von: Urs Heinz Aerni
19. Mai 2015
© Römerhof Verlag
Urs Heinz Aerni: Der Frau im Pestalozzis Schatten widmen Sie dieses Buch, das auch Einblicke in die Welt des 18. und 19. Jahrhundert vermittelt. 1783 wähnte sich Annas Sohn Hans Jakob in der Angst vor dem Weltende, wie er ihr in einem Brief schrieb. Was machte die Welt von damals so anders als unsrige heute?
Dagmar Schifferli: Der Anlass für Hans Jakobs Angst war ein ganz konkreter, nur wusste das zunächst noch niemand: Auf Island war ein Vulkan ausgebrochen, die Eruptionen dauerten über einen Monat und verdunkelten zeitweise weite Gebiete Europas. Politisch gesehen befand sich Europa im Umbruch, die französische Revolution bahnte sich an, die Untertanengebiete der Schweiz begannen, sich gegen die Unterdrückung durch die herrschende Schicht zu wehren.
Aerni: Bei diesem Buch handelt es sich weder um eine Biografie noch um reine Fiktion, es ist ein biografischer Roman. Was waren die Gründe für die Wahl dieser Schreibform?
Schifferli: Es ist mein Anspruch an mich selbst. In der Darstellung von historisch verbürgten Persönlichkeiten will ich mich auf überprüfbare Fakten verlassen, gleichzeitig aber auch die Fakten so inszenieren, dass sie die Lesenden ansprechen und sie sich gerne mit der Schweizer Geschichte befassen. Dieselbe Methode, also die Verbindung von Fakten und Fiktion, habe ich auch bei meinem anderen historischen Roman über Wiborada angewandt.
Aerni: Ihr literarisches Schaffen pendelt zwischen biografischen Recherchen und freiem Erzählen, wenn man an die Erzählung Verwandte Gefühle oder Ihr nächstes Buch Leben im Quadrat denkt. Was muss der Stoff haben, damit er sie zum Schreiben packt?
Schifferli: Auch bei diesen beiden Erzählungen waren selbstverständlich Recherchen nötig. Wie fühlen sich Frauen zwischen 50 und 60, die sich gleichzeitig mit großen beruflichen und privaten Herausforderungen konfrontiert sehen? Wie reagieren sie auf diese Belastungen, welche Wege wählen sie, um diese Belastungen zu vermindern? All dies sind natürlich Fragen, die ich mir selbst auch stelle und für mich Anlass sind, mich auch literarisch damit auseinanderzusetzen.
Aerni: Sie studierten Sozialpädagogik, Psychologie und Gerontologie. Alles Bereiche, die sich mit dem Management unseres Lebens beschäftigen. Wo liegt der Fehler im System, der diese Wissenschaft nötig macht?
Schifferli: Unser Wirtschaftssystem und die damit verbundenen negativen Auswirkungen sind nur zum Teil durch ein familiäres System aufzufangen. Wo die privaten Unterstützungssysteme nicht ausreichen, müssen öffentlich-rechtliche Maßnahmen und Hilfeleistungen eingesetzt werden. Das ist bei Kindern, Jugendlichen oder eben auch in zunehmendem Maße bei betagten Menschen nötig. Die entsprechenden Wissenschaften stellen uns Grundlagen und Handlungsmodelle bereit, die für die Fachleute im Betreuungsbereich von großer Bedeutung sind.
Aerni: In Ihrem Buch über Anna Pestalozzi-Schulthess beschreiben Sie, wie sehr sich die Frau mit den Projekten ihres Ehemannes identifizierte oder sich gar für sie hingab. Dass eine Entflechtung der Lebensaufgaben zwischen Frau und Mann möglich ist, erfuhren Frauen Generationen nach Anna. Wo stehen wir diesbezüglich hier und jetzt? Wo gäbe es noch Handlungsbedarf gemäß Ihren Beobachtungen?
Schifferli: Ich denke nicht, dass sich diese Frage generell beantworten lässt. Allerdings scheint es eher die Ausnahme zu sein, dass eine Frau und ihr Ehemann sich im großen Maße mit denselben Herausforderungen befassen. Viele Frauen erledigen zusätzlich zu ihrer Erwerbstätigkeit auch überwiegend die Hausarbeit und betreuen ihre Kinder während längerer Zeit als der Ehemann. Eheleute, die dieselben beruflichen Tätigkeiten ausüben, sind auch heutzutage noch immer selten.
Aerni: In Leben im Quadrat, Ihrer Erzählung, die 2014 im Verlag Edition 8 erscheinen wird, konfrontieren Sie die Lesenden mit dem Konfliktpotenzial zwischen alten und jungen Menschen. Was löste dieses Buch aus?
Schifferli: Konflikte gibt es überall, wo Menschen miteinander zu tun haben. In meiner neuen Erzählung geht es auch um die Erwartungen der alternden Eltern an ihre Tochter, ein Problem, das ich nicht persönlich erlebt habe, aber in meinem Bekanntenkreis häufig vorkommt. Hier ist es wichtig, immer wieder das richtige Maß von Unterstützung und Selbstbestimmung miteinander zu besprechen und zu realisieren. Außerdem bin ich als Dozentin, die junge Menschen zu Betagtenbetreuerinnen ausbildet, mit diesen Themen beschäftigt. Ich sehe tagtäglich, mit welchem Einsatz sich diese vorwiegend jungen Frauen um die betagten Menschen im Heim kümmern. Sie entsprechend somit ganz und gar nicht dem Bild, das man sich gemeinhin von Jugendlichen macht. Dass es zwischen den jungen Auszubildenden und den betagten Menschen im Heim auch zu Konflikten kommen kann, ist selbstverständlich. In der Schule lernen sie, mit diesen zum Teil schwierigen Situationen verantwortungsvoll und professionell umzugehen. Ich glaube, in meiner neuen Erzählung wird zum ersten Mal in der Schweiz die Lebenslage von jungen Lehrlingen in einem Betreuungsberuf literarisch dargestellt.
Aerni: Berlin erfuhr ja mächtig Veränderungen, die Bezirke erleben große Verschiebungen in Population und Kultur. Wie nehmen Sie die Stadt wahr?
Schifferli: Alle wollen nach Berlin, so sagt man. Ich zähle mich auch dazu. Allerdings würde ich meinen Aufenthalt aus beruflichen Gründen auf einige Wochen im Jahr beschränken müssen. Es ist eine lebendige Stadt, mit unzähligen Facetten, die mich immer wieder aufs Neue faszinieren.
Aerni: Sie bekämen eine Einladung, in welches Viertel würden Sie ziehen wollen?
Schifferli: Mir gefällt es besonders gut beim Käthe-Kollwitz-Platz, die vielen Kneipen, die angeregte Atmosphäre, einfach toll. Ich verbrachte vor nicht langer Zeit einige Tage auch in Kreuzberg, der Heinrich-Platz war einfach fantastisch.
Dagmar Schifferli: Anna Pestalozzi-Schulthess – Ihr Leben mit Heinrich Pestalozzi
Römerhof Verlag Zürich, ISBN 978-3-905894-23-3, Hardcover | 216 Seiten, mit SW-Abbildungen EUR 29.80