von: Stefan Diebitz
26. Oktober 2016
© Kameru Verlag
Wolfgang Marx, Jahrgang 1943, ist ein renommierter Psychologe, der Lehrstühle in München und Zürich innehatte; heute ist er Emeritus und mehr an Literatur interessiert und schreibt selbst Romane und Erzählungen, nachdem er erste Versuche schon zu seinen Zeiten als Wissenschaftler veröffentlicht hat. 1995 erschien sein erster Roman, 2012 „Der Standpunkt der Schafe“ – ein höchst merkwürdiges Buch und alles mögliche, aber kein üblicher Unterhaltungsroman. Das bedeutet nicht, dass es nicht unterhaltend wäre, wohl aber, dass der Leser sich auf eine doch etwas andere Form von Literatur einstellen muss.
Auf weite Strecken könnte der Roman als Theaterstück durchgehen, denn er ist fast durchweg dialogisch aufgebaut und enthält weder einen Plot mit einem Anfang, einem gewissen nacherzählbaren Geschehen und einem schönen Ende, noch finden wir dort Schilderungen – nicht von Handlung oder Geschehen, nicht von Menschen und ihrem Äußeren und auch nicht von Natur oder Stadt. Es sind Gespräche, zumindest äußerlich eher Small Talk, aber überaus anspielungsreich und dicht gewoben, ein lebhaftes, meist kontroverses oder vielleicht auch nur süffisantes Hin und Her. Die einzelnen Redebeiträge werden ganz konventionell mit Anführungsstrichen gekennzeichnet, aber gegen jedes Herkommen die Hinweise auf den Sprechenden in Klammern dazwischen gesetzt, wie etwa ganz am Anfang:
„Der menschliche Verstand?“ (Da kann ich nur lachen.) „Die Dummheit ist die am besten verteilte Sache auf der Welt.“ (Mit ausgestreckter Hand jeden Widerspruch zurückweisend:)
An eine derartige Präsentation von Gesprächen in einem Roman muss man sich erst einmal gewöhnen. Auch ist es nicht leicht, sich eine Vorstellung von den einzelnen Personen zu machen, denn nur allmählich und immer ganz beiläufig finden sich Hinweise auf ihren Charakter, ihre Stellung oder auch ihre körperliche Konstitution. Einmal – dieser Teil der Geschichte spielt in Gießen – sind es die Teilnehmer eines wissenschaftlichen Kongresses, also höchstwahrscheinlich Psychologen, wie auch der Inhalt ihrer Gespräche nahelegt; oft sind es Unterhaltungen des Ich-Erzählers mit seiner Ehefrau Anna, einige Male als „Epilog im Badezimmer“ überschrieben.
Der Titel ist ziemlich rätselhaft, scheint uns aber zwei Hinweise auf den Inhalt zu geben – einmal sind Schafe nicht eben als besonders intelligent bekannt und wie oben der erste Satz des Romans deutlich macht, geht es in den Gesprächen unter anderem um Dummheit; außerdem sind Schafe Opfer, sogar im wörtlichen Sinn bei religiösen Zeremonien und wenn nicht dort, dann doch wenigstens in der Küche, worauf das Gießener „Schaulamm“ im Eingangsbereich eines Restaurants hinweist, in dem ein Schaf natürlich auch auf der Speisekarte auftaucht. Auch dank des Schaulamms sieht der Erzähler vor seinem „inneren Auge Schafe […] irgendwo auf einer Rampe im ländlichen England“.
Ein ganzes Kapitel ist etwas kryptisch „Schafe blicken auf“ überschrieben. Offenbar hat ein Ehepaar einen lieben Gast bei sich, und jetzt finden wir mokante Duelle, in denen es unter anderem um eine gemeinsame Vergangenheit an der Universität geht, um eine längst vergessene Studentenzeitschrift oder um jemanden, der der „arme Jacobi“ genannt wird. Aber es geht auch um die Schweiz als Rentnerparadies – und um den „Anspruch, klüger zu sein als alle anderen – das artet gelegentlich dazu aus, dümmer zu werden oder sich doch zumindest dümmer zu stellen als alle anderen.“ Und spätestens damit sind wir wieder beim Thema.
„Der Ich-Erzähler“, heißt es einmal, „ist kein Klon des Autors – manchmal freilich sein Clown.“ Das bedeutet wohl, dass das Buch nicht als Schlüsselroman gelesen werden will oder darf und man, auch wenn man sich in der Psychologenszene auskennt, nicht daran versuchen soll, hinter den einzelnen Namen Anspielungen auf mehr oder wenige renommierte Kollegen und Kolleginnen zu suchen; geschehen aber wird dergleichen selbstverständlich trotzdem, man wird hinter der „Lady“ oder „der Pavlova“, hinter dem „Großen Zampano“ oder „Eddie“ die entsprechenden Menschen suchen und vielleicht ja auch finden. Aber nicht wir; schon deshalb nicht, weil wir nicht Teil der Szene sind, zusätzlich aber deshalb, weil man den Roman als Literatur nicht ernstnehmen würde.
In den Gesprächen werden eigentlich alle Aspekte der menschlichen Komödie durchgespielt, ganz besonders auch jene, die sehr peinlich sind: Erinnerungen an die Prügel, die man als Kind erhielt zum Beispiel oder der Toilettengang an sich. Es gibt allein eine einzige Ausnahme vom dialogischen Aufbau, das Kapitel „Der Liebe Tun“, bei dem man zunächst an ein Telefongespräch glaubt (man hört aber nur die eine Seite, die des Ich-Erzählers), bis man erkennt, dass es sich um einen inneren Monolog handelte – denn dann ruft seine Anna doch noch an, und es wird ein wirkliches Gespräch – wenngleich wir wiederum nur die eine Seite hören können.
Um die Erzählkunst des Autors, die Fülle seiner Andeutungen und die Verspieltheit seiner Dialoge und des raren Geschehens anschaulich zu machen, soll kurz auf eine einzige Episode aus dem vorletzten Kapitel eingegangen werden. Es geht um den Schmerz und um seine Zeichenhaftigkeit. Die Szene spielt offenbar in einer Kantine oder in einer Mensa – darüber wird kein Wort verloren. Eine Dame, die „Maggie“ genannt, aber mit keinem Wort vorgestellt wird, spricht mit dem Erzähler und gibt auf Nachfrage Auskunft über ihr eigenes Projekt. Es trägt den Arbeitstitel „Haut“, und sie sprechen über den berühmten gleichnamigen Roman von Malaparte und kommen auf Kafkas „Strafkolonie“ zu sprechen, in der eine feinsinnig ersonnene Maschine den Verbrechern ihr Urteil in die Haut gerbt, bis sie eben an dieser Tätowierung sterben.
Die Dame bestellt sich Tee, und was sie mit dem Teebeutel tut, das geschieht den Straftätern: sie „walkt mit dem Löffel den Teebeutel“ solange, bis „die dünne Membran“ reißt und „Teeblätter […] aus dem Riss“ quellen. „Shit!“, so kommentiert sie dieses Vorkommnis, und eben darum ging es auch in den Kapiteln vorher, und zwar wörtlich.
Anspielungen auf die Literatur gibt es mindestens ebenso oft wie auf uns unbekannte Psychologen; auf den deutschen Dichter Jean Paul zum Beispiel, aber auch auf den Philosophen Jean Paul Sartre und seinen Roman „Der Ekel“. Gelegentlich klingt der Text auch nach Arno Schmidt, zum Beispiel, wenn der Erzähler „gebongt!“ sagt: das nämlich ist eines von dessen Lieblingsworten.
Es ist eine anfangs gewöhnungsbedürftige und während des ganzen Buches durchaus anspruchsvolle Lektüre, die interessante und oft spritzige Dialoge bietet und so für gehörig Unterhaltung sorgt. Langweilig wird es an keiner Stelle, und so ist es vielleicht ja doch Unterhaltungsliteratur.
Stefan Diebitz
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Stefan Diebitz, geboren 1957, studierte Philosophie und Germanistik. Neben zahlreichen philosophischen und literaturwissenschaftlichen Aufsätzen sowie Essays zur Geschichte des Schachs publizierte er eine Theorie der Angst- und Schamgefühle (Seelenkleid, LIT-Verlag, Münster 2005).
Im Verlag „der blaue reiter“ (vormals: omega verlag) erschien von ihm 2007 Glanz und Elend der Philosophie, eine glanzvolle Kritik der Gegenwartsphilosophie.
Stefan Diebitz lebt und arbeitet in Lübeck.