von: Jill Grey
4. Januar 2022

Textprobe aus „Henry“ von Jill Grey

Henry lebt in Zürich und ist Psychiater, wohlgemerkt kein erfolgreicher bezüglich der Heilung seiner Patienten, was unter Umständen daran liegt, dass ihm seine Arbeit keine Freude bereitet. Wenn man es recht bedenkt, bereitet ihm gar nichts Freude, ausgenommen, er kann beim Heimkommen über eine Plastikente fahren, welche ein Kind in seiner Einfahrt liegenlassen hat.

Fact ist: Henry ist kein netter Mensch.

Möchten Sie Henry eine Woche lang bei der Arbeit und in seiner Freizeit begleiten?

Wenn Ja, werden Sie diesen kleinen Mann mögen? Oder werden Sie ihn verachten? Eventuell fühlen Sie sich mit ihm verbunden? Vielleicht haben Sie aber auch Mitleid oder hegen gar Sympathien für ihn?

Viel Spaß beim Lesern dieser Textprobe von Jill Grey

© Cover Henry von Gill Grey

 

Montag

 

Vor dem Badezimmerspiegel stehend gleitet Henrys Blick wie jeden Morgen intensiv und kritisch über sein Spiegelbild. Zu seinem Leidwesen ist es ihm auch heute nicht vergönnt, eine Veränderung zu erkennen. Mit zusammengekniffenen Augen neigt er sein Haupt näher an den Spiegel heran; keine Spur von üppiger Haarpracht, die aus seinen Geheimratsecken sprießt, diese starren ihn weiterhin – gleich zwei kleiner Fußballfelder – öde an. Nicht einmal der Ansatz von Wachstum vermag er zu erhaschen.

Hat er wirklich erwartet, dass innert einer Woche dort eine üppige Haarpracht aufblühen wird, wo seit Jahren nichts mehr keimt? Nun ja, kann man das nicht von einem Wundermittel erwarten, welches er für sechsundachtzig Franken im Internet erstanden hat und das bereits nach einer Woche zu Neige geht? Ein Wundermittel, auf dessen Packung mit einem älteren – notabene glücklich lachenden – Herrn mit fülligem Haar geworben wird und den Worten, dass dieses Produkt jenem Herrn das Lachen wiedergeschenkt hat.

Zu Henrys Bedauern findet er an diesem Morgen weder das eine noch das andere in seinem Spiegelbild.

Missmutig blickt er auf die Verpackung und das Bild mit besagtem, glücklich lachendem Herrn mit üppiger Haarpracht, beugt sich noch mehr über das Waschbecken, bis sein Atem den Spiegel beschlägt. Vielleicht sollte er genauer hinsehen? Das tut er, allerdings ist die einzige Erkenntnis, die er dabei erlangt, die, dass sein kleiner Bauchansatz, der allmählich unschöne Rundungen annimmt, ihm im Weg steht. Ein weiterer Makel, der sich unweigerlich mit dem Älterwerden einschleicht. Vermutlich wäre es sinnvoller in einen Hüftgürtel – anstelle von Haarwuchsmittel – zu investieren, und sich einzugestehen, dass, wo nichts mehr ist, nichts mehr wachsen kann, einerlei was die Werbefuzzis einem vorgaukeln.

Nach zwei Jahren und einer Vielzahl von Wundermitteln, wäre es weise einen Schlussstrich zu ziehen, schnurzegal wie oft er in der Werbung über neue Gesichter stolpert, die ihm grinsend weismachen wollen, dass es auch für seine kleine Fußballfelder noch Hoffnung gibt. Zumindest hat er die Genugtuung, die Wirtschaft angekurbelt zu haben, berücksichtigt man die Unsummen, die er bislang in seine nichtvorhandenen Haare investiert hat.

Und mal ehrlich, abgesehen von einem leichten Ansatz von Bäuchlein, sieht Henry mit seinen vierundfünfzig Jahren doch ganz passabel aus. Er hat reine Haut und die Falten im Gesicht schlagen auch keine Wellen. Was seine Geheimratsecken angeht, die könnte man durchaus als interessant interpretieren, ein reifer Mann, der absoluter Durchschnitt ist, weder hässlich noch attraktiv. Um es schonungslos auf den Punkt zu bringen; Henry ist äußerlich gesehen ein Langweiler, der durch nichts auffällt, blendet man sein wenig liebenswertes Wesen aus. Letzteres beschert ihm jedoch keine schlaflosen Nächte, denn, wären andere nicht was sie sind, müsste Henry nicht sein was er ist.

 

An diesem Morgen kommt Henry zum Schluss, dass sein Älterwerden nicht wie erhofft reibungslos an ihm vorbeiflattert, worauf sein Spiegelbild ihm unverzüglich eifrig zustimmend entgegennickt. Nicht, dass er auf eine Depression zusteuern würde, solchen Unpässlichkeiten geht er tunlichst aus dem Weg. Nichtsdestotrotz kann er eine gewisse Verstimmung keinesfalls ignorieren, und er muss es wissen, er ist Psychiater, zugegeben ein wenig erfolgreicher, was die Genesung seiner Patienten/Klienten (Ist für Henry dasselbe)  betrifft. Wahrscheinlich rührt dieser Umstand daher, dass ihm seine Arbeit weder Freude noch Erfüllung beschert, hat sie zu keiner Zeit. Aber weil Henry statt mit Schönheit, mit Geduld gesegnet wurde, kamen schon in der Schule die Mädchen und Jungen mit ihren Problemen zu ihm gerannt. Und er hat sich sämtliche angehört, inklusive bravem und mitfühlendem Nicken, was er übrigens auch heute noch tut, bloß wird er heute, im Gegensatz zu früher, dafür bezahlt.

Während er sich vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer ankleidet, übt er seinen Therapeutenblick, leider kommt der an diesem Morgen wenig überzeugend rüber. Die kleinen, braunen Augen, die sich in seinem runden Gesicht fast verlieren, geben an diesem Morgen nichts her, was man mit Weisheit oder Verständnis vereinen kann. Um die Situation ein klein wenig aufzulockern, dreht er eine Pirouette vor dem Spiegel – es sieht nicht sehr ästhetisch aus – wie sollte es, bei einem leicht rundlichen Körper, der nie über 1.70m hinausgewachsen ist. Schwermütig seufzt Henry, zieht seinen Bauch ein und denkt einmal mehr darüber nach, Sport zu treiben. Kommt indessen wie jedes Mal, zum Ergebnis, dass der Aufwand, im Gegensatz zum Ertrag, sich keinesfalls lohnt.

 

In der Küche schenkt sich Henry eine Tasse Tee ein und trinkt ihn, aus dem Fenster spähend, schluckweise. Das Leben, die Menschen, alles ungemein vorhersehbar, das hatte er schon in jungen Jahren erkannt. Dasselbe galt für seine Nachbarn – vorhersehbar. Pünktlich um halb acht kommt Herr Birnbaum, seinen Aktenkoffer in der Hand und seine hässliche Frau in der Tür verabschiedend, aus dem Haus und macht sich auf den Weg ins Büro, wo er den ganzen lieben langen Tag andere Menschen unglücklich macht. Menschen, die voraussichtlich irgendwann in seiner – oder einer anderen – Praxis landen, weil sie finanziell ruiniert sind und ihre Frau sie samt Kindern verlassen hat, was man in manchen Familien als Segen bezeichnen könnte. Eine kleine Fußnote: Herr Birnbaum arbeitet auf dem Finanzamt.

Frau Birnbaum, wohl eher Melonenbaum, wenn die auch nicht auf Bäumen wachsen, war seinerzeit allenfalls eine halbwegs ansehnliche Frau gewesen, aber vier Kinder haben alles, was man hätte ansehen wollen, zunichte gemacht – oder ihre Lebensauffassung, sich gänzlich gehen zu lassen. Was ihre Kinder angeht, kommen diese einem akustischen Alptraum gleich und Henry bedauert es zutiefst, dass es unzulässig ist, Kinder wie streunende Hunde einzufangen und ins Heim zu stecken, wo sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Und da kommen sie, die lieben Kleinen von den Birnbaums, um Papa nachzuwinken. Stehen da als können sie kein Wässerchen trüben. O ja, Frau Birnbaum ist wahrhaftig gebärfreudig, Henry würde es nicht überraschen, wenn die nächste Rotznase sich längst in ihrem wuchtigen Leib eingenistet hat.

Während er zusieht, wie Frau Birnbaum ihrem Mann nachwinkt, fragt er sich, ob er heute etwas missgelaunt ist. Seine Antwort darauf ist ein klares Nein! Darf er nicht auch einmal einen Durchhänger haben? Muss er sich tagtäglich – und das seit annähernd dreißig Jahren – all die Durchhänger von Jedermann und -frau anhören.

 

Auf dem Weg in seine Praxis im Kreis 1 lauscht Henry den Nachrichten im Radio – vorhersehbar – immer dasselbe. Die ganze Welt hängt durch, nur, was interessiert ihn, was in einem fernen Land geschieht, oder dass der Klimawandel unschöne Ausmaße annimmt, et cetera et cetera. Mit all diesen globalen Krisen kann er sich beileibe nicht auseinandersetzen, da sind ja noch seine Patienten, die sich stetig im Krieg mit sich selbst und anderen befinden. Demzufolge deprimieren ihn die Morgennachrichten einzig und er drückt an den Tasten des Radios herum, bis er einen Sender findet, auf dem Musik gespielt wird. Göla singt das Lied vom Schwan, o ja, der Zug ist für Henry endgültig abgefahren. Hat sich das hässliche Entlein mit vierundfünfzig Jahren zu keinem schönen Schwan transformiert, ist damit nicht mehr zu rechnen, zumal diesem Schwan langsam die Federn ausgehen. Was heißt hier langsam? Genervt fummelt er weiter an den Tasten herum und landete bei Freddie Mercury, der ihm mitteilt, dass die Show weitergehen muss. Naja, für Freddie ist sie definitiv gelaufen. Er schaltet das Radio ab und kriecht, wie jeden Tag, mit zwanzig Stundenkilometern im Morgenverkehr durch Zürich.

 

In seiner Praxis im Niederdorf wird Henry von Frl. Stuckis strahlendem Lächeln und einem zuckersüßen ›Guten Morgen‹ begrüßt. Das Fräulein ist mitnichten die Vorzimmerdame, die er sich gewünscht hat. Der Punkt ist, sie ist ledig und nach ihrem Aussehen zu beurteilen wird sie das auch bleiben. Hat sie mit vierzig Jahren noch keinen Trostpreis ergattert, stehen die Chancen 1:1000, dass dies künftig geschehen wird. Das kommt Henry sehr gelegen, erübrigt sich so eine künftige Konfrontation mit Problemen, die unweigerlich in sein Leben treten, hätte Frl. Stucki überraschend geheiratet und unter Umständen sogar Kinder haben wollen, wobei das mit vierzig eher unwahrscheinlich ist. Ohne dem Fräulein zu nahe treten zu wollen, ist er sich fast sicher, dass sie noch Jungfrau ist. Naja, trägt man eine Brille, mit so dicken Gläsern wie der Boden einer Bierflasche und hat ein überdimensionales Pferdegebiss im Mund, sollte man gegebenenfalls andere Möglichkeiten in Betracht ziehen, was eine Verbindung anbelangt, de facto; auf dem freien Markt wird es da schwierig. Womöglich wären in einem abgelegenen Bergdorf die Chancen grösser, wo es noch an der Tagesordnung ist, sich über den Gartenzaun zu paaren. Nur, um in einem Kuhstall zu arbeiten hat Frl. Stucki weiß Gott nicht den idealen Körperbau – sie ist spindeldürr – was dem gesunden Fortpflanzungsinstinkt eines jeden Bauern im Weg steht.

Zu Henrys Freude erledigt das Fräulein ihre Arbeit ausgesprochen gut und billig, ist zudem bescheiden und ausnahmslos bereit, nach Feierabend das eine oder andere für ihn zu erledigen. Zum Beispiel seine Wäsche aus der Reinigung holen oder mal husch in die Apotheke laufen, um ihm Aspirin zu besorgen, was er in seinem Job zur Genüge braucht. Und sie macht vorzüglichen Kaffee und vergisst nie seinen Geburtstag, was er von sich nicht behaupten kann, was den Ihren betrifft.

Nein, Henry ist keineswegs böse, er ist schlichtweg Realist und fühlt sich durch und durch als Schweizer, und die stehen mit beiden Beinen auf dem Boden, nicht inbegriffen seine Patienten.

 

Montagmorgen und der erste Durchhänger wird in Kürze auf Henrys Couch liegen. Pünktlich wie jeden Morgen bringt Frl. Stucki ihm die Patientenakten für den Tag und seinen ersten Kaffee. Es ist stets dasselbe Ritual: Henry betritt die Praxis und man tauscht die üblichen Floskeln wie ›Guten Morgen und wie geht es Ihnen‹ aus, mit der Erwiderung von ›Danke, gut‹. Etwas anderes erwartet er von seiner Vorzimmerdame auch nicht. Um halb neun bringt sie ihm die Akten, eine Tasse Kaffee und schließt dann leise die Tür hinter sich.

Am Schreibtisch sitzend öffnet Henry die oberste Akte und schlürft gemächlich seinen Kaffee, wobei dieser plötzlich bitter schmeckt. Nach zehn Jahren sollte das Fräulein wissen, dass er den Montag unter keinen Umständen mit Frau Nötzli beginnen will. Ist das Absicht?

Er drückt die Taste der Sprechanlage und konfrontiert seine Vorzimmerdame mit dieser Katastrophe, welche für ihn ein biblisches Ausmaß hat. Und was ist das? Hört er da einen Anflug von einem Lächeln in ihrer Stimme, als sie ihm gesteht, dass ihr da offensichtlich ein ›kleiner‹ Fehler unterlaufen sei? Sie entschuldigt sich halbherzig und verspricht, dass das nicht mehr vorkommt. Dunkel besinnt sich Henry, dass dieses ›nicht mehr vorkommen‹ zu seinem Leidwesen eben doch gelegentlich vorkommt.

 

Frau Nötzli ist die Inhaberin einer kleinen Boutique an der Langstraße. Die derzeitigen Favoriten ihrer ToptenProbleme sind die wachsende Zahl der Ausländer in ›ihrem‹ Quartier, inklusive die Überzeugung, dass diese Leute sie alle ausrauben oder gar vergewaltigen wollen. Henry kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand, ob Schweizer oder Ausländer, auf die Idee kommen könnte eine Frau Nötzli zu vergewaltigen. Die gute Frau ist sechzig Jahre alt und da hängt alles herunter, was an einem Körper hängen kann. Sie hätte den vermeintlichen Vergewaltiger höchstwahrscheinlich zu Tode geredet, falls ihn der intensive Geruch von Parfüm, Deo, parfümierter Hautcrème und Haarspray nicht vorher in die Flucht geschlagen hätte, Produkte, in denen die gute Frau jeden Morgen zu baden scheint. Und sind es nicht ihre Befürchtungen, betreffend der kriminellen Ausländer oder einer Vergewaltigung, kann sie sich gut und gerne eine ganze Sitzung lang über ihre Töchter auslassen, die alles in ihrem Leben falsch machen, bis zur Wahl der Ehemänner und der Erziehung der Kinder.

Henry kann nachvollziehen, dass sich Herr Nötzli vor drei Jahren mit einem Herzinfarkt aus ihrem Leben gestohlen hat, was sie ihm natürlich noch heute vorhält. Doch was sie ihrem Mann bis zu ihrem eigenen Tod mit Sicherheit nachtragen wird, ist die Tatsache, dass er ein Viertel seines kleinen Vermögens den anonymen Alkoholikern vermacht hatte. Alkohol war für den armen Mann der Strohhalm, der ihn in dieser Ehe über Wasser gehalten hatte.

 

Auch Henry trinkt gerne mal ein Glas – gerade jetzt und in Anbetracht der kommenden Sitzung wäre er nicht abgeneigt – für solche Notfälle gibt es ja noch Prinz Valium, welches ihm sein Arzt zum Schlafen verschrieben hatte. Er benötigt es zum Arbeiten, es macht ihn ungemein gelassen, genau das Richtige für eine Überdosis Nötzli an einem Montagmorgen.

Henry schürzt die Lippen, hat er etwas vergessen? Vierundfünfzig Jahre und schon fängt es an, sie schleicht sich langsam heran, die Demenz. Ah ja, die zusätzliche Notitz für Frl. Stucki. Er schnappt sich seinen Füller und schreibt auf den Notizblock:

Frau Nötzli, Montagmorgen = unzumutbar! Und wenn er genauer darüber nachdenkt, ist diese Frau an keinem Morgen tragbar, demnach fügt er zusätzlich ein Postskriptum mit diesem Vermerk unten an und legt die Notiz in eine hierfür spezielle Ablage auf seinem Schreibtisch. Es würde sich bestimmt die eine oder andere bis zum Abend dazugesellen. Auch das ist ein tägliches Ritual; verlässt Henry am Nachmittag oder Abend die Praxis, nimmt seine Vorzimmerdame die Notizen an sich und arbeitet sie bis zum nächsten Tag ab. Das Fräulein hat sich in den zehn Jahren noch nie beschwert oder Geld verlangt, weil sie nach Feierabend für ihn Besorgungen macht oder Notizen abarbeitet. Sie scheint es gern zu tun und wieso sollte er sie für eine Sache bezahlen, die sie gern macht, das wäre doch eine Beleidigung. Frl. Stucki ist zweifellos eine gute Arbeitskraft; intelligent, vorausdenkend, engagiert und still, Letzteres schätzt er an ihr besonders.

 

Nachdem Henry seinen Kaffee ausgetrunken hat, blickt er sich gelangweilt in seinem Sprechzimmer um, in dem er sich tagein tagaus die Sorgen von all den Nötzlis anhört, die ihn nicht im geringsten interessieren, unterscheiden sie sich auch kaum wesentlich voneinander.

Um Punkt neun wirkt das Valium. Henry atmet einmal tief durch und geht dann ins Wartezimmer, um Frau Nötzli zu empfangen. Die gute Frau nimmt, vorhersehbar, immer denselben Stuhl, den mittleren links bei der Tür. In seinem Wartezimmer stehen links und rechts je drei Stühle. Obschon er seit zwei Jahren selten mehr als höchstens vier Patienten am Tag hat und sich die Termine niemals überkreuzen, stehen weiterhin sechs Stühle im Wartezimmer. Frl. Stucki sprach ihn einmal darauf an, warum er so viele Stühle im Wartezimmer hat. Er sagte ihr, dass mache was her.

Seine Klientin seufzt schwer, legt die Glückpost auf den Stapel zurück und will sich just die Schweizer Familie zu Gemüte führen, als sie ihn sieht. Nur am Rande bemerkt, sie ist regelmäßig mindestens zwanzig Minuten vor dem Termin in der Praxis. Frl. Stucki fragte ihn einmal, ob sie ihr einen Kaffee anbieten solle. Auf keinen Fall, er will derlei schlechte Angewohnheit um keinen Preis unterstützen und dies sei eine Praxis, kein Straßencafé.

 

Es gibt wenig, was Henry noch überraschen kann, aber Frau Nötzli schafft es allemal. Sie watschelt strahlend und grotesk aufgebrezelt an ihm vorbei in sein Sitzungszimmer – im Takt wabbelt ihr Hintern auf und ab – dabei kommt er nicht umher, ihr Erscheinungsbild auch von hinten genauer in Augenschein zu nehmen, und leer zu schlucken. Bevor die Frau sich auf die Couch plumpsen lässt, bekundet sie pathetisch, dass sie sich für ein neues Outfit entschieden habe und jetzt ginge es ihr viel besser, sie fühle sich wie neugeboren!

Was Henry befürchtet, kommt postwendend aus ihrem Mund, nämlich die Frage, was er hierzu meine? Was kann man zu pinkfarbenen Leggins meinen, die aussehen, als hätte man mit letzter Kraft (Rien ne va plus) eine überdimensionale Birne hineingequetscht, mehr noch, die ältere Dame hat sich allen Ernstes für ein grässlich grünes Top entschieden, in dem ihre Brüste kaum Platz finden und bis an den Bauchnabel gedrückt werden. Ganz zu schweigen von den schrillen Farben, die sich die gute Frau an diesem Morgen ins Gesicht gepinselt hat. Von den diversen Düften, welche sich buchstäblich auf die Füße treten, sich penetrant im Sprechzimmer ausbreiten, gar nicht zu sprechen.

Henry fallen ein paar Attribute ein, die er hier zum Besten geben könnte, entschließt sich aber für eine subtilere Wahrheit und erwidert mit einem aufgesetzten Lächeln, dass sie ihn fortlaufend zu überraschen vermag. Und da Frau Nötzli – Frau Nötzli ist, hinterfragt sie seine Antwort keine Sekunde, und mitnichten bemerkt sie, dass es keine ist.

Nachdem Henry mit ruhiger Stimme seine Klientin gefragt hat, was sie dazu bewogen hat, sich ein so sprühendes Outfit zuzulegen, nimmt das seinen Lauf, was immer seinen Lauf nimmt, liegt Frau Nötzli auf seiner Couch; sie holt tief Luft und nach einer Dreiviertelstunde – und seinem diskreten Hinweis, dass man langsam enden sollte – macht sie auch wirklich einen Punkt, rappelt sich auf, drückt ihm im Anschluss ihren Dank aus und bestätigt einmal mehr, wie sehr er ihr doch helfe, ihr Leben zu meistern. Und schon rauscht die überdimensionale pink/grüne Birne wieder aus seiner Praxis und Henry denkt betrübt, dass dies wohl nicht das Kompliment des Jahres gewesen sei.

Er macht sich kurz ein, zwei Notizen zur Sitzung, unter anderem, dass sich Frau Nötzli in ihren neuen Nachbarn verliebt hat, und schreibt sogleich eine weitere Notiz an Frl. Stucki, dass sie vor deren nächsten Sitzung unbedingt eine neue Kleenexbox bereitstellen soll. Die würde sie garantiert brauchen, und das liegt nicht daran, dass ihr neuer Nachbar viel jünger ist, es liegt daran, dass diese Frau jeden Menschen bis zur Verzweiflung voll quasselt, was gewöhnlich in einem Drama und der Opferrolle ihrerseits endet.

 

Frau Nötzlis Nachbarn geben sich auf jeden Umzugstermin die Klinke in die Hand, und das wird sich niemals ändern, da die gute Frau das Haus mit dem Laden und den zwei Wohnungen ihr Eigen nennen kann. Ihre Ansprüche an die Mieter sind exorbitant. Entweder wirft die ältere Dame die Leute raus, weil deren Privatsphäre meilenweit von ihren Vorstellungen abweicht – und über besagte Privatsphäre ist sie allzeit bestens informiert – oder die Bewohner ergreifen freiwillig die Flucht, was eher die Regel als die Ausnahme ist. Frau Nötzli vertritt eisern die Ansicht, dass man die Nachbarschaft pflegen sollte. Unter pflegen versteht besagte Dame, dass, wenn sie hört, dass die Nachbarn nach einem anstrengenden Tag von der Arbeit nach Hause kommen, sie unter irgendeinem Vorwand in den Hausflur watschelt und anfängt zu plaudern, lebt man doch unter einem Dach. In ihrem Fall ist das Synonym für plaudern – aushorchen. Henry kennt jede Geschichte eines jeden Nachbarn, bis zu den kleinen schmutzigen Geheimnissen, die seine Klientin glaubt ausgegraben zu haben.

Selbstredend wird die ältere Dame nie müde, den armen Nachbarn die Hausregeln unter die Nase zu reiben, genauso beharrlich überprüft sie, ob besagte Regeln eingehalten werden. Man darf zum Beispiel keine Jacken, Hemden oder Hosen in der Waschmaschine im Keller waschen, welche Metallknöpfe haben, keine Metallknöpfe in Frau Nötzlis Waschmaschine, das macht die Maschine kaputt! Und findet sie dennoch bei einer Kontrolle solche Kleidungsstücke, stopft sie das Corpus Delicti nass in einen Beutel und legt es mit einem schriftlichen Tadel vor die Tür des Übeltäters. Bei Regen, auch wenn es bloß nieselt, dürfen die Fenster nur gekippt werden, da der Regen in die Räume dringen und ihre alten Böden beschädigen könnte. Dabei ist es sekundär, ob es Hochsommer und drückend heiß ist. Insofern begibt sich die Hausdame bei Regen hinaus und kontrolliert sämtliche Fenster, ist eines ganz offen, werden die lieben Nachbarn sogar in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und an den eklatanten Regelverstoß erinnert. Und weil von der Straße her schon genug Lärm in ihr Reich dringt, ist die Ruhe im Haus sozusagen das elfte Gebot. Als Ruhestörung gilt auch, wenn man abends schweren Schrittes in der Wohnung herumläuft, so dass die Holzböden knarren. Und da die Wände sehr dünn sind, kann man die Wasserleitungen hören, also ist es untersagt, nach zehn am Abend zu baden, duschen oder das Geschirr abzuwaschen.

 

Regeln sind ein wichtiger Bestandteil in Frau Nötzlis Leben und jede noch so kleine Missachtung derer, wird in ein schwarzes Buch eingetragen, dessen Inhalt sie kontinuierlich in den Sitzungen erläutert oder wohl eher zelebriert. Lässt sie sich einmal mehr über einen Regelbruch und den Konflikt aus, den dieser Verstoß unweigerlich zur Folge hatte, sieht er diese Frau als feuerspeienden Drachen, keiner kann ihn besiegen, außer man schmeißt ihm eine Handgranate in den Rachen. Alternative – man wirft das Handtuch.

Henry ahnt, was in den nächsten zwei Wochen auf ihn zukommt. Heute war Frau Nötzli euphorisch gewesen, sie ist verliebt, das kommt sporadisch vor. Jedoch spätestens in zwei Wochen herrscht Krieg in ihrem Reich an der Langstraße, die ersten Regelverstöße werden unweigerlich begangen und das ist ein direkter Angriff auf ihre Person und Autorität. Nach der Wut kommt die Trauer und mit dieser die arme, alte Dame zum Vorschein, das Opfer der Gesellschaft, zutiefst missverstanden und ungeliebt. Und in diesem desolaten Zustand würde sie Unmengen von Kleenextüchern vollheulen, die Frl. Stucki am Ende jeder Sitzung aufsammeln muss. Er selbst hütet sich tunlichst, eines davon anzufassen, egal wer reingerotzt hat.

 

Henry schließt die Kartei von Frau Nötzli, denkt, dass vielleicht irgendjemand einmal diese Dame im Affekt erschlagen könnte, wedelte sie im falschen Moment vor der falschen Person mit ihrem schwarzen Buch herum. Könnte man eventuell in der Kategorie vorhersehbar unterbringen. Und selbstverständlich würde man besagte Person für die Tat bestrafen. Was die Frage aufwirft, wo die Gerechtigkeit beginnt und wo sie aufhört? Einen Menschen in den Wahn zu treiben, der einfach nach der Arbeit seine Ruhe haben möchte, ist das nicht ebenfalls eine kriminelle Tat? Doch was kümmert es Henry, er würde der alten Dame keine Tränen nachweinen und ihr Platz wäre schnell von einer anderen Frau Nötzli eingenommen. Es gibt ja so viele von ihnen.

Frl. Stucki bringt ihm seinem zweiten Kaffee und sieht sich anschließend im Zimmer um – keine Kleenexbällchen, die sie aufsammeln muss. Folglich schüttelt sie lediglich die Kissen auf, öffnet das Fenster und geht leise hinaus. Beim Hinausgehen betrachtet Henry seine Vorzimmerdame eingehend und denkt einmal mehr, dass sie eine gute Figur hat, und wenn auch dünn, so ist ihr Po wohlgeformt und die braunen Haare, die sie heute zu einem Zopf geflochten hat, sind jederzeit gepflegt. Ja, von hinten denkt sich bestimmt so mancher Mann, dass es sich durchaus lohnen könnte, diese Frau auch von vorne zu betrachten, nur reicht ein kurzer Blick von der Frontseite aus, um den Irrtum zu bemerken. Und was den traditionellen Kleiderstil vom Fräulein angeht, naja, der kommt einer grauen Maus gleich. Von dem, was Frau Nötzli im Überfluss hat, hat seine Vorzimmerdame eindeutig zu wenig, immerhin harmoniert ihr Stil mit der konservativen Einrichtung seiner Praxis. So muss Henry wenigstens nicht befürchten, dass es einem Patienten in den Sinn kommt, dem Fräulein Avancen zu machen.

 

Um halb elf kommt Herr Kerner, Bestatter von Beruf. Henry macht dem Fräulein eine zusätzliche Notiz, mit dem Vermerk, dass sie Herr Kerner keinen Termin mehr vor der Mittagspause geben soll. Er unterstreicht die Aussage dreimal mit einem roten Stift. Herr Kerner ist im Prinzip ein guter und anständiger Mensch, mit solidem Charakter. Henrys Problem bei diesem Klienten ist, dass der gute Mann ein unstillbares Bedürfnis hat, über seine Tätigkeit zu sprechen. Wer kann es ihm verübeln, zu Hause bei seiner Frau ist es ihm strikt untersagt, über seine Arbeit zu sprechen, die Leichen bescheren ihr Albträume und nehmen ihr den Appetit beim Abendessen.

Herr Kerner meinte zu Anfang, da Henry von der Kasse bezahlt würde und er diesen Beruf gewählt habe, nutze er die Sitzungen, um über alles zu sprechen, damit er seinen Job, wie von seiner Frau gewünscht, aus dem Privatleben heraushalten könnte. Dafür schleppt sein Klient jetzt die Leichen seit zwei Jahren in Henrys Praxis und reihert sich in jeder Sitzung bei ihm aus. Dieses Mal schildert er den Zustand einer Wasserleiche und wie eine solche aussieht und riecht, nachdem sie zwei Wochen im Zürichsee gelegen hat. Anschließend gibt er minutiös wieder, wie er es schaffte, diesen Klienten – seine Worte – für die Angehörigen, falls vorhanden, ansehnlich herzurichten.

Besten Dank, das waren eindeutig zu viele Informationen.

Henry löffelt nach der Sitzung verdrossen ein Joghurt, statt sich eine richtige Mahlzeit einzuverleiben. Dementsprechend aufgebracht knallt er die Akten Frl. Stucki auf den Tisch. Das Fräulein tippt jeden Tag seine Aufzeichnungen für ihn ab. Sie meinte einmal, es sei unpassend, dass sie Einsicht in die Akten habe, inklusive seiner wenig taktvollen Bemerkungen. Ihren Einwand ignorierend, sagte er ihr was Fakt ist, nämlich, dass fünfundvierzig Minuten mit seinen Patienten genug sei und er sich nach einer Sitzung auf keinen Fall, wenn auch bloß schriftlich und im Geiste, weiter mit der Person auseinandersetzen wolle. Und da das Fräulein ihm treu ergeben und äußerst verschwiegen sei, sehe er darin kein Problem. Im Gegenteil, so könne sie ihre Zeit ausfüllen, währenddessen er sich mit dem nächsten Durchhänger befasse.

 

Die letzte Klientin am Montagnachmittag ist Frau Hollenstein. Eine Frau, die ausnehmend introvertiert ist. Anders formuliert, ihre Bereitschaft, in den Sitzungen mit ihm zu kooperieren, ist schlichtweg nicht vorhanden. Daher verfällt sie, nachdem sie Henry begrüßt und sich auf seine Couch gelegt hat, vorhersehbar, umgehend in Schweigen.

Frau Hollenstein starrt stumm die Decke an, derweil blättert Henry in seinen von Frl. Stucki abgetippten Notizen, um sich auf den neusten Stand zu bringen. Allerdings gibt es da nicht viel, was er sich bei der letzten Sitzung notiert hat. Also schließt er die Mappe, räuspert sich und fragt, wie es ihr den heute gehe? Die Antwort ist ein leiddurchdrungener Seufzer. Dann, mit so leiser Stimme, dass er sich vorbeugen muss, um die Worte zu verstehen, gibt sie ihr Befinden kund; Frau Hollensteins Goldfische scheinen, nach ihrer Auffassung, eine Depression zu haben, sie wirken sehr träge, ja fast apathisch.

Hat Henry sich nach dem Befinden der Goldfische erkundigt? Nicht dass er wüsste. Randnotiz: Goldfische sind für Henry keine Haustiere, sie sind vielmehr Deko.

Er formuliert die Frage anders, was der geschiedenen, kinderlosen Frau einen weiteren, tiefen, schwermütigen Seufzer entlockt. Stille. Henry lauscht in diese göttliche Stille, bis er bemerkt, dass ihm die Augenlieder zufallen. Er schreckt hoch und beugt sich seitlich vor, um zu sehen, ob seine Klientin möglicherweise eingeschlafen ist, diese starrt weiterhin an die Decke. Dritter Anlauf. Er fordert sie auf, ihm von ihrer letzten Woche zu erzählen. Jackpot.

 

Die Frau, um die fünfzig Jahre alt, schnappt sich den Dienstag letzter Woche und rattert mit monotoner Stimme die ganze Woche herunter bis zum gestrigen Sonntag. Henry hat seine liebe Mühe dabei wach zu bleiben. Da ist nichts, was seine verkümmerten Instinkte gereizt hätten, bis die gute Frau zum gestrigen Abend kommt, der lässt ihn aufhorchen, zwei Worte holen ihn aus seiner Lethargie; eine runterhauen. Da er nicht mehr sagen kann, in welchem Zusammenhang die Worte stehen, bittet er die Frau, den Satz zu wiederholen. Diesmal stößt sie geräuschvoll die Luft aus und bringt ihn auf den neusten Stand. Aha. Hier geht es um Herr Hollenstein, ihren Ex. Interessant, scheint der in den Sitzungen bis anhin nicht existiert zu haben. Und weswegen genau wollte sie ihrem Ex–Mann eine runterhauen? Ach so, weil er eben ihr Ex ist. Stille.

Eine Weile horcht Henry erneut in die Stille. Ein Räuspern seinerseits. Dann die Aufforderung, ihm das näher zu erläutern. Was den nächsten tiefen Seufzer auslöst und daraufhin … nichts folgt. Er schielt auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Er unterdrückt ein Gähnen, betrachtet eingehend die Topfpflanze, welche ihm Frl. Stucki geschenkt hat und die sie gewissenhaft pflegt.

Sieben Minuten. Henry bezweifelt, dass seine Klientin heute noch aus ihrem Schneckenhaus hervorkriechen wird – oder überhaupt einen zusammenhängenden Satz von sich gibt, geschweige denn einen Durchbruch erzielt.

Drei Minuten. Er räusperte sich ein bisschen lauter und verkündet, dass die Sitzung beendet ist. Merkt noch an, dass sie das nächste Mal dieses Thema, betreffend ihres Ex–Mannes, nochmals aufgreifen sollten. Frau Hollenstein setzt sich auf und schaut ihn betreten an. Hat sie ihn verstanden? Er hakt nach. O ja, sie hat ihn sehr wohl verstanden. Er wolle, dass sie über ihren Ex spricht. Und wäre sie dazu bereit? Seufzer – wenn er das denn wolle.

Eigentlich hätte Henry hier einhaken und ihr die Frage zurückschieben sollen, doch da die Zeit um ist, nimmt er Abstand davon.

 

Frl. Stucki tut ihre Arbeit, unterdessen macht sich Henry eine Notiz in Frau Hollensteins Akte, damit er bei der nächsten Sitzung dort weitermachen kann, wo sie heute aufgehört haben. Dann schnappt er sich die Wagenschlüssel und versucht die Müdigkeit abzuschütteln, welche diese Sitzung bei ihm hervorgerufen hat. Eines schönen Tages würde er bei dieser Frau in der Sitzung einschlafen, dies war zweifellos vorhersehbar.

Warum sie überhaupt zu ihm kommt, abgesehen davon, Löcher in seine Decke zu starren, entzieht sich seiner Kenntnis. Natürlich hat er sie des Öfteren darauf angesprochen, seit sie vor gut einem Jahr in seine Praxis spaziert ist. Ihre sich wiederholende Antwort – sie weiß es selbst nicht. Ebenso wenig, weshalb sie wiederkommt. Zu Anfang wollte sie sich verändern, aufgeschlossener werden und aufhören den lieben langen Tag vor sich hinzuträumen. Von was sie denn träumt, konnte die gute Frau ihm nicht sagen – so dies und das halt. Nun gut, Frau Hollenstein ist ja erst ein Jahr bei ihm in Behandlung, da ist noch Steigerungspotenzial vorhanden und gibt man sich extrem optimistisch, hat sie heute doch annähernd einen Mikrodurchbruch errungen, denn nie zuvor hat er gehört, dass sie irgendwelche eigenen Ambitionen hätte. Und seinem Ex eine runterhauen zu wollen, ist doch eine Ambition, oder?

 

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