von: Urs Heinz Aerni
17. Januar 2015
© PD
Urs Heinz Aerni: Ihr Job rankt sich um das Sterben oder besser, das Leben mit dem Sterben. Sie geben Seminare und Beratungen und betreuen im Ernstfall. Nun liegt ein Buch zu diesem Thema vor – ein Thema, das die meisten meiden. Warum ist das Tabuisieren von Sterben und Tod falsch?
Gudrun Orlet: Diese Frage ist insofern schwierig, weil das Tabuisieren vielfältige und tiefgreifende Gründe hat, die über das individuelle Leben hinausreichen.
Aerni: Aber warum? Tod gibt es so lange, wie es Leben gibt.
Orlet: Ein Teil des heutigen Zeitgeistes besteht darin, Vitalität, Jugend und äußere Werte in den Vordergrund zu stellen. Aus dieser Werteskala heraus betrachtet werden häufig das „Anderssein“, die innere Entwicklung und Verinnerlichung im Sterben vorschnell einzig als „Leiden“ bezeichnet und darin negativ bewertet.
Aerni: Ist es denn nicht das, ein Leiden?
Orlet: Das Sterben ist eine der Lebensaufgaben des Menschen, die jeder in eigener Weise bewältigen wird und muss. Umso wichtiger ist es, diesen Lebensabschnitt in das Leben zu integrieren, im Sinne einer wichtigen und vollwertigen Zeit, nicht im Sinne einer einseitigen Leidensvorstellung. Zu jeder Zeit ist eine Entwicklungsanforderung mit Anstrengung verbunden. Wie anstrengend mag es für Kinder sein, sich Schritt um Schritt auf das Leben einzulassen und selbstständig zu werden?
Aerni: Während die Pädagogik samt Aufklärung und Sexualität öffentlich thematisiert werden, bleibt der Tod außen vor …
Orlet: Tabuisieren erschwert allen Betroffenen, sich der Qualität, der Tiefe und der Vielfalt des Erlebens zu öffnen. Tabuisieren hat zur Folge, dass Sterbende und Angehörige noch mehr in die Isolation und Einsamkeit gedrängt werden, als es ohnehin durch die Lebensumstände der Fall ist.
Aerni: Sie raten also zu einer inneren Öffnung?
Orlet: Damit die Vielfalt, das Bereichernde und das Fortschrittliche, das in diesen Lebenszeiten liegt, im Menschen entfaltet werden kann, braucht es eine Offenheit, die der Tabuisierung gesellschaftlich und individuell ein Gegenüber wird, das mehr und mehr an Gewicht gewinnt.
Aerni: Ihr Buch soll nebst generell Interessierten auch Angehörige von Berufsgruppen, die mit Menschen am Lebensende arbeiten, ansprechen. Sehen Sie denn Handlungsbedarf auch in diesen Personenkreisen?
Orlet: Der Handlungsbedarf in professionellen Kreisen ist erkannt, das Fachgebiet „Palliative Care“ und „Palliative Medizin“ verstärkt und differenziert sich zunehmend. Über Schulungen, Weiterbildungen und Konzepte wird Schritt für Schritt auf allen Ebenen eine Grundlage dafür geschaffen, die angemessenes Handeln ermöglicht.
Aerni: Mit anderen Worten, das Sterben geschieht je nach Person unterschiedlich?
Orlet: Es braucht die individuelle Auseinandersetzung, dafür kann das Buch auch für Professionelle gute Dienste leisten. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf der inneren Ebene Sterbender. Oft wird das Leiden in den Vordergrund gestellt, vorschnell mit dem Leben nach dem Tod oder mit der Erlösung getröstet; verständlich, doch dazwischen liegt eine weite Strecke, die das Leben ist, zum Leben dazugehört. Es gleicht an sich einer Herabsetzung, diese Menschen nur über das Leiden zu definieren. Das Lebensende ist begleitet von einer Vielfalt inneren Erlebens, die stärkt und befähigt, die Anforderungen zu durchschreiten. Das Buch ist auch eine Verständnisgrundlage dafür, das „Anderssein“ im Sterben zu erfassen. Ein Anliegen ist mir, dass trotz dieses machtvollen Themas die stärkende menschliche Begegnung bestehen bleibt und Wertschätzung erhält.
Aerni: Im – auch schön gestalteten – Buch thematisieren Sie zum Beispiel das Anerkennen der Hilflosigkeit als einen wichtigen Schritt. Also Resignation als Maßnahme?
Orlet: Hilflosigkeit und Resignation können zwei aufeinander folgende Erlebensqualitäten sein, dazwischen liegt jedoch ein Handlungsspielraum. Wird Hilflosigkeit anerkannt, beginnt ein Innehalten, Wahrnehmen und Spüren, auch der damit verbundenen unangenehmen Gefühle. Dann wird die Hilflosigkeit ein vorübergehendes Stadium, das in eine weitere Erlebensqualität übergeht und nicht zwangsläufig in Resignation mündet.
Aerni: Wie kann Resignation eintreten?
Orlet: Resignation entsteht, wenn den zweifelsohne anstrengenden Empfindungen, wie der Hilflosigkeit, kein Erlebensraum zugesprochen wird, wenn Sterben funktionieren soll, wenn Sterbende und die Begleitenden in Anbetracht des überwältigenden Todes beispielsweise „stark“ sein sollen. Wer würde dann nicht resignieren?
Aerni: Sie sehen also in der bewusst wahrgenommenen Hilflosigkeit auch einen Sinn.
Orlet: Erkennen wir diese Qualitäten nicht an, dann lassen wir den davon betroffenen Menschen allein und es beginnt die Tabuisierung, beispielsweise, wenn Hilflosigkeit nicht mehr sein darf.
Aerni: Also ein Recht auf Resignation.
Orlet: Das Lebensende braucht eine der Zeit angemessene Differenzierung, ich wiederhole mich, doch das schnelle Einordnen in eine Ausweglosigkeit oder ein einziges Leiden erschwert die Unterstützung des betroffenen Menschen. Oft habe ich den Eindruck, dass das Sterben nur am gesunden und gelingenden Leben gemessen wird – ja, dann ist Sterben ein Versagen, ein einziges Leiden. Das Sterben strebt die Vollendung eines Lebens an, nicht auf materieller Ebene, sondern auf innerer Ebene. Dann braucht zuweilen auch Resignation seinen Platz. Wenn Sterbende sich der Resignation nicht mehr hingeben dürfen, dann hat niemand mehr das Recht dazu. Für mich sind diese Erlebensqualitäten der Hilflosigkeit, zuweilen Resignation, normal und menschlich.
Aerni: Nun, seit es den Menschen gibt, tut er sich mit der Liebe und dem Tod schwer. Ein Fehler im System?
Orlet: Die Frage ist so groß, dass ich nur fragmentarisch antworten kann. Der Mensch ist gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Letztlich hat er keine Wahl, mit oder ohne Tod, mit oder ohne Liebe zu leben. Vielleicht tut sich der Mensch mit der Tatsache schwer, dass es unausweichlich ist.
Aerni: Das Management von Liebe und Tod gehört also zusammen.
Orlet: Ohne Liebe würde der Mensch die eigene Kindheit nicht überleben. Die Liebe ist vermutlich das Heilmittel, auch glücklich mit dem Tod zu leben; im Sinne dessen, dass das Leben, unabhängig von der Länge oder Schwere, Erfüllung findet. Die Liebe geht durch die Stufen des Schmerzes und der Trauer, dabei verschwindet die Liebe nicht, sie wird weiter und freier. Die einmal erfahrene Liebe kann einem niemand mehr nehmen, auch der Tod nicht.
Aerni: Machen die beiden großen Themen den Menschen als Kulturschaffenden gar aus?
Orlet: Liebe und Tod beschäftigen die Menschen seit jeher und werden sie immer beschäftigen. Sie brachten wunderbare Kunstwerke, Musik und Literatur in die Welt – ein Weg: die kreative Auseinandersetzung aus der Spannung des Lebens, deren einer Pol der Tod ist. Es zeugt von Energie und Kraft, die wir aus eigenem Antrieb, ohne die Präsenz des Todes, nie aufbringen könnten.
Aerni: Sie geben auch Workshops und Seminare. Wer ruft Sie denn hauptsächlich?
Orlet: Einmal treten Bildungseinrichtungen und Sozialverbände an mich heran im Rahmen des Bildungskonzeptes „Palliative Care“ oder aber ich werde als Referentin gebucht. Im Beratungsbereich kommen Menschen mit konkreten Fragen, Menschen, die Begleitung in der Vielfalt des Erlebens suchen. Es kommen Menschen, die einen Angehörigen pflegen und sich mit dem Sterben auseinandersetzen wollen. Es kommen Menschen, die ein Verlusterleben nach Jahren aus der neuen Perspektive sehen möchten; die Anliegen sind so vielfältig wie die Menschen selbst.
Aerni: Bei der Lektüre Ihres Buches schimmert immer wieder durch, dass das Anerkennen der Endlichkeit eine Verbesserung der Lebensqualität bedeutet. Inwiefern?
Orlet: Die Endlichkeit verweist auf das Leben. Die Endlichkeit verstärkt die Lebensbindung, hier im Jetzt des eigenen Lebens zu sein. Die Endlichkeit wirkt auch wie ein Schutz davor, leichtfertig oder oberflächlich mit seinem Leben umzugehen, zumindest erinnert sie zuweilen daran. Die Begrenzung des Lebens fördert und fordert Entwicklung. Entwicklung und Fortschritt sind auch im konkret werdenden Sterben wichtige Dynamiken, sonst bleibt das Tor des Todes unüberwindlich.
Aerni: Sie appellieren an die Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Geben Sie uns einen Tipp, wo und wie man damit anfangen könnte?
Orlet: Ich kann nur für die Dinge achtsam sein, die ich wahrnehme. Es braucht zunächst einen Empfänger: Empfindung und Sensibilität. Diese „Empfänger“ sind zu pflegen und zu schulen. Die beste Voraussetzung für Aufmerksamkeit und Achtsamkeit.
Das Buch
Gudrun Orlet
Das Jetzt im Sterben
Begleitung bis zur Lebensgrenze
M.A.M. Maiworm GmbH
262 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-943261-05-9
Preis: 24,90 Euro