weil unsere Wirtschaft ihn produziert.

Aber Apulien, das ist ja EU, nicht wahr. Das ist Europa. Damit haben wir ja nichts zu tun. Wir sind ja noch frei, in der Schweiz. Wir übernehmen mit jedem zweiten Gesetz europäisches Recht, haben aber kein Wort zu dem Gesetz zu sagen, aber das tut hier nichts zur Sache. Wir sind frei wie Wilhelm Tell! Frei. Frei erfunden.

Klar und ganz im Ernst, wir dürfen machen, was wir wollen, so lange es legal ist, wir dürfen fast alles sagen und schreiben, was wir wollen, wir dürfen wählen und abstimmen. Grosse Freiheiten, die es mit allen Mitteln zu schützen gilt. Aber das mit dem Abstimmen, ist ja auch so eine Sache. In andern Ländern riskieren die Menschen ihr Leben, um wählen zu dürfen, wir hier riskieren, wegen dem Gang an die Urne den zweiten Lauf des Weltcup-Slaloms auf der Lenzerheide zu verpassen. Stellen Sie sich vor, es ist Demokratie, und keiner geht hin.

Ich glaube fast, wir sagen Freiheit, und meinen im Grunde etwas ganz anderes. Zum Beispiel Gleichgültigkeit.

Bald ist in Zürich wieder «Street Parade». Hunderttausende tanzen halbnackt ums Zürcher Seebecken. In der Ankündigung heisst es: «Die Street Parade ist eine Tanzdemonstration für Liebe, Frieden, Freiheit und Toleranz.» Klingt natürlich toll. Alle sind frei, können anziehen, bzw. ausziehen, was sie wollen. Ich war auch mal da, vor ein paar Jahren. Und hab mit Schrecken festgestellt: Alle tolerieren einander und feiern, aber im Grunde ist einem der Typ nebenan scheissegal. Im Grunde feiern die Hunderttausenden vor allem eines: sich selber. Die Streetparade als perfektes Sinnbild unserer Zeit. Das häufigste Bildmotiv an der Streetparade? Das Selfie. Ich bin so frei! Ah, hallo, Herr Google! Bitte? Sie wissen alles von mir? Ich bin ein Sklave meiner Daten? Und das alles wird mir als Freiheit verkauft? Tja. Ach, und übrigens, auch das steht in der Ankündigung, die ganze Strecke der Street Parade ist videoüberwacht. Ist mir doch egal, Hauptsache Spass!

Und von der Gleichgültigkeit ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Schamlosigkeit. Und ich meine damit nicht nur die Schamlosigkeit während einer Busfahrt im Hochsommer, nebenan die halbnackte Teenagerin, schräg gegenüber die Frau, die am Telefon lautstark über Enthaarungsmethoden diskutiert und der Rentner, der ungefragt über Ausländer herzieht. Nein, ich meine auch die Schamlosigkeit von Gedanken. Von Dingen. Von gewissen Leuten. Die Schamlosigkeit eines Offroaders. Die Schamlosigkeit eines Waffenhändlers. Die nicht mit der Wimper zuckende Schamlosigkeit der Credit-Suisse-Spitze bei der Bonus-Verteilung. Die grinsende Schamlosigkeit einzelner Mitglieder der Familie Blocher, die den Magen haben, sich Volksvertreter zu nennen, bei einem geschätzten Vermögen von 12 Milliarden Franken. Die zynische Schamlosigkeit eines Andreas Glarner. Gut, da wissen wir jetzt wenigstens, woher er sie hat. Die Schamlosigkeit von gewissen Volksinitiativen. Die Schamlosigkeit von gewissen Plakaten zu diesen Volksinitiativen. Die Schamlosigkeit der Angstmacherei.

Und da sind wir bei der Schwester der Freiheit. Bei der Angst.

Ich glaube, die Freiheit macht uns Angst. Darum beschwören wir sie alle dauernd. Weil sie uns Angst macht. Weil wir schon lange nicht mehr damit umgehen können. Wir können alles haben, wir können überall hin, wir haben die ganze Welt per Mausklick auf dem Bildschirm. Aber ich glaube, wonach wir uns wirklich sehnen, ist ein Ort, wo wir aufgehoben sind, an dem wir uns auskennen, wo wir in Beziehung sind miteinander. Und statt solche Orte zu schaffen, fluchen wir über die Jugendlichen und ihre Grenzenlosigkeit. Die wir ihnen bereitet haben.

Kennen Sie das Lied von Janis Joplin? Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, nichts mehr zu verlieren zu haben. Vielleicht haben wir auch einfach nur Angst, dass wir all den Reichtum verlieren. Diese Angst macht uns so wunderbar manipulierbar.

Und dieses Wahnsinns-Niveau von Leistung in diesem Land, vom Funktionieren, vom Produzieren, diese Spannung über allem! Wehe, das Tram, der Bus, die Bergbahn kommt zwei Minuten zu spät.

Erinnern Sie sich noch, als es mal im ganzen Land über Nacht etwa einen Meter Schnee gab? Die ganze Schweiz stand still. Nichts mehr ging. Kein Auto fuhr, kein Bus, kein Tram. Nie werde ich die Gesichter der Leute vergessen. Zusammen mit dem Schnee legte sich wie eine weiche Daunendecke eine heitere Ohnmacht über das Land und zauberte allen ein entspanntes Lächeln ins Gesicht, und über allem eine magische Stille.

Oder als die SBB ihren Totalausfall hatten! Mann, hatten wir es lustig im Zug! Alle fingen an zu reden miteinander! Als wäre ein Bann gebrochen! Und mich nähme es extrem wunder, wie viel Paare sich damals gebildet haben, dank dem Stromausfall der Bundesbahnen.

Man müsste das einführen, so offiziell, ab und zu einen solchen Stillstand. Es müsste jemand geben, der ab und zu auf einen Knopf drückt. Am besten wohl ein Bundesrat. Im Departement für Stillstand. Na ja, es wäre nicht das gleiche. Diese Stillstände leben ja davon, dass sie uns unvermutet treffen. Und wussten sie, dass die Einschaltquoten am Fernsehen am höchsten sind, wenn es eine Panne gibt? Wenn alles still steht? Wenn plötzlich ni ——- (lange Pause!) ——-

Nein nein, keine Angst, alles gut, ich wollte nur mal schauen, wie es wäre. Ich glaube, sie sind sehr befreiend, solche Momente. Da kommt man der hohen Kunst der Freiheit schon ziemlich nahe.

Von wegen Freiheit und Kunst: Der gute alte Goethe hat seinem Held Torquato Tasso folgenden Satz in den Mund gelegt: «Frei will ich sein im Denken und im Dichten, im Handeln schränkt die Welt genug uns ein».

Wo er recht hat, da hat er recht. Von wegen Dichten: Wussten Sie, dass Reimen glücklich macht? Also geahnt habe ich das ja schon immer, aber kürzlich fand ich den Beweis. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Reimen glücklich macht. Denn wenn man ein Wort sagt und dann noch eines, dass sich auf dieses reimt, gibt das so ein Harmoniegefühl im Kopf und dann wird ein Glückshormon ausgeschüttet. Eine revolutionäre Erkenntnis! Die Pharmamultis können zusammenpacken mit all ihren teuren Antidepressiva! Ab sofort gibts nur noch einen Beipackzettel, und dort drauf stehen Gedichte. Heine, Rilke, Droste-Hülshoff, Brentano, Polo Hofer!

«Länzerheid ire Summernacht, nochdäm i ha e Bärgtour gmacht.» «Lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie ihre Poetin oder ihren Dichter.»  Oder wenn Sie unglücklich sind in der Partnerschaft. Streiten Sie in Reimform!

(tief) «Lo mi doch in Rue!» – (hoch) «Blos du mir i d Schue!» – «Du häsch immer s letschti Wort.» – «Und du luegsch immer nume Sport!», und so weiter und so fort. Und bald sind sie wieder, wie im Märchen, ein frisch und froh verliebtes Pärchen. Oder hey, liebe Politiker, die ihr alle wollt, dass wir glücklich sind! Reimt doch mal Eure Ansprachen: Hydranten reimt auf Asylanten, Stoffel auf Kartoffel, zum Klimawandel ein Vers von Jandl, und macht Euch doch nicht gleich is Hämp, nu wäg däm blöde Donald – Trump.

Ja klar, mit dem Reimen ist es wie mit dem Träumen, es ist ein flüchtig Medium, wems krumm läuft, läufts halt einfach krumm, doch handkehrum ists wie beim Wetter, wenns schifft, dann schiffts, aber wenn sichs reimt, dänn isch es eifach e chli glätter. Sind Sie nachher wieder daheim, sein‘ Sie doch so frei und machen einen schönen Reim. Das macht Freude und das macht Luscht. Händ Sie no en schöne erschte — Auguscht.

Ralf Schlatter

 

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