von: Paul Ruppen, Brig (Schweiz)
31. Dezember 2020
© Schulthess Verlag
Eine Replik von Paul Ruppen zum Artikel „Systemfehler“ von Urs Heinz Aerni.
Ich sehe die Sache etwas anders.
Zuerst möchte ich festhalten, dass es eine völlig unabhängige Justiz nicht geben kann. Sonst müsste diese direkt von einer höheren Macht eingesetzt werden. Selbsternannte Wächter der Ethik und des „richtigen“ Verhaltens haben immer versucht, ihre eigenen Vorstellungen als von „oben“ gewollt darzustellen und dadurch zu legitimieren. Von mir ausgesehen ist das eine Anmassung.
Richter müssen also irgendwie von Menschen gewählt werden und damit ist es mit der vollkommenen Unabhängigkeit vorbei. In Deutschland – nach Ihrer Darstellung – gibt es eine Art Kooptation (Ein Stand erneuert sich selber, indem er Personen ernennt – oder in Ihrer Beschreibung einer aussenstehenden Person eine Auswahl zur Verfügung stellt). Das ist ein Auswahlverfahren, wie man es in Varianten von der Katholischen Kirche und kommunistischen Parteien her kennt und das mit Demokratie nicht verträglich ist. Die Richter sind in diesem Falle zudem auch nicht unabhängig – sie hängen von der eigenen Kaste ab. Auch Gerichte müssen demokratisch kontrolliert werden und eine sehr indirekte Kontrolle via Bundespräsident ist von mir ausgesehen ungenügend. Die Deutsche Variante ist einerseits als Resultat der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zu sehen – die USA drängten auf ein starkes Gereicht, aber auch einer gewissen Elitengläubigkeit der Deutschen. Für Österreich könnte man ähnliche Bemerkungen machen.
Nun zur Schweiz: in den demokratischen Revolutionen war man sich der Nähe der Gerichte zum Ancien Régime bewusst. Deshalb versuchte man sie zu demokratisieren. Überbleibsel davon sind etwa Geschworenengerichte oder die Volkswahl von Friedensrichtern. Ich vertrete keineswegs die Volkswahl von Richtern, aber die Schaffung einer sich selbst bestimmenden Richterkaste finde ich durchaus ablehnungswürdig, vor allem weil in der letzten Zeit die Gerichte zunehmen politische Entscheide fällen. Diese Tendenz hängt auch mit der Globalisierung zusammen. Recht muss immer interpretiert werden. Es gibt keine „unabhängige“ Interpretation. Deshalb ist eine repräsentative Verteilung der Richter nach unterschiedlichen Meinungen in der Bevölkerung demokratisch geboten. Die Wahl durch die Räte ist darum von mir aus vertretbar und unter demokratischem Gesichtspunkt die beste Variante. Ungünstig finde ich die Notwendigkeit der Parteizugehörigkeit von zu wählenden Personen.
Die Kritik der Staatengruppe des Europarats gegen Korruption (Geco) kann ich nicht akzeptieren. Sie drückt von mir ausgesehen die Tendenz der herrschenden, nicht besonders demokratiefreundlichen Eliten aus, Recht vom politisch-demokratischen Prozess zu entkoppeln, um ihre Interessen besser vor den Bevölkerungen zu schützen.
Paul Ruppen, Brig