von: Urs Heinz Aerni
20. Mai 2022

Wenn aus Puzzleteile eine Geschichte wird

Im ersten Roman von Milena Caderas kommen Geschichten von Frauen zutage, die zurückreichen in die Zeit des letzten großen Krieges. Über deren Hintergründe gibt die Autorin aus Graubünden Auskunft.

© Milena Caderas - Antium Verlag

 

Aerni: Frau Caderas, nun liegt Ihr erster Roman fertig gedruckt in den Buchhandlungen auf. Welches Gefühl dominiert, Freude oder angespannte Neugier auf die Reaktionen?

Milena Caderas: Beides. Dabei zusehen zu können, wie die Frauen der Familien Bühler die Welt entdecken und für sich erobern, ist eine tolle Erfahrung. Wie eine Mutter möchte ich ihnen die Hand halten und zurufen: «Ihr packt das. Ich bin stolz auf Euch.»

Aerni: Und andererseits?

Caderas: Auf der anderen Seite bin ich mir bewusst, dass nicht alles gleich gelungen ist. Die Zweifel waren und bleiben gross. Nicht alle Leserinnen und Leser werden einen Zugang zur Geschichte finden. Im Umgang mit negativen Reaktionen aller Art werde ich einen Weg finden müssen. Bis jetzt hatte ich allerdings sehr viel Glück und die allerersten Reaktionen waren konstruktiv und äusserst positiv.

Aerni: Ihr vielstimmiges Buch umkreist drei Frauen und drei Generationen und die Lektüre führt uns nicht nur ins Hotel Schweizerhof in Lenzerheide, sondern auch in die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs und Polen. Wie kamen Sie zu diesen Geschichten?

Caderas: Am Anfang stand die Idee einer jungen Frau, die viele Fragen hat, und um ihren Platz in der Welt ringt. Dann hörte ich von den Arrestzellen im Dachstock des Churer Rathauses. Dort wurden die polnischen Internierten für einige Nächte eingesperrt, wenn sie gegen die strengen Regeln, die im Orangen Befehl festgeschrieben waren, verstiessen.

Aerni: Beim «Orange-Befehl» handelte es sich um das Kontaktvebot zwischen internierten Männern zu den einheimischen Frauen.

Caderas: Genau. Die Teile fielen wie in einem Puzzle zusammen. Es ergab sich die Geschichte einer jungen Churerin, die sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht und ihrer Familie. So kam es nach und nach zur komplexen Familiengeschichte der Bühlers.

Aerni: Sicher waren viele Recherchen nötig, wie dürfen wir die Arbeit am Stoff uns vorstellen?

Caderas: Die ersten konkreten Ideen fürs Buch hatte ich 2018. Es war extrem viel Recherche notwendig. Es gab viele Höhen und Tiefen. Wichtig waren die Gespräche mit Zeitzeugen. Aber auch in Archiven habe ich viel entdeckt, zum Beispiel habe ich viele Zeitungen aus der damaligen Zeit gelesen. Gerade in den Inseraten und Annoncen gab es ein paar tolle Entdeckungen zu machen. Ich bin auch nach Warschau gereist, wo ich einen der letzten lebenden Internierten treffen durfte.

Aerni: Ihre Erzählweise gestaltet sich in Episoden…

Caderas: ..die immer wieder mehrfach neu geordnet und überarbeitet wurden.

Aerni: Ihre Geschichte, die die Schicksale von den 1940er Jahren bis in die heutige Zeit erzählt, war sicher auch eine Herausforderung an die literarische Sprache. Sie besuchten auch Kurse für Kreatives Schreiben u. a. bei Michèle Minelli. Was konnten Sie davon mitnehmen?

Caderas: Insbesondere die Ermunterung war mir extrem wichtig. Die Dozentin und Schriftstellerin hat mir Mut zugesprochen, Texte zu veröffentlichen. Auch der Austausch mit anderen Schreibenden hat mich vor allem enorm bestärkt. Ausserdem gibt mir das handwerkliche Rüstzeug eine gewisse Sicherheit. So wage ich jetzt diesen Schritt.

Aerni: In Ihren Roman kommen nicht wenige Figuren vor, wie haben Sie sie gefunden?

Caderas: Die drei weiblichen Hauptfiguren waren für mich ein wichtiger Ausgangspunkt. Für mich fühlt es sich nicht so an, dass ich sie gefunden habe. Ich erlebe es eher so, dass sie mich als Sprachrohr ausgesucht haben, um ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte und keine der Figuren sind autobiographisch. Und doch muss ich als Autorin immer auf mich und mein Erleben zurückgreifen. Am deutlichsten deckt sich meine Lebenswelt mit jener von Zusa, der Enkeltochter. Allein schon wegen der Lebensdaten.

Aerni: Sie wurden in Domat/Ems geboren, studierten in Freiburg, waren als Journalistin tätig und heute leben Sie wieder in Chur. Erinnern Sie sich noch, wie Sie zum Schreiben fanden?

Caderas: Geschichten habe ich immer schon gemocht. Mit dem Schreiben habe ich begonnen, als ich noch nicht mal alle Buchstaben kannte. In der ersten Geschichte ging es um drei Affen, die aus einem Zoo verschwinden. Später habe ich das Schreiben zu meinem Beruf gemacht.

Aerni: Es geht im Buch auch um Flucht aus Polen in die Schweiz im letzten Weltkrieg. Das aktuelle Geschehen in der Ukraine verleiht Ihrem Buch eine beängstigende Qualität. Kann Schreiben und Erzählen Nöte lindern? Was meinen Sie?

Caderas: Die Kriegsentwicklung in der Ukraine habe ich mir nicht vorstellen können. Körperliche oder materielle Nöte kann Literatur natürlich nicht lindern. Aber fürs mentale Wohlbefinden sind Geschichten absolut zentral. Davon bin ich überzeugt. Wie schade, dass gerade so viele Erzählungen geschaffen werden – egal ob als Erlebnisberichte oder Nachrichten, die nichts als Hass schüren.

Aerni: Wenn ich ein Gemälde malen würde, mit einem lesenden Menschen mit ihrem Buch in den Händen, wie müsste es aussehen?

Caderas: Eine schöne Frage. Das Bild müsste Ruhe ausstrahlen. Ich stelle mir eine Frau vor einem Kaminfeuer mit einer Tasse Tee in der Hand vor. Sie ist vertieft in die Lektüre, schmunzelt leicht. Vor dem Fenster tobt ein Sturm. Alles gezeichnet in sanften Farben. Damit das Ganze nicht zu idyllisch daherkommt: Auf ihrem Hemd glänzt ein grosser Fleck. Hätte ich nicht zwei linke Hände, würde ich ein solches Bild tatsächlich gerne malen.

 

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Das Buch: «Fräulein Bühler hat noch Fragen», Roman von Milena Caderas, Antium Verlag, ISBN 978-3-907132-24-1, 2022

 

Milena Caderas wurde 1979 in Domat/Ems geboren. An der Universität Fribourg studierte sie zweisprachig Zeitgeschichte. Später arbeitete sie als Redaktorin für verschiedene Schweizer Tages- und Wochenzeitungen, unter anderem für die «Südostschweiz», und berichtete hauptsächlich über politische und gesellschaftliche Themen. Milena Caderas besuchte mehrere Kurse in Kreativem Schreiben, insbesondere bei Michèle Minelli und Peter Höner. Aktuell absolviert sie an der Fachhochschule Graubünden eine Weiterbildung zur Informationswissenschaftlerin.