von: H. S. Eglund
15. Februar 2015

Roman einer Rettung

In diesem Jahr jährt sich der Völkermord an den Armeniern zum hundertsten Mal. Den Opfern blieben die unvorstellbaren Gräuel unvergessen. Das Tätervolk lehnt jede Schuld ab, zumindest offiziell. Wo liegt die Wahrheit? In diesem Buch, von Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh.

Historische Aufnahme des Massakers aus dem Jahr 1916. © unbekannt

Lange hat es gedauert, bis Details nach Europa gelangten. Im Schatten des großen Krieges, faktisch hinter einem Vorhang aus Stahl, Rauch und Blut, hatten die Türken versucht, eine jahrhundertealte Rechnung zu begleichen. Die Armenier sind ein altes, christliches Volk, das der türkischen Herrenrasse die eigene Unzulänglichkeit vor die Augen führte. Ein bisschen galten die Armenier im Vorderen Orient als das, was die Juden in Deutschland und Westeuropa verkörperten: fleißig, hoch gebildet und eigenartig religiös. Denn sie hatten ihre eigene Religion: Die Türken waren Muslime, die Armenier vorwiegend christlich. Und sie waren vor allem wohlhabend. Das brachte Neider auf den Plan.

Der große Krieg hatte kaum das erste Jahr hinter sich, als die Türken zum großen Schlag gegen das kleine Volk ausholten. Noch herrschte das Osmanische Reich, das vom Bosporus zum Kaukasus und bis nach Nordafrika reichte. Doch wie Österreich-Ungarn sprengte der Krieg die alten Grenzen, zerfielen die Vielvölkerstaaten, zerbrach die imperiale Macht der Kaiser, Zaren und Sultane. Die Türkei stand an der Seite Deutschlands gegen die Entente, bis 1915 sah es gar nicht so schlecht aus. Doch dann erhoben sich die Araber gegen den Sultan, mit britischer Hilfe. Jüdische Siedler strömten nach Palästina. Griechenland machte den Osmanen das östliche Mittelmeer streitig. Das alte Reich zerfiel, und der Machtbereich der Türken schrumpfte mit jedem Tag.

Als das Osmanische Reich zerfiel

Auch die armenische Gemeinde in Ostanatolien strebte aus dem Reich, suchte den Anschluss an das historische Mutterland. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches war von einer schweren, innenpolitischen Krise begleitet. Aggressive Jungtürken strebten in das Machtvakuum, das der Niedergang des Sultanats hinterlassen hatte. Die Jungtürken hingen alten Großmachtträumen nach, stemmten sich gegen die Erosion des Reichs, das nach den Jahrhunderten der Terrorherrschaft überdehnt, verfault und zerrüttet war. Die Jungtürken träumten von einer Renaissance, vom Großstaat „Turkan“ aller „Turken“. Fremde, „minderwertige“ Völker hatten darin keinen Platz.

Die Armenier lebten schon sehr lange im Osten Anatoliens, heute das Land der Kurden. Bereits vor der Ankunft des alttürkischen Herrschergeschlechts der Seldschuken ließen sie sich in der Region nieder. Ihre Gemeinden siedelten verstreut, bis zur Küste Syriens am Mittelmeer. Am 24. April 1915 ließen die Jungtürken die gesamte armenische Oberschicht in Konstantinopel (heute Istanbul) verhaften und abtransportieren. 235 Ärzte, Politiker, Künstler, Unternehmer und Journalisten wurden deportiert und kurz darauf ermordet.

Unverhohlene Drohungen

Talaat Pascha, seinerzeit Innenminister der jungtürkischen Regierung, hatte unverhohlen gedroht: „Alle Armenier, die in der Türkei wohnen, sind auszurotten.“ Gedeckt wurde er von Enver Pascha, dem Kriegsminister. Später, als das Territorium des ehemaligen Osmanischen Reiches auf einen unbedeutenden Rest geschrumpft war und der militärische Zusammenbruch drohte, holte er Kemal Pascha in die Regierung. Kemal nannte sich „Atatürk“, Vater aller Türken, er gilt als Gründer der modernen Türkei. Sie blieb übrig von „Turkan“, dem glanzvollen Traum.

Nach dem Mord an der Elite begann eine systematische Kampagne, vor allem gegen Frauen und Kinder. Türkische Polizisten und Militärs trieben sie überall im Restreich zusammen, steckten sie in Sammellager. Diese Methode hatten die Briten zehn Jahre zuvor im Krieg gegen die Buren entwickelt, die sie zu Hunderten in der Wüste verdursten ließen. Die Türken schickten viele Armenier auf Todesmärsche, direkt in die syrische Wüste.

Kinderhände wie Pflastersteine

Allein dabei starben rund eine Million Menschen. „Viel entsetzlichere Dinge erzählten die Ingenieure der Baghdad-Bahn“, erinnerte sich Martin Niepage, zwischen 1913 und 1916 als Lehrer in der deutschen Schule in Aleppo tätig. „Sie berichteten, dass am Bahndamm bei Tel Abbait und Rasulain geschändete Frauenleichen massenhaft herumlagen. Viele von ihnen hatte man Knüppel in den After getrieben.” Der deutsche Konsul aus Mossul, ein Herr Holstein berichtete: „Ich habe auf manchen Stücken des Weges von Mossul nach Aleppo so viele abgehackte Kinderhände liegen sehen, dass man hätte damit den ganze Weg pflastern können.”

Bis heute leugnen türkische Offizielle den Genozid, der erst mit dem Kriegsende verebbte. Zwar leiteten die westlichen Siegermächte erstmals in der Geschichte überhaupt Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen ein. Das Kriegsgericht in Istanbul konnte beweisen, dass die Morde systematisch vorbereitet und zentral gesteuert worden waren. 17 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt. Doch nur drei wurden dem Henker übergeben. Innenminister Talaat floh, wurde jedoch 1921 von einem Armenier in Berlin erkannt und erschossen. Der Mann hatte unter einem Leichenhaufen überlebt. Im folgenden Prozess wurde der Attentäter freigesprochen.

Eine unerledigte Frage

Mehr als zehn Jahre später schien Gras über die Sache gewachsen. Die Türken redeten sich heraus. Statt von Völkermord war von „Opfern durch die Wirren des Bürgerkrieges und der Hungersnot“ die Rede. Diese Lesart wird bis heute in Ankara und Istanbul verteidigt. Und wie damals halten die Deutschen den Türken die Stange. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges hatte Innenminister Talaat gegenüber deutschen Diplomaten erklärt: „Die armenische Frage ist erledigt.“ Historiker gehen heute davon aus, dass deutsche Militärs in die Deportationen, Todesmärsche und Gemetzel eingeweiht waren.

Die Türkei steckte damals voll von deutschen Militärberatern, bis hinauf in den Generalstab. Die deutschen Konsulate hatten unzählige Depeschen an das Auswärtige Amt telegrafiert, in denen sie von den „Metzeleien“ und „Massenabschlachtungen“ berichteten. Doch auch nach dem Ende des Krieges hielt Berlin die Füße still. Waren doch zahlreiche deutsche Unternehmen in der Türkei aktiv, wo sie mit den Briten konkurrierten. Wen interessierte ein kleines, unscheinbares Volk im Osten Anatoliens?

Das Elend von Damaskus

Es interessierte diesen Mann: Franz Werfel. Der 1890 in Prag geborene Schriftsteller kam im Sommer 1929 nach Damaskus, wo er das Elend armenischer Flüchtlingskinder erlebte. Werfel galt in den zwanziger und dreißiger Jahren als sehr erfolgreicher Autor. Unter dem unmittelbaren Eindruck der menschlichen Tragödie beschloss er, die Ereignisse literarisch zu gestalten. Man erinnere sich: Rundfunk war damals unbekannt, Fernsehen gab es erst recht nicht.

Werfel recherchierte und fand die Geschichte der unbeugsamen armenischen Gemeinde, die an der syrischen Küste gelebt hatte. Rund 4.000 von ihnen entschlossen sich zum Widerstand gegen den organisierten Mord. Sie zogen sich auf den Musa Daghi zurück, den Mosesberg, um sich gegen die Übermacht der Türken zur Wehr zu setzen. Diese Episode ist historisch von Johannes Lepsius verbürgt: „Aus Dörfern bei Suidije am Ausfluss des Orontes konnte sich ein Haufe von 4.058, darunter 3.004 Frauen und Kinder, auf den Dschebel-Musah flüchten. Er wurde an der Küste von einem französischen Kreuzer aufgenommen und nach Alexandrien geborgen.“ Lepsius war evangelischer Theologe und Orientalist. Sein Spezialgebiet: die Geschichte des armenischen Volkes.

Vier Jahre lang wühlte sich Werfel durch die Archive befragte Zeitzeugen und befuhr die Küste. Sein 1933 erschienener Roman besticht durch den authentischen Hintergrund und die hervorragende Detailkenntnis. Er gehört zu den großen Werken der deutschsprachigen Literatur, vergleichbar mit „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque (1929 erschienen) oder „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers (1942).

Die Psychologie der Rettung

Im Mittelpunkt steht eine fiktive Gestalt: Gabriel Bagradian, der zusammen mit Frau und Sohn Stephan aus Paris in die heimatliche Levante gekommen ist. Zufällig gerät der Wahlfranzose in den Strudel der mörderischen Ereignisse. Gemeinsam mit dem armenischen Priester Ter Haigasun wird er zur Seele und zum Herzen des Widerstands gegen die Türken. Bagradians Sohn Stephan fällt im Kampf, erst vor den feindlichen Schiffskanonen ziehen sich die Belagerer zurück. Die letzten der Überlebenden besteigen die Flotte, nur Bagradian bleibt zurück. Am Grab seines Sohnes trifft ihn eine türkische Kugel.

Vor allem gelang Werfel die feinsinnige Darstellung einer Rettung, die von innen heraus kommt und letztlich gelingt – wenn auch mit Hilfe von außen. Statt die Lämmer seiner Gemeinde zu beschwichtigen, nimmt Ter Haigasun kein Blatt vor den Mund. Um die Bedrohung spürbar zu machen, verzichtet er auf jede Form von Augenwischerei. Die bittere Wahrheit spricht er aus und ruft die Menschen der sieben Dörfer auf, sich gegen den unwürdigen Tod in der Wüste zu wehren. Ohne Illusionen oder salbungsvolle Phrasen kann er die Menschen überzeugen. So rafft sich das duldsame Bauernvolk zum Widerstand auf, wehrt drei türkische Angriffe auf den Berg ab.

Der Organisator des Widerstands ist Gabriel Bagradian. Seit zwanzig Jahren lebt er als Intellektueller in Paris, fernab seiner Heimat. Als Artillerieoffizier hatte er auf dem Balkan einen türkischen Feldzug mitgemacht. Noch ehe sich die Bauern der Gefahr bewusst werden, beginnt er, das Terrain zu sondieren und die notwendigen Ressourcen für die Gegenwehr zu organisieren. Er ist der „Mann der Stunde“. Eben noch ein Fremder, führt er die armenischen Bauern nun im Krieg an.

Das Schicksalsbuch jüdischer Emigranten

Werfels Roman war damals in vieler Munde. Er wurde zum Bestseller, als den Juden zuerst in Deutschland, dann in vielen anderen Ländern Europas ein ähnliches Los wiederfuhr. Unter jüdischen Emigranten galt „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ schlechthin als Schicksalsbuch. Werfel selbst musste 1938 aus Wien fliehen, wo er seit Ende des Ersten Weltkriegs gelebt hatte. Er emigrierte nach Frankreich, dann 1940 über Spanien in die USA. 1945 starb er in Beverly Hills. Dem S. Fischer Verlag ist es zu verdanken, dass dieser Roman auch heute noch immer wieder gelesen wird. In seiner Klassik-Reihe (Taschenbuch) hat Werfels großartiger Roman einen festen Platz.

In den Fußstapfen von Kaiser Wilhelm

Aktuell kocht das Thema wieder hoch. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) weigerte sich kürzlich, den Genozid im Bundestag zu behandeln. Damit tritt sie in die Fußstapfen von Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg, der seinerzeit sagte: „Unser Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Schon 1909, als die Jungtürken erste Querelen mit den Armeniern begannen, kommentierte Kaiser Wilhelm II: „Die Armenier gehen uns nichts an.“

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ließ vor einiger Zeit verlauten: „Ich bin überzeugt, dass es kein Kapitel in unserer Geschichte gibt, dessen wir uns schämen, das wir ignorieren, vergessen oder vertuschen müssten.“ Das sagte er anlässlich einer Parlamentsdebatte über die „Geschichte der türkisch-armenischen Beziehungen“. Schon früher hatte Erdogan festgestellt, dass „aus der Luft gegriffene Kampagnen“, mit denen die Türkei gezwungen werden solle, die Massaker an den Armeniern als Völkermord anzuerkennen, „zu nichts führten.“

Der Genozid als Tabu

Die türkische Regierung behandelt den Genozid als Tabu. 2001 hatte das französische Parlament den Völkermord offiziell verurteilt. Daraufhin boykottierte die Türkei französische Unternehmen und zog ihren Botschafter ab. In den USA vermochten es türkische Diplomaten von 1935 bis in die späten achtziger Jahre, die Verfilmung von Werfels Roman zu verhindern. Ihnen steckte nackte Angst in den Knochen: Denn die Verfilmungen von „Im Westen nichts Neues“ und „Das Siebte Kreuz“ wurden cineastische Welterfolge, die kaum hinter dem Erfolg der literarischen Vorlage zurückblieben.

Als der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk im Streit um das Massaker davon sprach, dass „in der Türkei 30.000 Kurden und eine Million Armenier getötet worden sind“, löste er heftige Reaktionen nationalistisch gesinnter Türken aus. Er wurde mit Mord bedroht und tauchte zeitweise unter.

Die Aufgabe von Geschichte ist, sie zu erzählen. Franz Werfel hat es meisterhaft verstanden, den scheinbar aussichtslosen Kampf der Armenier darzustellen und für die Nachwelt verständlich zu machen. Das Buch liest sich fesselnd und lebendig, ist aktuell wie damals. Es mag stimmen: Gegen die Politik hat Literatur keine Macht. Aber den längeren Atem. Wir empfehlen: „Die vierzig Tage des Musa Dagh“.

Franz Werfel: „Die vierzig Tage des Musa Dagh“
ISBN 978-3-596-90362-7
Webseite beim Fischer Verlag