von: Giorgio Avanti
12. August 2019
© PD - Giorgio Avanti
Jakob nimmt einen Schluck Wein, in der Küche. Blickt auf blühende Wiesen und denkt, unvermittelt, an Johann. Es sind fünfzig Jahre vergangen. Jakob nimmt noch einen Schluck. Johann ist nicht mehr, ist vor einem Jahr gestorben, erfährt Jakob, nachdem er die Todesanzeige gegoogelt hat. Mein Gott. Johann. Johann und Kant. Die Dissertation «Vom zureichende Grunde», die Jakob, wohlgemerkt, nie gelesen hat, wohl auch nicht verstanden hätte. Wie denn.
Ein Dodge WC Command Car 1944, aus US Kriegsbeständen. Ein Schnäppchen für die Schweizer Armee und die Offiziersschule in Bière.
Johann legt seine grossen Hände ans Steuer. Jakob hockt neben ihm, richtet seine blaue Arbeitsuniform. Es riecht nach Frühling, beide sind Offiziersaspiranten und gut gelaunt. Trotz einer Stunde harten Exerzierens in den Beinen, die Bewegung in geschlossener Abteilung, Viererreihen. Jedermann trägt eine Nummer am Rücken, damit der Kommandant jederzeit einschreiten kann, wenn einer flegelt, strauchelt, in den Passgang fällt.
Der Dodge ruckelt an, pufft schwarze Wolken aus. Johann schaltet, mit Zwischengas, in den zweiten Gang, es knirscht. Im Laderaum vier Kanister Benzin, achtzig Liter genügen für einhundert Kilometer. Halt vor der Kasernenküche. Jakob steigt aus, nimmt einen Korb mit Sandwiches entgegen, legt davon zehn auf den Beifahrersitz, der Rest kommt zu den Kanistern. Es sind wundersame Brote, dick mit Butter beschmiert, darüber Senf und eine dicke Scheibe Schinken. Johann beisst ab, Jakob beisst ab, sie machen mmmmmh. Lauthals singen sie zum blauen Himmel hinauf:
Wenn der weiße Flieder wieder blüht,
sing‘ ich dir mein schönstes Liebeslied.
Immer, immer wieder knie ich vor dir nieder,
trink mit dir den Duft vom weißen Flieder.
Wenn der weiße Flieder wieder blüht,
küß‘ ich deine roten Lippen müd‘.
Wie im Land der Märchen werden wir ein Pärchen
wenn der weiße Flieder wieder blüht.
Der Dodge schaukelt zum Genfersee. Auf dem Weg winkt Adjutant HG Keller. Das Kürzel steht für Handgranate. Kellers Mutprobe. Eine entschärfte Handgranate unter den weissen Volkswagen geworfen, eingestiegen, Motor angelassen und weggefahren. Explosion. Keller ist wirklich ein Künstler. Heute um fünf, schreit Keller, gibt es eine HG, hinter der Kaserne. Wenn das nur gut geht.
In der Nähe des Genfersees ein Schwimmbecken. Die Aspiranten sollen schwimmen und vom Dreimeterbrett springen. Jakob lädt den Brotkorb aus, drapiert ihn beim Sprungturm. Johann greift nochmals fünf Sandwiches.
Sieben Unimogs spucken kurzgeschorene Aspiranten aus. Feldweibel Müller brüllt: Ausziehen, Badehosen an!
Jakob denkt an die Türkenabtritte in der Kaserne, zehn Stück für sechzig Mann. Er erinnert sich schaudernd an die Gerüche, beginnt zu fieren. Beisst trotzdem in ein Sandwich. Müller brüllt: Alle Mann zum Sprungturm. Aspirant Koller nimmt Haltung an, sagt: Ich kann nicht schwimmen. Aber springen kannst, entgegnet Müller hämisch. Du springst, ich hol dich aus dem Wasser.
Koller wird von starken Händen hochgezogen. Er wimmert, ruft nach seiner Mutter, wird gnadenlos vom Sprungbrett gestossen. Müller holt ihn aus dem Wasser, reicht ihm ein Sandwich. Braver Bursche, lacht Müller und zählt die verbleibenden Sandwiches, schreit: Wer hat hier fünfzehn Sandwiches gefressen? Schuldige vortreten! Niemand tritt vor. Johann und Jakob schauen sich an, zucken mit den Schultern.
Müller kocht, zittert wütend Speichelfäden auf seine Uniformärmel. Vergebens. Die Aspiranten glotzen wie Kühe vor dem Alpaufzug. Hie und da blinkt ein zauderndes Grinsen. Ich werde die Diebe schon noch fassen, zischt Müller, und bis dahin geht mir keiner in den Urlaub. Johann schlägt die Hacken zusammen, Herr Feldweibel, das waren wir, Jakob und ich, ist doch kein Verbrechen, den Hunger zu stillen. Zur Strafe gibt’s Wachdienst, die ganze Woche, ab sofort. Johann und Jakob besteigen den Dodge, fahren zur Kaserne, treten den Wachdienst an. Wir verpassen den HG Keller, schade, sagt Jakob.
Punkt fünf Uhr zerreisst eine heftige Detonation die Stille des Kasernenareals.. Das war Keller, ruft Johann. Am folgenden Tag steht eine Todesanzeige in der Lokalzeitung, gezeichnet vom Schulkommando. Ein tragischer Unfall hat unseren geschätzten Kameraden Adjutant Keller mitten aus dem Leben gerissen. Seiner Witwe und den vier Kindern entbieten wir unser tiefes Beileid. Davon, dass der Motor des Dienstwagens nicht anspringen wollte, steht nichts, ebenso wenig von der entschärften Handgranate, die Keller unter den weissen VW-Käfer geworfen hatte.
Müller erscheint auf der Wache, aufgrund der obwaltenden Umstände, sagt er zu Johann und Jakob, seid Ihr vom Wachdienst entbunden. Wir sehen uns morgen bei der Beerdigung. Alles wendet sich zum Guten, lächelt Johann, und sie singen aus voller Brust:
Wenn der Weisse Flieder wieder blüht…
Giorgio Avanti, 6. August 2019
Giorgio Avanti, geboren 1946 in Luzern, ist Maler, Jurist, Autor und Poet, lebt, arbeitet, malt und schreibt in Walchwil am Zugersee. Sein malerisches Schaffen umfasst mehr als zweitausend Werke. Hier geht es zu seiner Website: https://giorgioavanti.ch