von: H. S. Eglund
7. November 2021
Andrej Sacharow kurz vor seinem Tod 1989. © Piper Verlag
Das erste Bild von Sacharow, das ich vor Augen habe: Großer Bahnhof in Moskau, irgendwann Mitte der 1980er Jahre. Aufmarsch der Parteibonzen, und doch ist dieses Mal alles anders: Michail Gorbatschow hat Glasnost und Perestroika verkündet.
Es tut sich was im Osten, und zahlreiche Delegierte wurden erstmals frei gewählt. Glasnost steht für Meinungsfreiheit, Perestroika für Umbau der Gesellschaft von unten – weg vom Stalinismus und Breschnewismus hin zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft.
Die Kamera zoomt auf einen alten, grauen Mann, und der Sprecher nennt diesen Namen Andrej Dimitrijewitsch Sacharow. Mutters Kommentar aus dem alten Ohrensessel: Das ist ein Hetzer! Sacharow war gerade aus der Verbannung aus Gorki nach Moskau gerufen worden, von Gorbatschow persönlich.
Und ich wunderte mich: Was weiß die Mutter über einen, der viele Jahre in der Verbannung verschwunden war? Der aus der totalen Versenkung aufgetaucht war, nach Jahren des Hausarrests in der russischen Pampa.
Eigentlich war Mutti unpolitisch, und wir Jüngere waren Jünger Gorbatschows. Sacharows Name geisterte gelegentlich durch die Westmedien, geheimnisvoll, denn der Mann galt als Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe. Ein bisschen wie Väterchen Frost – im Russischen: Djed Maros – , nur dass es um Nuklearwaffen ging.
Das elektrisierte uns, denn der Nato-Doppelbeschluss und die Reaktion des Warschauer Vertrages trieb seinerzeit Millionen auf die Straßen – in West und Ost. Auch viele aus meiner Generation, damals in Leipzig, hinterm Eisernen Vorhang. Rockkonzerte standen unterm Motto: No bomb, no radioactivity, never Hiroshima. Fridays for Future begann als Mondays for Future, Schwerter zu Pflugscharen, mit kleinen Gebetsgruppen in den Kirchen in Leipzig, Dresden und Jena.
Der Vater der Fusionsbombe – ein Dissident? Zunächst verlief Sacharows Lebensweg so geradlinig wie nur möglich in Stalins rotem Zarenreich. Am 21. Mai 1921 in Moskau geboren, hatte er 1938 die Schule beendet und begann ein Physikstudium an der Lomonossow-Universität. Im Krieg wurde die Universität teilweise nach Aschchabat in Turkmenistan verlegt, wo Sacharow sein Studium beendete.
Anschließend arbeitete er als Ingenieur in einer Munitionsfabrik in Uljanowsk an der Wolga. Nach dem Sieg der Roten Armee studierte Sacharow am Fian (Lebedew-Institut) der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und promovierte in Kernphysik.
Dem heißen Krieg folgte der kalte, in dem es vor allem um die nukleare Keule ging. Zwanzig jahre lang – bis 1968 – arbeitete Sacharow in den geheimen Labors der sowjetischen Atomrüstung, unter anderem unter Igor Kurtschatow und Juri Chariton.
Ganz der sozialistische Physiker war Sacharow von der Idee überzeugt, dass ein nukleares Gleichgewicht die Welt vor dem Untergang retten könne. Er fühlte sich als Soldat des naturwissenschaftlich-technischen Krieges.
Sacharow war kein untergeordneter Soldat – kein Muschkote – in der sowjetischen Atomindustrie, er war einer ihrer hellsten und brillantesten Köpfe. Wesentlich waren seine Ideen für die erste Wasserstoffbombe Moskaus, die im August 1953 gezündet wurde – fast auf den Tag genau acht Jahre nach Hiroshima und Nagasaki.
Kurz zur Phyik der Fusionsgranate: Sacharow entwickelte einen Booster, in dem eine kleine Kernspaltungsbombe als Zünder wirkt. Wie beim russischen Blätterteig Sloika ordnete er den Brennstoff Lithiumdeuterid um den Zünder an, vergleichbar einer Zwiebel.
Sein Vorschlag, die Bombe zweistufig zu bauen, wurde im Westen als Teller-Ulam-Design bekannt. In Russland firmierte sie als Sacharows Dritte Idee. Sie erlaubte es, Bomben mit einer Sprengkraft von mehreren Megatonnen Trinitrotoluol (TNT) zu bauen.
Solche Megabomben wurden 1955 erstmals in Kasachstan getestet. 1961 schließlich, im Jahr von Gagarins Raumflug, testete die Sowjetunion die sogenannte Zar-Bombe, die auf Sacharows Ideen fußte. Sie hatte 50 bis 60 Megatonnen TNT Sprengkraft und ist die größte bislang gezündete Nuklearwaffe weltweit.
In den 1950er Jahren arbeitete Sacharow mit Igor Tamm zusammen an der gesteuerten Kernfusion. Sein Konzept des thermonuklearen Reaktors mit magnetischem Einschluss des Plasmas bildet die Grundlage der sowjetischen Tokamak-Reaktoren. Von ihm stammen Ideen zur Kalten Fusion und zur Aufheizung des Fusionsbrennstoffs durch gepluste Laser.
Nach 1965 arbeitete Sacharow vornehmlich zur Teilchenphysik, Kosmologie und Gravitation, militärische Aufgaben traten in den Hintergrund. Dennoch blieb er quasi unter Verschluss, galt er doch als einer wichtigsten Geheimnisträger der sowjetischen Atomrüstung. (gekürzt)
Hier lesen Sie den vollständigen Artikel im Blog von H.S. Eglund.
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