von: Martin Kunz
5. November 2017

Sturm und Drang

Ein Gastbeitrag von Martin Kunz

© Bibliothek Deutscher Klassiker

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Zweihundert Jahre vor dem symbolischen Datum 1968 trat der junge Johann Gottfried Herder eine Reise ins Ungewisse an. Sein Bericht darüber im Journal einer Reise beginnt so:

Den 23. Mai reisete ich aus Riga ab und den 25/5. ging ich in See, um ich weiß nicht wohin? zu gehen. Ein großer Theil unsrer Lebensbegebenheiten hängt würklich vom Wurf von Zufällen ab. So kam ich nach Riga, so in mein geistliches Amt und so ward ich deßelben los; so ging ich auf Reisen. Ich gefiel mir nicht, als Gesellschafter weder, in dem Kraise, da ich war; noch in der Ausschließung, die ich mir gegeben hatte. Ich gefiel mir nicht als Schullehrer, die Sphäre war [für] mich zu enge, zu fremde, zu unpassend, und ich für meine Sphäre zu weit, zu fremde, zu beschäftigt. Ich gefiel mir nicht, als Bürger, da meine häusliche Lebensart Einschränkungen, wenig wesentliche Nutzbarkeiten, und eine faule, oft eckle Ruhe hatte. Am wenigsten endlich als Autor, wo ich ein Gerücht erregt hatte, das meinem Stande eben so nachtheilig, als meiner Person empfindlich war. Alles also war mir zuwider.

Etwas später wird der Text wild, anarchisch:

… die Cultur der Erde! aller Räume! Zeiten! Völker! Kräfte! Mischungen! Gestalten! Asiatische Religion! und Chronologie und Policei und Philosophie! Aegyptische Kunst und Philosophie und Policei! Phönicische Arithmetik und Sprache und Luxus! Griechisches Alles! Römisches Alles! Nordische Religion, Recht, Sitten, Krieg, Ehre! Papistische Zeit, Mönche, Gelehrsamkeit! Nordisch asiatische Kreuzzieher, Wallfahrter, Ritter! Christliche Heidnische Aufweckung der Gelehrsamkeit! Jahrhundert Frankreichs! Englische, Holländische, Deutsche Gestalt! – Chinesische, Japonische Politik! Naturlehre einer neuen Welt! Amerikanische Sitten u. s. w. – – Grosses Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis daß es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen! Universalgeschichte der Bildung der Welt!

Wir nennen jene Generation „Stürmer und Dränger“. Die jungen Aufgeregten plädierten für das Originalgenie, für den höhern Menschen, den Künstler, der alle Formen sprengt. Leidenschaft, Ursprungsnähe, Wildheit gelten mehr als kanonische Schönheit. Es war eine Bewegung der Dichter und Denker, theatralisch, noch wo es um Lyrik ging. Der Philosoph Johann Georg Hamann wandte sich gegen das systematische Denken: Wahrheiten, Grundsätzen, Systemen bin ich nicht gewachsen. Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle. Ein jeder nach seinem Grund und Boden.

Diese jungen Leute wollten befreien vom Korsett der Form und zielten auf intensive gefühlshaltige Momente. Wer diese Bewegung überlebte, wurde mit dem Alter ruhiger. „Klassik“ nennen wir jene Zeit, in der das Anliegen galt, die Ordnung im Sinne von Harmonie und Humanität wenigstens literarisch wieder herzustellen.

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Schon um 1800 gärte es erneut unter den Jungen. Die sogenannten Romantiker hatten genug von der vollendeten Formenwelt der Klassik. Sie plädierten noch einmal für das Ich und seine Erweiterungen, für eine Verspieltheit des Lebens durch die Vereinigung von Geist und Natur, von Endlichkeit und Unendlichkeit. Die angestrebte Lebensform war poetisch, was allerdings nur als verzehrende Sehnsucht, als ewiges Streben zu haben ist. Die typische Ausdrucksform der Romantiker war das Fragment, die Improvisation, die Arabeske. Der grosse Traum war die Verschmelzung von Mythos und Logos. Die Freunde Hölderlin, Schlegel, Hegel schrieben stürmisch und drängend:

Wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.
So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.

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Seiher kam es immer wieder zu solchen Gegenkulturen, von einzelnen oder Gruppen formuliert und gelebt, etwa von Bohémiens oder Lebensreformern und Avantgardisten. Die Futuristen zum Beispiel riefen aus: Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. So lautet der erste Programmpunkt des Futuristischen Manifests aus dem Jahre 1909.

Es überrascht wohl nicht, wenn ich jetzt auf die 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zu sprechen komme. Die Bewegungen jener Zeit waren alles andere als homogen. Während die einen Makel love not war sangen, schlossen andere Gewalt nicht aus: Sie war ja immer nur Gegengewalt.

So heterogen jene Zeit war – es gab einen Grossen Sound, der alle verbunden hat: der Sound der Rock- und Popmusik. In jenen Jahren wurden neue Kommunikationsformen gefunden; was Kultur ist, wurde neu definiert; man suchte eine neue Sprache und Praxis der Liebe und die Erziehung wurde im Sinne der humanistischen Psychologie oder der Kritischen Theorie radikal neu bestimmt. Das Prinzip Hoffnung beflügelte uns, und die Bücher der kritischen Philosophen gaben Stoff her, um nächtelang zu disputieren. Wir waren gesellschaftskritisch, ziemlich verstiegen, die Einlösung unserer Utopien war unsere Naherwartung.

Es ging uns einerseits sehr gut. Ich konnte um des Studierens willen studieren und nicht, um Punkte zu sammeln. Aber etwas in uns war zutiefst verärgert und verstimmt. Im Gegensatz zu unsern Eltern und Lehrern verurteilten wir die Rolle der Amerikaner im Vietnamkrieg. Aus dem Muff des Elternhauses, der Institutionen, der Moral, der Politik mussten wir ausbrechen, wir suchten Befreiung, Befreiung aus der kollektiven Engstirnigkeit. Wir hatten Hunger nach Wissen und nach dionysischen Erfahrungen, nach Grenzüberschreitungen, nach einer Counter Culture. Natürlich muss man das heute kritisch sehen, und die Betroffenen haben sich jene Zeit mit Selbstironie zu vergegenwärtigen – bei allem Stolz, der einen befallen könnte, wenn man den Historiker Eric Hobsbawm sagen hört: In jenen Jahren fand die grösste und dramatischste, schnellste und universellste Transformation der Menschheitsgeschichte statt. Besserwisser benützen jene Bewegung aber als Projektionsfläche für ihre Wut auf alles Mögliche.

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Die obere Mittelschicht sollte nicht vergessen, dass sie ihre Credos, die heftig um Selbstverwirklichung kreisen, eine späte Wiederaufnahme der Kerngedanken der 68er sind. Nur hat sich unterdessen gedanklich und lebenspraktisch, was einst Protest war, mit dem Neoliberalismus amalgamiert.

Authentizität und Kreativität, Bildung und Ästhetisierung des Lebensvollzugs, Echtheit und kosmopolitisch ausgerichtete mehrdimensionale Identität – das galt 1968 als avantgardistisch und ist unterdessen typisch für das Konsumbürgertum, selbst noch die damals berüchtigte Autoritätskritik. Ironischerweise hat sich, was einmal Outsiderhabitus war, unterdessen aufs wunderbarste eingefügt ins Leben der gebildeten Mittelschicht. Die Bausteine des gelingenden Lebens – damals kritisch gegen alles Bürgerliche gewendet – sind jetzt selbst bürgerlich geworden. Man brüstet sich mit seinen Wohnformen und Kochkünsten, seinem Modeverständnis, seiner urpersönlichen Art und Weise der Selbstinszenierung und mit den Plänen, die man für seine originellen Kinder hat. In paradoxer Weise ist Kreativität nun nicht mehr der Modus des Anders-, sondern des Angepasstseins. Nicht zuletzt deshalb entstehen lauter Widersprüche, etwa in der Erziehung und Bildung. Jedes Kind ist etwas Besonderes und bedarf individuell optimierter Förderung. Gleichzeitig wird es zunehmend an Standards gemessen, muss pisatauglich sei. Was man damals mit laisser faire zu erreichen hoffte, muss heute durch concerted cultivation erreicht werden. Aber auch unser Konsumverhalten ist widersprüchlich: Man konsumiert munter, erfährt gar im Konsum, zum Beispiel im Genuss ausgesuchter Weine, so etwas wie Sinngebung und versteht sich gleichzeitig gerne als Konsumrebell. Man plädiert für mehr Freiheit und Vermehrung der Optionen und trägt dennoch die Bürokratisierung des Alltags und der Institutionen widerspruchslos mit. Man ist Demokrat und zweifelt doch an der Demokratie, wenn die, die falsch liegen, wieder einmal obsiegen.

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Die positive Kraft der Stürmer und Dränger, der Romantiker und der 68er stand im Dienste der Ich-Steigerung und der Erweiterung der Lebensformen. Heute wird der Sturm von Menschen mit ganz andern Anliegen entfacht. Wer nicht zur erfolgreichen Gruppe der sich selbst feiernden Oberen gehört, sucht sich sonderbare Identifikationsmöglichkeiten, befürwortet gegen die eigene Intelligenz politische Verengungen, um seine Identität zu finden. In immer mehr Ländern formieren sich Wut- und Hassgruppen, völkisches Vokabular wird reaktiviert. Man verkleidet sich avantgardistisch, um rassistische Slogans zu predigen. Feinde werden gesucht, erfunden, magisch beschworen, wirkliche Feinde und Drahtzieher verkannt. Über Scheinprobleme wird energisch diskutiert.
Aber auch das Sinnen jener, die an der Aufklärung festhalten, erspürt das grosse Ganze nicht erhellend genug. Es ist zu abstrakt. Unsere innere Organisation erschwert es, längerfristig über den eigenen Kreis hinauszufühlen. Ethik hilft nicht. Wahrscheinlich sind wir uns zwar einig in der diffusen Ahnung, welches die grossen Fragen der Menschheit sind, aber schon beim exakten Benennen sind wir es nicht mehr. Verständlicherweise kreisen unsere Sorgen vor allem um die eigene Zukunft und um die der Kinder.

In der Ichhaftigkeit der einstigen Stürmer und Dränger steckte als Kern noch das Allgemeine, universalisierter Geist, der Genius der Erleuchtung, der die Erde durchziehen soll (siehe oben).

Wir haben – trotz Globalisierung – diesen grossen, fast religiösen Blick nicht mehr. Selbst die Perspektive von Berufsdenkern verengt sich immer häufiger, etwa wenn Norbert Bolz, Professor an der TU Berlin und Autor vieler, durchaus auch lesenswerter Bücher, zwar für einen stolzen Drang zur Unabhängigkeit und Freiheit plädiert, allerdings bloss für die einen. Feministinnen, Homosexuelle und kritische Kulturschaffende bezeichnet er abwertend als Normalisierer des Abnormalen oder gar als geistesgestört.

Vielleicht hat er das in Interviews flaxig Gesagte nicht so gemeint, wie es tönt. Solche Denkfiguren werden aber von Engstirnigen gerne aufgenommen, die stets die ersten sind, die angeblich Lösungen haben. Lösungen sind aber nicht das, was wir zuallererst brauchen. Es begänne mit Besinnung. Wir müssten einerseits – und dies ganz für uns – ins alte Chaos hinabsteigen und uns dort wohlfühlen, wie Ludwig Wittgenstein gefordert hat, wohl wissend, dass aus dem innern Sturm manchmal tanzende Sterne geboren werden. Wir müssten andererseits ruhiger werden – und dies öffentlich. Es braucht Exzentriker der Besonnenheit und der Stille, der Begegnung und des wirklichen Gesprächs. Wenn Bürgerinnen und Bürger die demokratisch Gewählten für „die da oben“ halten, stimmt etwas nicht. In einer extrem individualisierten Gesellschaft ist die politische Repräsentation „des Volkes“ nicht einfach. Das wachsame Volk war eine Idealvorstellung der Französischen Revolution: Wachsamkeit heisst Reflexion, die auch auf der Strasse stattfinden kann, sie ist aber nicht Geschrei und Talkshow. Die Rolle der Medien wäre in diesem Zusammenhang, dem öffentlichen Geist zu dienen, so wie Hannah Arendt ihn verstanden hat. Ihr schwebte ein Raum des Politischen vor, in dem die Leidenschaften des Herzens, die Gedanken des Geistes, die Kunst der Sinne in einer für öffentliches Erscheinen geeigneten Form stattfinden. Das Gemeinsame ist das, was uns verbindet, aber auch trennt. In diesem Raum sollen deshalb nicht nur einzelne auftreten wie auf einer Bühne, sondern es sollte ein Miteinander-Reden stattfinden, durch das der einzelne lernt, dass man die Dinge auch anders sehen kann. Politik wäre, mit den Vielen redend zu verkehren und das Viele zu erfahren, das in seiner Totalität jeweils die Welt ist.

Freiheit ist, sich von sich wegzubewegen, um die Dinge von andern Seiten her zu erschliessen.

In schlaflosen Nächten traue ich manchmal nicht einmal mehr der Reflexions- und Imaginationskraft der Künstler und Philosophen, also auch der meinen nicht. Wir wollten einst die Phantasie an die Macht bringen. Und wir haben alles demonstrativ überhöht und inflationär verzerrt. Und die jungen Menschen heute? Ihr vielfältiges Engagement, ihr Interesse und Desinteresse ist verdeckt. Es gibt keine fassbare Stossrichtung. Und wenn sie tanzen, dann nicht über die Grenzen ihrer Klubs hinaus. Die Unübersichtlichkeit der Lage und etliche Sorgen verbinden uns. Weltweit rumort es dagegen in Schichten, die ihre Phantasielosigkeit für zukunftsträchtig halten. Sie wissen definitiv, dass in ihrem WIR kein Platz ist für die ANDEREN. Was soll man ihnen – und uns – wünschen?

Martin Kunz

Martin Kunz lebt als Philosop und Musiker in Zürich