von: H. S. Eglund
13. März 2021

Lyrik: Der ferne Hügel

Seit dem Amtseid von Joe Biden tobt in den Feuilletons ein Streit, ob Amanda Gormans Poem The Hill We Climb gute Lyrik ist, und wer es übersetzen darf. Ein grauer Tag brachte die Erkenntnis: Gute Lyrik schaut Dir über die Schulter wie ein Freund. Sie schmeckt hell – wie ein Schluck vom Elixier des Lichts.

Schmales Bändchen: Gedichte von Klara Günther. © H.S. Eglund/Romeon

Spätwinterliche Tiefdruckgebiete sind ein Gräuel. Lange währte der Winter, war lange eisig und dunkel, und dazu die lange Ödnis des Lockdowns. Kurz keimte die Sonne, brachte helle, warme Tage. Und nun erneut der Absturz in die Finsternis.

Früher, als es noch gedruckte Zeitungen gab, wühlte man sich an solchen Tagen durch die Feuilletons. Heute kriegt man die Newsletter von Volltext und Perlentaucher, komprimierte Listings der aktuellen Debatten.

Doppelplusungut für weiße Übersetzer

Ganz offenbar herrscht in den Hirnen der Redakteure gleichfalls tiefer Druck. Denn ersthaft wird gestritten, ob Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb wirklich gelungen ist. Und ob es übersetzt werden sollte, und vor allem: Von wem? Zwei weißhäutige Übersetzer*innen wurden bereits abgelehnt.

Sie erhielten das Prädikat Doppelplusungut, ihr Profil passe nicht. Gemeint ist: Ihre Hautfarbe ist falsch, ihnen fehlt der Migrationshintergrund. Dabei wendet sich Amanda Gorman ausdrücklich gegen die Trennung der Geschlechter, der Rassen, der Portemonnaies. Sie sagt WE, WIR, wie Barak Obama: „Yes, we can!“

Der Streit geht also weiter. Amanada Gormans Gedicht (und andere Gedichte von ihr) stehen turmhoch darüber. Denn ihr Fundament reicht tief, sehr tief. Lyrik ist so alt wie des Menschen Gedächtnis, älter als die Schrift, älter als alle Schriften. Sie ist Oral History, das unmittelbar gesprochene Wort in akzeptabler Form, um es aus dem Alltagsgeschwätz zu heben.

Lyrik ist das ewige Lied des Menschen, von dem Beethoven sagte: „Wir Sterbliche mit den unsterblichen Seelen.

Der glückliche Sisyphos

Was ist gute Lyrik? Die Suche nach dem Hügel, den es zu erklimmen gilt? Dieser Hügel bleibt immer fern. Nicht der Gipfel ist das Ziel, sondern der Aufstieg. Ein Experte für dieses Thema ist Reinhold Messner, von dem der schöne Satz stammt: „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“

Immer neu antreten. Immer aufs Neue bereit für den Aufstieg, auch wenn er mühselig ist. Weil er mühselig ist. Das Ziel bleibt unerreichbar, es ist Fata Morgana und Utopia und Ultima Thule zugleich, und an grauen Tagen liegt es unsichtbar hinter dem bleichen, regenverhangenen Himmel.

Gute Lyrik ist wie ein warmer, heller Strahl des Sonnenlichts, das Dich trifft, wie ein Blick aus den Augen eines Freundes. So gesehen, war Gormans Poem wirklich gut, richtig gut. Denn die junge Frau hatte den Mut, den ganzen Popanz der Amtseinführung eines US-Präsidenten in den Schatten zu stellen.

Mal was neues, etwas wirklich neues: Hoffnung auf ein anderes Amerika. Einen Moment lang wurde der politische Apparat geerdet, verpflichtet und auf neue Weise vereidigt. Ich war an Carl Sandburgs berühmtes Gedicht erinnert: I am the people, the mob, the crowd, the mass! Und an Walt Whitmans For you these from me, O Democracy, to serve you!

Jeder pickt sich heraus, was er braucht

Das war die laute, die medienwirksame Seite des Auftritts der jungen Frau. Die Debatte, wer das Gedicht übersetzen darf, ist dagegen völlig unwürdig. Denn bekanntlich lässt sich nichts so schwer übersetzen wie Lyrik oder Liedtexte, und am Ende pickt sich ohnehin jeder heraus, was er braucht.

Lyrik ist Gebrauchsware, Ausdruck des Augenblicks – egal, ob im Licht der Scheinwerfer oder abseits in dunkler Ecke. (gekürzt)

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