von: Urs Heinz Aerni
5. Januar 2016
© Cover: "Lesen und lesen lassen" Geschichten und Gedichte für Buchliebhaber. Illustration: Heidelbach, Nikolaus . 240 S. , 2014 Atlantik Verlag
Machen wir den Test: Sie nehmen ein Buch in die Hände, klappen es etwa in der Mitte auf und lesen ein paar Zeilen. Dann stellen Sie sich vor, dass Sie zum Beispiel im Zug sitzen und gefragt würden, ob dieser Platz noch frei sei. Da Sie die Frage überdurchschnittlich freundlich bejahen, eröffnet Ihr Gegenüber ein Gespräch über die schlechte Luft oder dass wieder mal kein Speisewagen mitgeführt werde. Sie können nicht anders und gehen auf die Allerwelts-Themen ein, klappen das Buch zu und legen es auf das Fensterbrett oder neben sich auf den Sitz. Und jetzt gucken Sie das daliegende Buch an! Was sehen Sie? Korrekt. Die Rückseite! Alle lesende Menschen in fahrenden Zügen legen das Buch immer mit dem Titelbild gegen unten hin.
Ein immer wieder zu beobachtendes Ereignis, dessen Erklärung mehr als rätselhaft zu sein scheint. Eine tabulose Gesellschaft seien wir hier im Westen. Alle un- und menschliche Themen fordern Stammtische heraus, lassen Druckmaschinen rotieren und lassen aber millionen Pixeldaten auf die Flachbildschirme los. Nur die sagenhafte Information, welches Buch momentan gelesen wird, versucht man
mit allen Tricks abzuwenden, bis doch eben die bange Frage einen erzittern lässt: „Was liest du denn da?“ „Och…“ tut man dann so gelangweilt, „nichts Spannendes und was machst du so?“. Kann der Spieß umgedreht werden, ist alles gerettet.
Vier Gründe für die Tabuisierung der aktuellen Lektüre seien hier erwähnt, doch nur eine Maßnahme ist vonnöten:
1. Lesen ist tatsächlich eine Intimshandlung, die man durchs Plaudern über das Abtreibungsgesetz, Verdauungsbeschwerden oder die Besenkammergeschichte eine Tennisspielers zu wahren versucht.
2. Das soebengelesene Buch ist dermaßen schlecht, dass es bei Bekanntwerden des Titels einem Coming Out gleich käme.
3. Das soebengelesene Buch ist dermaßen gut, dass es sich nicht lohnt, den undifferizierten und unqualifizierten Kommentar erdulden zu müssen womit man doch gleich das heranziehende Tief vom Westen thematisieren möchte.
oder 4. Es ist das bewusste Kalkül, die Neugier dieser Person mit dem Ansinnen zu wecken, endlich jemanden gefunden zu haben, der bereit ist, nicht nur über das Buch zu reden, sondern auch gleich die eigene Meinung dazu abzuhören.
Die Maßnahme bestünde darin, die Grafiker aller Buchverlage zu bitten, das Titelbild zum Rück- oder Hinterbild umzuwandeln. So quasi, das rückseitige Cover. So, ginge es eine Weile, bis sich die Lesenden daran gewöhnt haben und aus Versehen immernoch das Buch „verkehrt“ hinlegen und der Nachbar auf einen Blick sieht, um was es sich handelt. Erst wenn die Hinterseite zum Cover wird, kann wieder offen über das gelesene Buch diskutiert und geschämt werden. Mich geht’s ja nichts an, ich lese sowieso ohne Hülle.