von: H. S. Eglund
3. Oktober 2021

Deutschland über alles: Staat, Volk, Heimat – zum Verzweifeln?

Seit drei Jahrzehnten wird der 3. Oktober gewürdigt – als Feiertag der Nation, als Tag des Beitritts. Deutschland, Deutschland – die Hymne der vereinten Nation. Doch blieb sie stecken im Kalten Krieg, denn eine moderne Verfassung lässt bis heute auf sich warten.

Ein deutscher Ort: Kaiserdenkmal in Porta Westfalica. © H.S. Eglund

Die Einen feiern diesen Tag als Sieg der überlegenen Wirtschaft im Westen über die Planwirtschaft der Realsozialisten. Andere freuen sich über die Restitution verloren geglaubter Grundstücke, Häuser und Fabriken.

Für manche Ossis steht der 3. Oktober als Offenbarungseid, als Termin des Jüngsten Gerichts: Konterrevolution, Rollback, Enteignung und Entmündigung und Arbeitslosigkeit.

Das Ende einer Selbstillusion

Und manchen im Westen des Landes und seiner Bundeshauptstadt beschleicht bis heute der Verdacht, dass dieser Tag das Ende feiner, sauberer Privilegien markierte, das Ende einer gewissen Sorglosigkeit. Das Ende der Selbstillusion, dass die Bundesrepublik Deutschland schon vor 1989 ein demokratischer Staat gewesen sei. Pustekuchen!

Rückblick zum Beginn der Teilung: Quasi über Nacht zur Trizone mutiert, vergoldeten US-Dollars die Niederlage, zumindest westlich der Elbe bis zum Rhein sowie auf der glückseligen Insel zwischen Dahlem und Tegel.

Der Osten blieb zurück. Die sowjetischen Besatzer demontierten, was mindestens Schrottwert hatte. Braindrain der Eliten nach Westdeutschland oder nach Osten, in die geheimen Atomstädte von Sibirien.

Feiertage offenbaren tiefe Psyche

Wie eine Nation ihre Feiertage wählt, offenbart die tief liegende Psyche, die Zerrissenheit ihrer Geschichte. Deutschland wählte einen Akt des Parlaments, den offiziellen Termin des Beitritt des DDR zum Grundgesetz im Jahr 1990.

Im Gespräch war damals der 9. November, der Tag des Mauerfalls. Vieles sprach dafür, doch dieses Datum war durch die Reichspogromnacht 1938 verdorben – für alle Zeiten ungeeignet für Partys.

Freilich, sowohl der Mauerfall als auch die Kristallnacht sah die Deutschen im trunkenen, grölenden Taumel, wie von Sinnen von leuchtenden Aussichten: Endlich durfte man den jüdischen Nachbarn die Scheiben einschmeißen und ihre Synagogen zündeln. Die Polizei rührte keinen Finger. Endlich durfte man in den Westen, zu Butterbergen, Bananen und Brauhaus. Wieder hielt die Polizei still, diesseits und jenseits der Grenze an Mauer und Zone.

Das Ende des Krieges

Doch damit genug der Gemeinsamkeiten. Die Kristallnacht von 1938 markierte das Vorspiel des Krieges und seiner Gewalt, die bald ganz Europa überzogen. Der Mauerfall 1989 brachte der Welt den Frieden, das Ende des Kalten Krieges, eigentlich das späte Ende des Zweiten Weltkriegs überhaupt. Das ist ein wichtiger Unterschied, wir wollen nicht simplifizieren.

Doch dass der nationale Festtag der neu vereinigten Deutschen ausgerechnet auf den 3. Oktober festgelegt wurde, spricht Bände: Nach den Aufständen der Bauern 1525 und der Proleten 1848 gab es erst 1989 wieder den Versuch, Deutschland von innen heraus zu demokratisieren. Der Aufstand im Osten des Landes, der den Mauerfall und die Vereinigung ermöglichte, bedeutete eine enorme politische Emanzipation der Bürger.

Die Angst der Abgeordneten am Rhein

Davor hatten die Abgeordneten am Rhein offenbar Angst. Ihr Grundgesetz, für die Nachkriegszeit als Übergangslösung definiert, sollte nach der Wiedervereinigung aller Besatzungszonen – wie von den Autoren des Grundgesetzes 1948 vorgesehen – von einer modernen, gesamtdeutschen Verfassung abgelöst werden.

Zu dieser Emanzipation war im Westen Deutschlands nur eine verschwindende Minderheit bereit. Zu viele Pfründe waren bedroht: Unionsparteien, Sozis und Liberale hatten sich in Bonn gemütlich eingerichtet.

Beamte machten weiter

Wahlen machte man unter sich aus. Der westdeutsche Wohlfahrtsstaat arrangierte sich gut damit. Nicht einmal das Beamtentum, tragende Säule von Hitlers Mordmaschine, wurde in Frage gestellt.

Und das DeutschlandliedDeutschland, Deutschland, über alles – blieb gesamtdeutsche Hymne. Dabei besingt es die alte Feindschaft gegenüber den Franzosen. Der Dichter Heinrich Hoffmann von Fallersleben schrieb die Zeilen während der sogenannten Rheinkrise im August 1841.

Damals entfachten französische Ansprüche auf das Rheinland eine Welle des Nationalismus in den deutschen Ländern. Auf dieser Welle ritt der preußische Militarismus bis 1870/1871 zur Reichsgründung in Versailles und später zum Ersten Weltkrieg.

Das Grundgesetz ausgedehnt

Der Beitritt der DDR hat das westdeutsche Grundgesetz ausgedehnt bis Oder und Neiße. Solche Beitritte oder Anschlüsse hatte es schon vorher gegeben: den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 und der Beitritt der Sudetendeutschen – mit der Annexion der Tschechei – im gleichen Jahr.

So bildet das Grundgesetz de facto noch immer das Gedankengut der 1940er Jahre ab, ist durch Begriffe wie (deutsches) Volk, (preußischer) Staat oder (patriarchale) Familie geprägt – gemäß der überkommenen Doppelmoral der Kirchen, die sich bis 1945 als Verbündete Hitlers bewährt hatten. (gekürzt)

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