von: Stefan Diebitz
4. Oktober 2018
© Kameru Verlag
Wer weiß schon, wo Eckernförde liegt? Nein, es ist wirklich nicht der Nabel der Welt, aber doch ein nettes Städtchen, dessen zweiter Namensteil uns verrät, wo wir suchen sollten: Eckernförde liegt zwischen Kiel und Schleswig an der Ostsee, eine hübsche kleine Stadt, die aber in diesem Roman mit keiner Zeile geschildert oder gar beschrieben wird. Auf der ersten Seite wird zwar kurz das besondere Licht über dem Meer angesprochen, aber sonst spielt die Landschaft für den Erzähler Wolfgang Marx sowenig eine Rolle wie die Straßenzüge oder das Wetter, denn hier wie auch schon in seinen früheren Büchern konzentriert er sich ganz und gar auf die Begegnungen seines Personals. In diesem Fall bedeutet das, dass ein Held namens „Wolf“ nach dem Tod seiner Mutter zu ihrer Beerdigung heimkommt; und daran schließen sich einige erfreuliche, aber auch einige weniger erfreuliche Begegnungen an. Denn da gibt es doch einige offene Rechnungen…
Marx schreckt auch vor drastischen Szenen nicht zurück, aber weil ja alles dialogisch ist, werden diese vom Personal seines Romans erzählt oder auch nur angedeutet, nicht etwa von einem Erzähler breit ausgeführt. In die Gegenwart dieses Kurzromans oder doch wenigstens in die Zeit unmittelbar davor gehört „der Showdown auf dem Friedhof“, also der Fall Wolfs in die Grube – Anke, seine verflossene Jugendliebe, hat nämlich noch eine Rechnung offen und begleicht sie ausgerechnet auf dem Gottesacker, wo sie ihn in das offene Grab seiner Mutter stößt. In den Worten Marens, seiner Kusine, hört sich das so an: „Na, ist ja auch egal, er jedenfalls unten, Anke oben und wirft ihm ihre Rose nach, dreht sich um und stapft davon. Allgemeiner Aufbruch, geradezu fluchtartig.“
Und auch die zweite drastische Szene hat mit Anke zu tun und wird von einem Unbeteiligten erzählt – nachdem Wolf vor vielen, vielen Jahren aus Eckernförde verschwunden war, ließ sich Anke von ihrem Vater auf einem Sofa mit dem Gürtel züchtigen: „Da dröhnte dann eine Stille aus diesem Zimmer, direkt unheimlich, bis dann dieses Klatschen anfing, er hat sie mit dem Gürtel, weißt du“. Das Verb fehlt, wie das oft so ist in der mündlichen Rede. Das Buch besteht ja fast nur aus Redebeiträgen, und Syntax und Vokabular spiegeln das deutlich wieder; vieles ist schnoddrig – „Ob ich maa zaahln daaf?“, heißt es ganz am Anfang im Stile Arno Schmidts –, aber dialogisch im Wortsinn ist wirklich alles, nämlich ein anspielungsreiches Hin und Her – wie sich eben Gespräche zwischen Freunden, Bekannten und Verwandten entwickeln. Nicht unbedingt nett, aber immer ziemlich lebhaft.
Auf jeden Fall sind es seelische Abgründe, die nach Jahrzehnten wieder aufbrechen, als „Wolf“ zurück nach Ultima Thule (= Eckernförde) kommt, um seine Mutter zu beerdigen. In dem Frühstückszimmer seines Hotels, auf der Promenade oder in Kneipen begegnet er seiner weiteren Verwandtschaft und alten Freunden, aber ihre Gespräche sind wenig sentimental, sondern kreisen um die alten Konflikte. Zunächst hatte Wolf die in ihn verliebte Anke sitzen gelassen, was die teils furchtbare, teils groteske Prügelorgie nach sich zog, und sich sodann aus seiner Heimat verdrückt – offenbar für Jahrzehnte. Jetzt, nach dem Tod seiner Mutter, geht es zusätzlich um das mütterliche Erbe und damit um das liebe Geld. Einerseits eine tief verletzte Seele, andererseits der schnöde Mammon…
Es ist nicht der erste Roman des Psychologieprofessors Wolfgang Marx, aber es ist vielleicht sein bislang bester und ganz gewiss derjenige, der einem breiten Publikum am ehesten gefallen kann. Denn er ist schon dank seiner oft lebhaften, mit Zitaten, Anspielungen und Witzen durchsetzten Dialoge sehr unterhaltsam. Auch besitzt der Roman einen richtigen Plot, eine abgeschlossene Handlung, wenngleich das Ende eher offen geraten ist. Größtenteils bestehen ja alle Romane dieses Erzählers aus Gesprächen, in denen fast immer das „er sagte“ ebenso fehlt wie eine Beschreibung der Umstände, so dass von einem raunenden Beschwören des Imperfekts und damit von einem traditionellen Erzählen keine Rede sein kann. In diesem Buch aber bewegt sich der Erzähler auf konventionelleren Pfaden, und es finden sich besonders in dem ersten und dem letzten Kapitel doch Hinweise auf die Umgebung, sprich auf Eckernförde.
Typisch für Marx sind die zwischen die einzelnen Redebeiträge eingestreuten, in Klammern gesetzten Kommentare. Die Klammern symbolisieren die Gehirnwände des Erzählers – in sie sind einfach die Eindrücke von seinem Gegenüber eingeschlossen, sehr häufig ohne ein Verb. Persönliche Reaktionen des Helden auf die Rede anderer Personen – etwa: „es gab mir einen Stich“ oder dergleichen – verschweigt er dem Leser, und weil die Stadt und die Landschaft keine große Rolle spielen, ist es fast so, als läse man ein Drehbuch oder ein Theaterskript. In jedem Fall ist Aufmerksamkeit geboten, um das Verhältnis zwischen dem Erzähler und seinen Gesprächspartnern richtig einschätzen zu können, denn es finden sich immer genug Informationen, die dem Leser aber mehr untergeschmuggelt als direkt mitgeteilt werden und die klarmachen, wer das ist, mit dem er gerade spricht, und wie die Figuren zueinanderstehen.
Es ist ein schönes Buch, das man nach der Lektüre ungern aus der Hand legt – ich jedenfalls hätte gern noch ein wenig mehr gelesen.
Stefan Diebitz
Das Buch: Wolfgang Marx: Am grauen Meer. Roman. KaMeRu Verlag Zürich, 2018
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