von: Fredi Andermatt
21. März 2016

Tierische Ethik und Moral?

Auf Einladung von unserem Korrespondenten Urs Heinz Aerni sinniert der Autor Fredi Andermatt über große Begriffe und hinterfragt vermeintliche Fortschritte
Wie kam der Mensch zur Moral?

Wie kam der Mensch zur Moral? © Urs Heinz Aerni

Ich wartete im Auto in einigem Abstand zu den Pferdeboxen darauf, dass ich in der Hippotherapie an der Reihe war. Der Bauernhof war für etwa 20 Minuten menschenleer, während sich Pferde in offenen Einzelboxen langweilten. Ohne Lesestoff blieb mir nur die Beobachtung der Pferde etwa 10 Meter vor mir.

Bereits kurz nach meiner Ankunft verlor sich die Aufmerksamkeit der Pferde auf mein geparktes Auto. So beobachteten sie sich selbst über die Trennwände hinweg; es schien mir, eher lethargisch als interessiert.

Doch dann wandte sich ein sehr großes Pferd der hohen Trennwand zur Nachbarbox zu und hängte seinen Kopf darüber. Das etwas kleinere Pferd in der Nachbarbox empfand dies als Aufforderung und wandte sich dem übergehängten Kopf zu, näherte sich ihm seitlich Kopf an Kopf so weit, dass sich die Lippen des großen Pferdes gerade etwa 10 cm vor dem Auge des kleineren Pferdes befanden, wo er für die nächsten gut 10 Minuten auch blieb.

Das große Pferd streichelte nun in der Folge unaufhörlich die mir zugekehrte Kopfpartie des kleineren Pferdes, indem es Oberlippe und Unterlippe auf und ab bewegte. Was das kleinere Pferd auf der anderen Seite am Kopf des großen Pferdes tat, konnte ich nicht sehen. Etwa sechsmal wieherte (es klang wie ein kurzes Quietschen) das kleine Pferd, wandte seinen Kopf kurz ab und hielt ihn darauf wieder dem großen Pferd hin.

Fasziniert konnte ich den Blick nicht abwenden und hoffte auf irgendeine Wendung. Doch das immergleiche Spiel ging weiter, nur das große, die Situation anscheinend dominierende Pferd wieherte nie, es fuhr mit seiner Liebkosung beharrlich fort.

Seitdem habe ich persönlich den Eindruck, dass dies mehr war als eine Pferdekommunikation. Aus dem gesamten Verlauf und der Reaktion des kleineren Pferdes kam ich auf die Idee, dass diese Pferde eine Art Humor oder eine Art Moral hätten. Es sah aus, als ob das große Pferd wiederholt etwas sagte, was das kleinere entweder lustig fand oder frech.

Klar ist mir schon, dass ich damit mein menschliches Denken auf die beiden Tiere übertrage («anthropomorphisierend»).

Dass Tiere irgendwie kommunizieren, bestreitet niemand. Doch haben sie auch eine Moral? Könnten wir als Menschen eine solche nichtmenschliche Moral überhaupt erkennen? Außer die, die wir mit gewissen Tierarten zu teilen meinen, wie Empathie, gemeinschaftliches Verhalten, gegenseitige Anerkennung.

Andererseits fragte ich mich, wie kamen wir Menschen zu der Moral? Wenn Moral das ist, was wir für richtig halten, für gut oder schlecht, und an das sich Mitmenschen halten sollten, dann denken wir uns das erst einmal so und sprechen darüber. Wir strafen jene, die sich nicht daran halten, auf irgendeine Weise ab.

Fasziniert beobachten wir im Zoo die Herde der Schimpansen oder Gorillas, deren Verhalten zueinander wir schon aus eigener Erfahrung kennen. Wir werden jedoch keine Steintafeln oder Schriftrollen finden, auf denen ihnen vorgeschrieben ist, wie sie sich zueinander verhalten sollen. Ich darf deswegen annehmen, dass über das «Sollen» im Verhalten von den Affen selbst nicht nachgedacht wurde. Und trotzdem scheinen sie über eine gewisse Ethik zu verfügen.

Ich vermute daher, weil Tiere auch Gefühle haben, Zuneigung, ein Gefühl für soziales Verhalten, für die Sorge um den Nächsten in der Gruppe, dass es sich um eine natürliche Ethik handeln muss, die evolutionär entstanden ist, sich entwickelt hat.

Selbst die «goldene Regel» scheint intuitiv vorhanden: «Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu!» (vgl. auch Matthäus 7,12) Dass Tiere denkenderweise keine vernunftbezogenen, menschlichen Regeln wie den kategorischen Imperativ von Kant aufstellen können, ist nicht relevant. Doch glaube ich, dass diesen zu denken die gefühlte Ethik unserer Vorfahren voraussetzt.

Wir beobachten dies im Zoo und in Tierfilmen. Wir sehen, dass in kleineren oder größeren Gemeinschaften «leben und leben lassen» gilt, außer, jemand aus dem Clan greife mein Eigentum an, der mir nicht sympathisch ist oder der mir vorab nicht etwas Gutes antat, denn sonst würde ich ja mein Eigentum vielleicht mit ihm teilen wollen. Es scheint bei der Beobachtung, dass jedes Tier seine persönliche Freiheit reklamiert, innerhalb der Grenzen der Gesellschaft, in der es auch Autoritäten gibt, denen man sich unterordnet. Fast scheint es mir, als sei auch liberales Verhalten evolutionär gewachsen. Von Gleichheit, Gleichschaltung, von Sozialismus keine Spur.

Auf dem Bauernhof bemerkte ich zudem, dass ein Pferd keiner respektvoll vorbeischleichenden Katze oder einem neugierigen Hund etwas zuleide tat. Eine Spezies kann sich also durchaus in eine andere «hineindenken» und sie in Ruhe lassen, obwohl sie von der anderen nichts Konkretes zu erwarten hat, was ihr zugutekäme (eigennütziges – gutes Verhalten).

Der Mensch sei des Menschen größter Feind. («Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf», sagte der Komödiendichter Plautus ca. 200 v. Chr.) Ist denkbar, dass auch das Pferd des Pferdes größter Feind sei? Der Affe des Affen? Der Delfin des Delfins? Wir können es nicht wissen, aber nachvollziehen, dass der Gedanke ziemlich einfältig ist. Warum soll es aber gerade beim Menschen so sein? Wer will uns das einreden, und wozu?

Der Mensch soll als einziges «Tier» im Grunde seiner Seele angeblich schlecht sein, weswegen er eine Religion als moralischen Überzug benötige, welche ihm sage, was Gut und Böse sei, ohne diese Führung seine pure Triebhaftigkeit ihn zu Mord und Totschlag veranlassen müsste, ihn zu einem antisozialen Egoisten machen würde. Agnostikern und Atheisten wird dies häufig unterstellt. Noch schlimmer: Sie seien Nihilisten!

Ich gebe zu, es könnte so scheinen, wenn man sieht, zu welch schrecklichen Taten der Mensch in der Lage ist. Doch standen zum Beispiel hinter der Judenverfolgung meist nicht gerade religiöse Motive?

Ich denke, die Menschen sind gut, sogar von klein auf. Sie waren es schon vor über 10000 Jahren. Denn es gab damals schon blühende Gemeinschaften, die ohne einfühlendes Handeln für den Nächsten und für die Gemeinschaft nicht hätten entstehen können. Wir sollten uns an den Gedanken gewöhnen, dass unser soziales Verhalten, unser Gespür für das Gute, evolutionär aus dem Tierreich heraus entstanden ist, dass wir es von unseren tierischen Vorfahren geerbt haben. Dass wir uns einen «guten Gott» ausdenken konnten, ist ein Beweis dafür, dass wir zuvor schon wussten, was gut ist, was gutes moralisches Verhalten ist. Unsere Gefühle sagten uns das.

Ironischerweise sind es erst die von Menschen rational ausgedachten irrationalen Konstrukte, die zum größten Feind des Menschen geworden sind. Die ihn zu Mord und Totschlag in Massen anstiften, zur Beschränkung seiner natürlichen Gefühle zwingen, mittels menschenfeindlicher Dogmen (Zölibat, vorehelicher Sex, Homosexualität, Selbstbefriedigung). Die ihm martialische Strafen androhen vor dem Jüngsten Gericht. Darüber könnte ein Pferd oder ein Affe nur lachen.

Sind uns Menschen verheerende, grausame Handlungen vielleicht deswegen möglich, weil wir zu denken vermögen, weil wir nach dem Warum zu fragen in der Lage sind? Worauf wir so großartig stolz sind, könnte sich als evolutionäre Fehlentwicklung unserer Art erweisen, zu unserer eigenen Zerstörung führen (Religionskriege mit Atombomben, Zerstörung unserer Lebensgrundlagen).

Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Dinosaurier etwa 150 Millionen Jahre lang gelebt haben, die Menschenaffen seit 33 Millionen Jahren leben, während es den Homo sapiens – uns Menschen – erst seit rund 130 000 Jahren gibt.

Eine nachdenkliche, relativierende Bescheidenheit darüber, was wir als höchste Entwicklungsstufe rühmen, täte uns gut. Immerhin sind wir ein Produkt unserer Vorstufen, inbegriffen deren Moral.

Fredi Andermatt ist 1946 geboren und erkrankte vor 17 Jahren an Multiple Sklerose. Er lebt in der Nähe von Zürich und sein Buch mit 52 Texten lässt sich nicht einordnen aber ist für Menschen, die gerne nachdenken, bestens geeignet. Auch als Geschenk. Website www.52-mal.ch

Das Buch: 52-mal nachgedacht von Fredi Andermatt, 264 Seiten, Edition Punktuell, 978-3-905724-19-6, Euro 36,50