von: Martin Kunz
1. Oktober 2017
© uha
Vor ein paar Tagen fiel mir beim Schmökern in meiner eigenen Bibliothek ein Büchlein in die Hand, das mir mein Vater zur Konfirmation geschenkt hat – das Handbüchlein der Philosophie von Paul Häberlin. Wozu wollte mich mein Vater damit anregen? Häberlin war Philosoph, Psychologe, Pädagoge – und Theologe. Anfänglich Pfarrer, wurde er anschliessend Lehrer, später Direktor eines Lehrerseminars und schliesslich (von 1922 bis 1948) Professor für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Universität Basel. Er kannte C.G. Jung sehr gut – beide wuchsen im gleichen Dorf auf – und er war befreundet mit Ludwig Binswanger. Er schrieb mehr als 30 Bücher, u.a. Wissenschaft und Philosophie, Grundfragen der Erziehung, Der Geist und die Triebe und Allgemeine Ästhetik. Ahnte mein Vater, dass ich eines Tages lebensbestimmend in diese Themenfelder hineingeraten würde? Oder waren es die Fragen, die in diesem Handbüchlein aufgeworfen werden, bzw. die Antworten, die meinem Vater imponierten?
Die erste der 60 Fragen lautet: Gibt es überhaupt unbedingte Wahrheit? Schon im dritten Satz heisst es dann, dieser Satz sei unbedingt zu bejahen. Und worin besteht diese unbedingte Wahrheit? Dass ich bin, ist wahr. Was der Satz „Ich bin“ meint, ist gar die Urwahrheit. Diese auszulegen, ist der Sinn der Philosophie. Philosophie ist Bewusstmachung dessen, was wir heimlich immer gewusst haben.
In seinen andern Büchern zeigt er immer wieder auf, wie das zu verstehen ist. Philosophen wollen wissen, wie es ist, und zwar nicht anscheinend oder vermutlich, sondern eigentlich. Wahrheit ist Offenbarheit dessen, was ist. Und die Einsicht als eine Art Sehen ist es, die uns das Verständnis des Seienden erschliesst. Was bringt uns das? Es bringt uns die Möglichkeit, das Leben wirklich wissend zu gestalten. Wahres Wissen führt zu einsichtigem Verhalten, indem es mir den Sinn weist. Wissen ist Sinnsetzung. Und zwar nicht subjektiv gültige, nicht als Seinsvermeinung, sondern an sich, als unbedingte Wahrheit. Ihr Impuls ist immer bedroht: durch Traditionen und Dogmen, durch unser Abstützen auf Empirie, unsere Skepsis und unsern Hang zum Relativismus. Traditionalismus ist für Häberlin blosser Glaube, Empirie ist empiristische Trübung, Relativismus Ausdruck von Mutlosigkeit, Schwäche, Verzweiflung. All diese Anfechtungen stecken aber im Philosophen drin. Philosophie ist deshalb immer kritische Philosophie. Kritik aber heisst nichts anderes als Selbstkritik, Auseinandersetzung mit mir selbst. Insofern ist Philosophie immer dialektisch. Der Philosoph führt einen permanenten Kampf gegen investierte Unwahrheit und gegen die eigenen Entgleisungen. Wahre Einsicht kommt von woanders her. Sie ist nie Konstruktion. Konstruktion ist Ersatz für mangelnde Einsicht.
Es geht aber nicht nur um die Philosophen. Der Philosoph unterscheidet sich von andern nur durch seine spezifische Energie des Wahrheitswillens. Jeder Mensch ist nach Häberlin wahrheitswillig. Die Urwahrheit Ich bin ist absolut unerklärlich, aber aufschliessbar, sie ist nicht Rätsel, sondern Geheimnis.
Das Subjekt will letztlich nicht das Subjektive, sondern das Objektive. Sein Gewissen ermöglicht ihm die an der Objektivität orientierte Selbstbeurteilung. Ein Mensch ohne Gewissen ist ein Widerspruch in sich selbst. Wir sind zwar inkarnationssüchtig, vitalbestimmt, aber fähig, den objektiven Sinn subjektiv zu bejahen. Das wäre Geist, Kultur: die Anstrengung, die Lebensaufgabe zu lösen.
Warum sind wir uns denn nicht einig, wenn es um diese ersten und letzten Fragen geht? Es gibt nur eine Wahrheit, aber wir sind als Menschen unvollkommen, das heisst: Alle Differenzen, die wir haben, sind die Folge von abergläubischen Resten in uns, das sind Stimmungen und Modephilosophien, denen wir anhängen. Umso mehr ist unsere Aufgabe das Streben nach unbedingter Wahrheit und dadurch nach der Liebe zur Weisheit.
Ist es nicht wohltuend für uns Skeptiker, Relativisten und Verflüssiger, für einmal innezuhalten und uns auf solch emphatisches Philosophieren einzulassen? Der Fake-Verfallenheit mächtiger Männer und unserer eigenen Weisheitsferne den Gedanken d e r Wahrheit entgegenzuhalten?
Martin Kunz