von: H. S. Eglund
19. März 2015
Sein Grinsen machte Nicholson berühmt - in dieser Szene. © United Artists
Ken Kesey war ein verrücktes Huhn, als Schriftsteller und als Mensch. Wenn man das überhaupt trennen kann. Das einzige Ei, das er als Schriftsteller (und Mensch) legte, war 1962 der Roman „Einer flog übers Kuckucksnest“. Ein goldenes Ei, denn das Buch brachte seinem Autor so viele Tantiemen ein, dass er fortan mit den Merry Pranksters umherziehen, LSD und Mädchen nehmen und andere Leute aushalten konnte. Nur Jerome Salinger war ähnlich erfolgreich, der Autor von „Der Fänger im Roggen“. Anders als Kesey floh er die Menschen, versteckte sich hinter den hohen Mauern eines mondänen Grundstücks in New Hampshire.
Und anders als Kesey brachte er Jahre später immerhin ein paar beachtenswerte Short Stories zustande. Kesey hingegen beließ es bei seinem Hit, die Kohle reichte ohnehin. Zwar schob er 1964 eine Novelle nach, aber sie floppte. Also kehrte er ins Irrenhaus zurück, das manche Menschen „die Welt“ oder „dort draußen“ nennen, oder wie auch immer. Kesey hatte erkannt, dass in der Zivilisation der ganz normale Wahnsinn regiert. Psychopathen im alltäglichen Dauerlauf. Ihnen kann niemand entfliehen, auch nicht in den Bergen an der kanadischen Grenze. Warum also nicht die Sache auf die Spitze treiben? Der Bus, mit dem die Merry Pranksters über die Lande zogen, war grell und bunt. Bei jedem Stopp gab´s Haschisch und Kokain. Flower Powers Avantgarde, Vorhut der Hippies von San Francisco, bis ins hohe Alter hinein. Kesey starb 2001 in Oregon.
„Cuckoo“ ist amerikanischem Slang entlehnt, es steht für „verrückt“ oder „überdreht“. „Cuckoo´s nest“ ist eine Nervenheilanstalt – in der es keine Heilung gibt. Ein Kinderreim diente als Vorlage für den Titel des Romans, in dem die psychiatrische Klinik nur die Staffage für den ganz normalen Wahnsinn gibt:
Wire, briar, limber lock,
three geese in a flock.
One flew East,
and one flew West,
and one flew over the cuckoo’s nest.
Das ist natürlich Unsinn, denn Gänse fliegen im Schwarm nicht in verschiedene Richtungen, und der Kuckuck baut kein Nest. Gänse bleiben immer hübsch in der Reihe. Der Kuckuck ist ein fieser Parasit, der die Jungvögel seiner Wirte gnadenlos aus der Wiege stößt. Ein Killer, der auf Kosten anderer fett wird und sich vermehrt.
Womit wir beim Menschen wären, dem Gegenstand der Literatur im Allgemeinen und von Ken Kesey im Besonderen. Im Roman wird die Geschichte aus der Sicht des Indianers Chief Bromden erzählt. Er beobachtet den Neuling Randle Patrick McMurphy, der eigentlich ein Simulant ist. Kerngesund und gewieft, wie er von sich selber glaubt. Um dem Knast zu entgehen, macht der Kleingangster auf Idiot, lässt sich auf die „Geschlossene“ verlegen. Doch er unterschätzt, welchem Druck die Patienten dort ausgesetzt sind. Als er rebelliert, bekommt er die Macht des Systems zu spüren, verkörpert durch die Psychiater, die Stationsschwester Mildred Ratched, und ihre Schergen.
Das Regime ist subtil, aber erbarmungslos. Keine Schläge, dafür Psychoterror, sehr effektiv. Als McMurphy merkt, dass ihm seine Würde genommen und jede Aussicht auf Freiheit versperrt wird, begehrt er auf. Oder versucht es, zumindest.
Im Film ist die Handlung breiter angelegt als im Roman, das bringt dieses Medium mit sich. Man kann nicht aus dem Kopf eines Protagonisten heraus filmen, sondern nur die ganze Szene zeigen. McMurphy will sich nicht unterwerfen, diese Rolle war Nicholson auf den Leib geschrieben.
Brillant auch Danny DeVito, der einen freundlichen und zugleich verängstigten Patienten spielt, hinreißend echt, ein großartiges Debüt. Und der damals völlig unbekannte Brad Dourif mimt Billy Bibbit, einen jungen Mann mit Mutterkomplex, der eigentlich nicht in die Klapsmühle gehört. Aber wer gehört schon dorthin, wenn die ganze Welt ein Irrenhaus ist? Billy stottert und ist introvertiert, weicht dem Druck aus.
Als ihm McMurphy ein Mädchen versorgt, das es wiederum Billy besorgt, hebt er plötzlich den Kopf. Liebe, darin liegt die Heilung. Er stottert nicht mehr und tritt der Stationsschwester stolz entgegen. Freie Liebe statt Disziplin – plötzlich ist Billy ein neuer Mensch. Plötzlich wird er überhaupt erst geboren.
Der Psychoterror treibt Billy in den Selbstmord, in diesem Moment kippt der Plot. Aus dem Machtspiel wird bitterer Ernst. McMurphy flippt aus – für solche Auftritte ist Jack Nicholson mittlerweile berühmt – und wird zwangsweise in die Lobotomie eingeliefert. Ein sauberer Schnitt durch den Hirnlappen hinter der Stirn verödet seine Emotionen. Diese Methode wurde bis in die siebziger Jahre auch in Deutschland praktiziert, ebenso die Elektroschocks, die im Film gezeigt werden.
Zurück bleibt ein willenloser, emotionsloser Homunkulus – besiegt vom System. Ein lebendiger Leichnam, der an den Kanülen und Strippen der Station hängt, nun wirklich ein Idiot, der obendrein keine Schwierigkeiten mehr macht.
Damit wäre der Film eigentlich am Ende, an einem Ende, wie es vielleicht Jerome Salinger gemacht hätte: „Und dann ging ich hinaus, weil es sowieso alles sinnlos war und keinen Zweck hatte. Ich fühlte mich deprimiert, und ich hatte Schmerzen, falls das jemanden interessiert“ (freie Nachdichtung durch H. S. Eglund).
Aber Kesey, der auch am Drehbuch mitarbeitete, wollte den Aufstand, die Revolution, die Gegenthese – wie er sie später auch lebte. Und da hat Chief Bromden seinen großartigen Auftritt. Als McMurphy aus der Lobotomie kommt, tötet er ihn. Kein Leben in Unwürde ist besser als eins ohne Ausweg. Und Bromden flieht – allein. Wirft das Waschbecken durch das Gitterfenster und türmt in die Morgendämmerung. Lässt das Irrenhaus einfach hinter sich.
Der Chief wurde von Will Sampson gespielt, einem indianischen Muskogee-Halbblut, mit stoischem Gleichmut und jeder Menge Glut hinter der Pokervisage. Am Ende, ganz zum Schluss, wird er zum Helden der Geschichte. Er steigt aus, spielt nicht mehr mit, verschwindet in der Natur.
Vierzig Jahre später ist der Film kein bisschen leiser oder verstaubt. Hat kaum Patina angesetzt, auch wenn die Protagonisten mittlerweile ergraut oder tot sind. Brad Dourif ist jüngeren Zuschauern als Grima Schlangenzunge aus „Der Herr der Ringe“ bekannt. Will Sampson starb früh, 1987 in Houston, Texas. Louise Fletcher, die Mildred Ratched spielte, tauchte später in Star Trek wieder auf, in Deep Space Nine, in der Mitte der neunziger Jahre.
Danny DeVitos Karriere ging steil aufwärts. Er hatte die Rolle im Kuckucksnest auf Vermittlung seines Freundes Michael Douglas bekommen, der den Streifen produzierte. Michael wiederum hatte die Lizenz von seinem Vater Kirk übernommen. Kirk Douglas hatte sich Jahre zuvor die Rechte am Roman gesichert und versucht, ihn als Stück auf die Bühne zu bringen, mit mäßigem Erfolg. Sein Sohn machte ein Goldstück draus, mit einem genialen Film.
Was aus Jack Nicholson geworden ist, wissen wir: Er gehört zu den ganz großen Mimen unserer Zeit, ein herausragender Irrer im ganz normalen Wahnsinn. Und die Klapsmühle? Die Dreharbeiten fanden in der Psychoklinik in Salem im US-Bundesstaat Oregon statt. Sie wurde 2011 abgerissen. Einige Patienten waren als Statisten im Streifen zu sehen. Der Direktor der Klinik und ein paar Ärzte traten im Film als Gutachter auf, sehr überzeugend, selber halb Opfer, halb Täter.
Denn im Grunde genommen trieb sie dasselbe um, wie ihre Patienten: Der Ausstieg aus dem alltäglichen Wahn, die Suche nach dem Fluchtpunkt, irgendwo dort draußen, in der Natur, in der Liebe, in freier Existenz, frei von fremdem Willen. Als Mensch, der endlich und ganz geboren wird. Der sich selber hat.
Ohne Ungehorsam ist das nicht möglich.
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