von: Urs Heinz Aerni
5. November 2021
© Kulturhaus West während der Literaturtage Zofingen
Regierungsrat des Kantons Aargau Markus Dieth betonte in seiner Rede an der Eröffnung im Bürgersaal des altehrwürdigen Rathauses, wie Literatur und die Arbeit an der Sprache wichtig sei für Austausch, Erfahrung und Chancen für einen „Perspektivenwechsel.“ Dieser sei unabdingbar für ein Weiterkommen und Lernen in allen Bereichen der Gesellschaft.
Die Programmleiterin Julia Knapp lud in ihrer Eröffnungsrede alle ein, sich im Gespräch über die vielen reichhaltigen Bücher zu beteiligen, um die sogenannten Leerstellen oder auch durch die Lektüre neu gewonnenen Räume mit eigenen Gedanken zu füllen. „Lasst uns das Lesen feiern!“
Zwei Tage zur Feier des Lesens und Austausches
Mit durchschnittlich 40 bis 50 Besucherinnen und Besuchern pro Veranstaltung, zeigen sich die Veranstalterinnen sehr erfreut. Das Literatur-Café wurde rege für kulinarische Verpflegung und Gespräche genutzt, ebenso der Büchertisch durch die Buchhandlung Leserei für den Einkauf der präsentierten Bücher.
Nicht nur schreiben, auch lesen
Gleich zum Start wurde die Anthologie „Das Schaukelpferd in Bichsels Garten“, im Gespräch mit der Jungautorin Ursina J. Adam, Rolf Lappert und dem Verleger Thomas Knapp, gefeiert. Es ist eine Art Festschrift mit Texten zum fünfjährigen Jubiläum des „Schriftstellerweg Olten“ mit Beiträgen von Franz Hohler, Pedro Lenz, Alex Capus, Rolf Lappert, Patti Basler, Bänz Friedli, Rhaban Straumann, Tanja Kummer, Kilian Ziegler und andere mehr. Auf die Frage von Chefredaktor des Zofinger Tagblatts, Philippe Pfister an Rolf Lappert, was er jungen Autorinnen und Autoren ans Herz legen möchte, empfahl er u. a. das eigene Lesen. Nicht nur Klassiker, sondern auch Bücher von Kolleginnen und Kollegen.
Das Publikum erfuhr viel über erste Schreibversuche, den Werdegang eines Manuskripts und das literarische Bauchgefühl eines Verlegers, der nebenbei erwähnte, dass nicht nur die berühmte „Gruppe Olten“ im Oltener Bahnhofsrestaurant gegründet geworden sei, sondern auch der Wurst-Salat erfunden wurde, das ist aber eine andere Geschichte.
Der Zoo und Federn lassen
Wie zynisch sich der Umgang mit Tieren anfangs des 20. Jahrhundert heute lesen lässt, macht der Roman „Der Zoo in Rom“ von Pascal Janovjak möglich. Auf die Frage von Hanspeter Müller-Drossaart, wie er auf die Idee kam, einen Roman über einen serbelnden Zoo in der Ewigen Stadt zu schreiben, antworte Janovjak, dass er mit offenem Geist für eine neue Geschichte durch die Stadt ging und auf die Tiere mit ihrer markanten Ausdruckskraft stiess. Allerdings schrieb er bewusst keine Erzählung, in der die Tiere für das, was Menschen anrichteten, als Figur herhalten müssten. Thomas Sarbacher las mit seiner bekannten eindrücklichen Art aus der Übersetzung ins Deutsche von Lydia Dimitrow.
Ein tierisches Element prägt auch die Lesung und das Gespräch mit Regina Dürig zu ihrem Buch „Federn lassen“. Moderatorin Anya Schutzbach verband ihre Schreibkunst auch mit dem „Federn“ als Rhythmus. Für Dürig ist zudem eine Feder etwas Leichtes, warmes und doch geht es in ihren Texten eben um das Federn lassen im Sinne von Rupfen, Lädiertheit, Schmerz mit vernarbten Stellen, die vielleicht nachher sogar mehr ertragen könnten. Fragen wie „wo sind unsere Schutzräume?“ und „was sind tragende Räume?“ beschäftigt die Autorin und sie äussert die Idee, dass wir zwischen uns gemeinsame Welten schaffen könnten, ohne die eigene aufgeben zu müssen. Warum ein Gästezimmer, warum nicht ein neues Zimmer für die Begegnung?
Wo der Schalk auf Diskriminierung trifft
Nach sieben Jahren ist nun der Roman von Max Lobe auf Deutsch zu lesen: „Drei Weise aus dem Bantuland“. Ein Buch mit unglaublich viel Ironie und Schalk über die Last von Diskriminierung und Rassismus. Allerdings betont der in Kamerun geborene und in Genf lebender Autor, dass er den Begriff „Rassismus“ lieber mit die „Banalität der Diskriminierung“ ersetzen möchte, in Anlehnung zu „Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt. Als seine Mutter sich einmal am Postschalter in Lugano sich über die Unfreundlichkeit beschwerte und sagte, dass sie auch jemand sei, erhielt sie die Antwort „Ja, in Kamerun.“ In der Literatur sei zu wenig die Rede von Scham, so Lobe. Dani Landolf fragte ihn, warum die Romanfigur dies alles scheinbar nicht so ernst zu nehmen schiene, nicht protestierte. „Nun, die Ziege grast, wo sie angebunden ist“, antwortete Lobe und verwies zudem auf andere Gründe der Diskriminierung wie die Homosexualität: „Es gibt nichts Universelleres als die Intimsphäre.“
Abschied in Worten
Gleich zu Beginn gab die Moderatorin Nicola Steiner zu, dass die beiden Romane von Susanna Schwager und Ariela Sarbacher sie auch als Mensch sehr berühre und bewege. Der Tod, der Abschied von den Eltern, die Verarbeitung vergangener Zeiten sind Stoffe der beiden Bücher „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ von Sarbacher und „Lamento“ von Schwager.
Ariela Sarbacher stellte sich die Frage ob Vorgänge des Sterbens sich in Sprache fassen liesse und kam zum Schluss, ja, in poetischer. Drei Jahre habe es gedauert, bis die richtige Erzählstimme da war. Susanna Schwager spüre eine innere Verpflichtung, da Sprache zu geben, wo keine ist, weil sie Sprache habe, „ich schreibe dokumentarisch, füge zusammen, gestalte.“
Sie las Sätze aus ihrem Buch wie „Die Angst ist der Zuhälter des Hasses“ oder „Duldet der Tod keine Fragen?“ Das Gespräch und die Lesungen machten die gestalterische Kraft von Worten beeindruckend sichtbar.
„Lässt es krachen“
Die mit dem Publikum interaktiv gestaltete Lesung von Silvia Tschui zusammen mit dem Gitarristen Philipp Schaufelberger kreiste um eine deutsch-schweizerische Geschichte, die zu Herzinfarkt und Blutvergiessen an einem Geburtstag führt. Erschienen im vielbeachteten Roman „Der Wod“. Zu diesem Auftritt am Samstagabend schreibt der Literaturblogger Gallus Frei-Tomic: „Wann gibt es das schon: eine Schriftstellerin singt, jodelt, rockt, interagiert mit dem Publikum. Keine Spur von ‚Liebreiz‘ und sprachlichen Streicheleinheiten. Silvia Tschui schöpft aus dem Ganzen, macht Literatur zu einem Feuerwerk. Sie lässt ein ganzes Jahrhundert auftanzen, lässt es krachen, treibt einen wilden Wod, einen Gehörnten, den man nicht ungestraft aus dem Verborgenen holt, der eine Familie durch ein ganzes Jahrhundert jagt, durch Krieg und Vertreibung, Lügen und Tod.“ Und schliesst mit dem Kommentar: „Silvia Tschui ist ein Tausendsassa, erfrischend vielseitig, ein Paradiesvogel in der sonst manchmal etwas biederen Literaturlandschaft Schweiz.“
Wenn eine Friseurin was Geniales schreibt
Irgendwie war sie zu spüren, die angespannte Erwartung auf das angekündigte „Streitgespräch“ zur Frage, wie und ob literarisches Arbeiten erlernt werden könne. Der Zugang zum eigenen Schreiben fand Michéle Minelli im Alter von fünf Jahren, weil sie nicht gerne sprach und für Philipp Tingler ist das Schreiben die „zweite Seite des Sprechens“.
Auf die konkrete Frage von Moderatorin Monika Schärer, ob man nun literarisches Schreiben in einem Kurs oder an einer Schule erlernen könne, bejaht Minelli, doch es sei in Prozess, eine Förderung oder Schulung, um über die eigenen Grenzen hinauswachsen zu können. Nein, sagt Tingler, genau so wenig, wie man Ironie nicht lernen könne. Manfred Papst weist auf Unterschiede zu anderem Handwerk hin, wie zum Beispiel das Zimmern eines Stuhles oder das Zerlegen eines Schweines, die ja dann konkrete Resultate vorweisen würden.
Für Tingler ist es ein Unterschied, ob „ich für mich auf diesem Klavier hier klimpere oder für ein Publikum“, das dann ja die Qualität beurteile. Und Minelli erklärt das Bedürfnis am Kurs zum Kreativen Schreiben so: „Die meisten Menschen können schreiben, haben es aber in der Schule verlernt.“ Gemeint ist nicht die Rechtschreibung. „Viele möchten das eigene Schreiben wiederentdecken, eine Stimme haben und sie in den Raum tragen. Mit dem Schreiben wieder in den Fluss kommen.“ Hier sieht Minelli ihr Engagement.
Manfred Papst vergleicht die Kultur mit einer Pyramide: „Man kann nicht nur die Spitze schreiben.“
Tingler: „Es braucht die Basis für die Spitze.“
Papst: „Ja.“
Minelli: „Wenn eine Friseurin was Geniales schreibt, wird die Pyramide durchlässig.“
Ohne eigenes Lesen, keine welthaltige Literatur
Ein Drittel der Kursteilnehmenden, so Minelli, schreiben mit dem Ziel des Publizierens, es sei aber erschreckend, wie wenig selbst gelesen werde. Was sind denn die Kriterien für gute Literatur, möchte Monika Schärer wissen. Manfred Papst fordert eine eigene Sprache, den Fingerabdruck, eine Weltläufigkeit. Texte müssten sich an einer Realität festmachen, mit der er was anfangen könne. Eine Dringlichkeit müsse gespürt werden, ein Druck auf der Leitung. Ähnlich formuliert es Tingler: Eine Welthaltigkeit, universelle menschliche Erfahrungen gehörten dazu. Literatur sei, wenn das Universelle angestrebt werde und nicht die hermetische eigene Befindlichkeit.
Keine falschen Hoffnungen machen
Manfred Papst bestätigt die Wahrnehmung eines kollektiven Stils, einem „Bieler oder Leipziger Sound“, wo zwei bekannte Literaturinstitute sind, aus dem nur wenige sich herausentwickeln und ergänzt: „Wir Kritiker müssen so tun, als hätten wir den Überblick über alle Publikationen. Haben wir aber nicht. Mir kommt es vor, als würde ich als kleiner Junge mit einem Eimer und Schaufelchen am Ozean stehen.“
Philipp Tingler bezeichnet das Ködern von angehenden vermeintlichen Autorinnen und Autoren mit der Hoffnung auf Publikation als unlauter, was Michéle Minelli zwar bestätigt aber einen Unterschied macht, zur Förderung und Begleitung des Schreibens.
Auf die Schlussfrage von Monika Schärer, ob man Bücher wegwerfen könne, sagt Papst: „Ich kann Bücher wegwerfen. Warum soll ich sie weiterverschenken, wenn sie mir selber nicht gefallen?“
Tingler: „Ich kann das nicht.“
Papst: „Dann gebe ich einen Kurs, wie man Bücher wegwerfen kann.“
Michéle Minelli gelang mit ihrer abrundenden folgenden Aussage ein bestätigendes Nicken aller auf dem Podium: „In einem guten Buch erfährt man immer etwas über sich selber.“
Die Poetik durch den Garten
Ein Autor fährt wie jedes Jahr in sein einfaches Sommerhaus in einem verfallenden spanischen Dorf, dem letzten am Ende der Landstrasse. Die Geschichte dieses Dorfes will er niederschreiben, doch fehlen ihm die Worte. Stattdessen beginnt er, seinen «Huerto», den Garten, zu bestellen. Es passiert eigentlich nichts in diesem Buch mit dem Titel „Capricho“, in dem Beat Sterchi von seinem Garten und dem Leben in dem sterbenden Bergdorf in Katalonien erzählt, doch gerade in der Langsamkeit, in der Wiederannäherung an die Natur, in der beispiellosen Bedürfnislosigkeit des Protagonisten liegt der grosse Zauber dieses Bandes, der trotz seiner traumwandlerischen Poesie ganz dem realen Leben auf dem Land verhaftet ist. Das Zofinger Tagblatt schreibt zur Lesung und das Gespräch mit Martina Kuoni: „Auf hintersinnige Art gibt «Capricho» (Laune) Antwort darauf, was es braucht, damit Literatur gelingen kann. In einen langsamen Zeitstrom hineingeworfen folgen die Leser Rezepturen des Gartenbaus, auf deren Folie eine Poetik des Schreibens gedeiht und sich Worte zu solidem Mauerwerk schichten.“
Meistertreffen
Ein kühnes Unterfangen: Ursula Hasler lässt in ihrem Roman „Die schiere Wahrheit“ die beiden Grossmeister Friedrich Glauser und Georges Simenon gemeinsam einen Kriminalroman schreiben – das Ergebnis ist genial. 1937, ein Seebad am Atlantik: Glauser, mit seinem letzten Geld angereist auf der Suche nach einem Morphiumrezept, und Simenon, auf Urlaub im noblen Grand Hôtel, kommen ins Gespräch über ihr Geschäft. Moderator Hanspeter Müller-Drossaart zeigt sich ganz entzückt, wie ihr die Charakterisierung der beiden Männern gelungen ist und fragt, warum sie nicht Maigret diesen Fall angehen liess. Das wollte sie, so Hasler, aber sie dürfe nach rechtlichen Abklärungen diese literarische Figur für ihr Erzählen nicht neu benutzen aber sie weiss, dass Simenon nach den Maigret-Romanen ab 1937 begann, eine neue Figur zu entwickeln, eine Kommissarin…
Die Schwere zum Glück
«Magdalenas Sünde» von Romana Ganzoni erzählt von Sehnsucht, Nähe, Freundschaft und Fantasie in einer Welt voller Gewalt und sexueller Obsession. Die Realität der Konditoreiverkäuferin Magdalena ist eher düster: Verlust und Schuld quälen die Ex-Prostituierte. Ihr krebskranker Vater dämmert dem Tod entgegen, ihre Beziehung zu einem selbsternannten Grossschriftsteller ist zerstörerisch. Während Magdalenas ehemalige Kunden in der Hoffnung auf Gefälligkeiten in der Bäckerei Schlange stehen, denkt Magdalena an Suizid und verlangt gleichzeitig nach einem Wunder – um dieses schliesslich zu erzwingen. Die engadiner Autorin Romana Ganzoni wurde verdienterweise für den Bachmann-Preis nominiert und erhielt den Bündner Literaturpreis 2020. Moderatorin Monika Schärer stellte Ganzoni die Frage, wie sie denn zu dieser Magdalena fand. Sie habe in jungen Jahren bei einem Besuch in der Bündner Herrschaft ein Gemälde gesehen, mit Maria zu Füssen von Jesus, der, übrigens, mit blonden langen Haaren und blauen Augen dargestellt war. Die erzeugte emotionale Schwere ihrer Erzählung gelang durch eine sinnliche und literarische Qualität, die das Publikum am Schluss des Festivals, glücklich machte.
2022 wird spanisch
Unter später Herbstsonne wurde auf die erfolgreichen Literaturtagen 2021 angestossen, bevor es an die Arbeit geht, mit dem Ab- und Aufräumen und die Vorbereitung auf 2022, die allerdings schon läuft. Denn Programmchefin Julia Knapp und Vereinspräsidentin Sabine Schirle waren bereits an der Buchmesse in Frankfurt und kamen nach vielen Gesprächen und Koffern voller neuer Bücher wieder zurück in die Schweiz.
Beide sind sich auf Anfrage einig, die Ausgabe der Literaturtage mit Gastland Spanien wird es in sich haben.
pd/uha
Alle Bilder von Urs Heinz Aerni