von: Martin Kunz
3. Februar 2018

Respekt

Ein Gastbeitrag von Martin Kunz

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Kürzlich verbrachte ich wegen eines kleinen chirurgischen Eingriffs ein paar Stunden im Spital. In dieser Zeit erhielt ich Besuch vom Spitalseelsorger, einem reformierten Pfarrer. Es entspann sich ein lockeres Gespräch. Irgendwann aber glaubte ich, mich outen zu müssen, und ich sagte: „Ich habe zum Christentum ein kompliziertes Verhältnis.“ Worauf der Pfarrer antwortete: „Das ist das einzig sinnvolle Verhältnis, das man zum Christentum haben kann.“ Diese Antwort verblüffte mich, liess aber meinen Gesprächspartner in einem noch sympathischeren Licht erscheinen, zumal er auch in Fragen, in denen wir auseinandergingen, meiner Position gegenüber Achtung zeigte.

Warum antwortete der Pfarrer nicht mit einem Hinweis auf Gott, Jesus Christus oder den Segen der Kirche? Müsste er als Diener des göttlichen Wortes mich nicht mit einem Psalmwort trösten wollen? Das sind natürlich Klischeevorstellungen, war aber vor nicht allzu langer Zeit noch eifrige Praxis. Heute nehmen uns dagegen aufgeschlossene Pfarrerinnen und Pfarrer in ihr eigenes Fragen und Zweifeln mit hinein.

Warum fühlen sich trotzdem immer mehr Menschen in den Räumen einer so offen kritischen und zum Crossover bereiten Kirche nicht wirklich aufgehoben? Viele verlassen sie nicht, weil sie Atheisten geworden sind, sondern weil sie etwas anderes suchen als einen spirituellen Reflexionsraum. Sie lassen sich von psychologisch schlau aufbereiteten, herzensnaiv-poppigen Engführungen berühren und vereinnahmen. Darin sind viele Freikirchen Meisterinnen. Gerade junge Menschen, ausgerechnet jene, deren Eltern versucht haben, ihnen zu vermitteln, dass Fragen wichtiger sind als Antworten, verfallen diesem Sog.

Nun gestehen wir der Jugend, deren Ende biographisch nicht immer klar bestimmt werden kann, zu, dass sie sich von fundamentalistischen Obsessionen umtreiben lässt. Man ist militante Veganerin. Man wohnt in Vintagemöbeln. Man arbeitet angestrengt am Körperideal. Oder man ist eben fromm. Es zeichnet aus, zum verschworenen Kreis jener zu gehören, die beten, in der Bibel lesen und sich für den richtigen Partner, den Gott einem zuweisen wird, aufsparen. Ich erinnere mich an die vehement vertretenen Überzeugungen in meiner Jugend. Gerade die Wacheren neigten zu Extrempositionen. Radikale Überzeugungen lassen uns im diffusen Meer der Unbestimmtheit singulär werden. Singularität, das Prinzip des Aussergewöhnlichen, zum Beispiel das gewollt religiöse Anderssein, wird zum nicht ganz stressfreien Muss. Was einst Selbstverwirklichung hiess, heisst jetzt Authentizität. Das Echtsein, auch das bloss eingebildete, muss gezeigt werden. Auch die religiöse Identität. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz diagnostiziert eine zunehmende Tendenz zum Exzeptionalismus, gerade auch im Christentum: Kompromissloser eigener Glaube, kompromisslose Verurteilung der Anderen. So tönt es zum Beispiel aus dem American Family Radio: Jede Moschee ist ein Sprengkörper in den Herzen unserer Städte. Muslime seien Parasiten, ihr Gott ein Dämon.

Nun zeigt die Geschichte der Religionen, dass sie auch eine Geschichte der gegenseitigen Verachtung ist. Wo sind „wir“ da unterdessen angekommen? Wie lässt sich deine und meine Position in diesem Wir bestimmen? So laut wie in Amerika werden religiöse Stimmen des Hasses hierzulande noch nicht. Oder doch?

Kürzlich haben sich in Zürich fromme Studentinnen beim – halt verordneten – Besuch einer Moschee geweigert, ihr Haar zu bedecken und haben sich über die ihnen fremde Religion hörbar abschätzig geäussert. Nun, wir müssen das uns Fremde nicht verstehen, wir dürfen irritiert sein und müssen nicht grundsätzlich alles Exotische gutheissen, wird dürfen durchaus in einem lebendigen persönlichen Fürwahrhalten verankert sein, das allerdings stets bedingt ist. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden, hat Karl Marx einmal geschrieben. Er war trotzdem Geschichtsoptimist. Persönliche und kollektive Regressionen, Rückfälle in überholte Entwicklungsstufen, die zeitgemäss verkleidete Wiederkehr des Unwahren könnten uns die Hoffnung nehmen. Vielleicht ist die Befreiung nicht in der Geschichte zu erwarten, sondern in der Erlösung von ihr, wie Walter Benjamin gegen Marx argumentierte.

Jetzt habe ich mich unversehens in geschichtsphilosophische Mutmassungen verstiegen. Dabei will ich hier zum Schluss nur für eine gute Unzeitgemässheit eintreten: für Anstand. Anstand ist ein äusserer Schein, der andern Achtung einflösst, schreibt Kant. Man muss ihn nicht bieder wiederbeleben, manchmal ist schelmische Hinterhältigkeit angebrachter. Aber er ist die Vorstufe von Respekt: Respekt ist ein Zurückschauen auf mich selbst, ein Zurückschauen, das mich relativiert und dem Anderen zunächst einmal – noch vor aller Achtung – einen relativ gültigen Platz einräumt.

Das ist von uns allen zu fordern. Dem Spitalseelsorger ist dies wunderbar gelungen. Den frommen Studentinnen nicht. Ihre Haltung verdient keinen Respekt. Ihnen möchte man einen zornigen Gott wünschen.

Martin Kunz

Martin Kunz ist Philosoph, Autor und Künstler in Zürich. Hier gelangen Sie auf seine Website…