von: Urs Heinz Aerni
6. Juni 2022
© Ausstellung im Museum Rietberg in Zürich
Gestern Vormittag ging ich ins Museum. Stand lange vor dem Bild Radha in der Gottesferne, gemalt im Geiste der bakhti-Bewegung, in der die Beziehung zu Gott oder zur Göttin als eine spirituelle Liebesbeziehung verstanden wird, ganz im Sinne einer Liebe und Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Ich ging aber nicht der Ästhetik und Semantik hinduistischer Malerei nach, sondern liess zu, dass mir Gedanken kamen, ob passende oder nicht.
Gottesferne? Dieses Gefühl kenne ich.
Vielleicht geniesse ich es sogar ein bisschen. Ab und zu. Als Kulturchrist, der ich aus soziologischer Sicht wahrscheinlich bin. Deshalb nahm ich gestern, voraussagbar, nicht an einem Gottesdienst teil. Obwohl mich das Ereignis, das Christen an Pfingsten zu feiern hätten, eigentlich fasziniert: Einige Jesusanhänger, die seit seinem Verschwinden trotzdem immer noch zusammenhalten, versammeln sich zu einem Erntedankfest. Was immer sie da treiben, sie geraten in eine Art Trance. Reden seltsam daher. Aussenstehende schütten den Kopf. Halten die unverständlich Lallenden für bekifft. Die wild Ergriffenen haben Visionen. Sehen Zungen wie von Feuer. Haben ekstatische Körpererlebnisse. Werden vom Brausen des Geistes, was immer das sein könnte, erschüttert. Jeder äussert sich auf seine ihm eigene Weise. Und seltsamerweise verstehen sie sich alle in diesem nicht nur sprachlichen Durcheinander.
Ich bin übrigens durchaus für Formen transrationaler Erfahrungen, wie ich später noch ausführen werde. Sie gehören wesentlich zum Menschsein.
In den urbanen Zentren des Westens sind immer weniger Leute mit dieser Pfingst-geschichte vertraut, die man natürlich auch anders erzählen kann, als ich es eben getan habe. Das Interesse an der Bedeutung christlicher Feste nimmt ab. Viele sind sogar stolz, dass sie sich scheinbar befreit haben von christlich imprägnierten Traditionen. In Afrika, Südamerika und anderen Weltgegenden dagegen nehmen die Gruppierungen zu, in denen Ausgestaltungen des Christentums florieren, die «wir» nicht gerade für wünschens-wert halten. Wir sind für ein aufgeklärtes Christentum, wenn überhaupt. Uns schaudert, wenn russische Kirchenmänner den menschenverachtenden Angriffskrieg als metaphysischen Kampf gegen die westlichen Werte rechtfertigen.
Wir wollen, dass Religion sich in ethischer Hinsicht unseren Werten fügt, dem Humanismus, den Menschenrechten. Und ja: Die immer wieder neu zu schärfenden Instrumente des Denkens, die uns das Ideal der Aufklärung zur Verfügung stellt, dürfen wir nicht aufgeben, auch wenn sie ursprünglich von alten weissen Männern entwickelt worden sind.
Aber wozu dann noch Religion, wenn sie innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft gedacht und gelebt werden soll? Und was sollen wir dann anfangen mit diesem exzentrischen Pfingstfest?
Vor ein paar Tagen erinnerte ein Theologe in einer Diskussion an das Spezifische der christlichen Religion: Sie sei, wir wissen es, die Religion der Liebe schlechthin. Und Liebe heisse, meinte er, miteinander im Gespräch bleiben. So gesehen, hat selbst Pfingsten einen ganz rationalen Kern: Es ist das Gründungsfest der Akzeptanz pluraler Sprachformen. Antifundamentalistisch. Transnational. Individuierend und verbindend.
Der Stifter dieser Gründungsperformance sei der sogenannte Geist gewesen, ein grosser Atem, ein alles durchdringender Wind. Und prompt sagte gestern eine Stimme in mir: Das ist das Problem. Wir wissen nicht mehr, was Geist ist. Er ist für uns nur noch ein Softwareprogramm. Geist im Sinne kognitiver Leistungen kommt zustande, indem wir denken. Er ist das Gedachte. Ist Informationsverarbeitung. Datenverarbeitungskapazität. Wirklich und nachweisbar auch ein materieller Vorgang.
Aber eben: Geist ist noch etwas anderes. Ich spreche jetzt fast wie ein Pfingstgläubiger. Dank dem Impuls des Geistes, der früher «heilig» hiess, kommt gelebtes Leben zustande, die Lust auf sprengendes Denken und nicht nur Denken, der Wille zur Selbstermächti-gung, der letztlich von woanders her kommt. Dieser Geist, den wir metaphorisch als jenseitig erleben und deuten, schlägt über die Stränge. Er rüttelt am Geschirr. Reisst aus der Normalität heraus. Als Pfingstwahnsinn kann er Transformationen bewirken, beglückend, irritierend, vieldeutig. Der begeisternde Geist ist leidenschaftliche Erregung, die uns neue existentielle Räume eröffnet, ein Ankommen auf unverhofften Sinninseln im sonst absurden Welttheater. Oder einen Absturz.
Wäre eine solche Erfahrung in einem Gottesdienst nicht doch möglich? Zum Beispiel im Grossmünster. Mit grossartiger Musik. Das fragte ich mich gestern. Oder bleibt alles fad, weil hauptsächlich nacherzählt wird, was Pfingsten war, und zu wenig, was es ist? Weil wir nicht ins Transrationale hineinbewegt werden. Weil die Rituale nicht ausreichen, um uns eine Tiefenerfahrung zu ermöglichen? Weil die Magie fehlt? Und die Musik das nicht kompensieren kann?
Kirchliches ermöglicht uns kaum mehr Öffnung für das Hereinbrechen lebendiger Wahrheiten, die hinter der erstarrten Wahrheit kollern, rumoren, tanzen. Und nebenbei gesagt, die heutige Kunst auch nicht mehr. Dachte ich gestern, pessimistisch. Zu sehr will sie belehren, statt dass sie überschreitet.
Meine Notizen sollen nun kein Plädoyer sein für pseudocharismatische Pfingstbewe-gungen. Lediglich der Ausdruck meines Fragens, in dem allerdings eine Ahnung schwelt, eine sehnsüchtige: dass Vernunft sich mit dem Transrationalen verbinden könnte. Oder sollte. Dass zumindest der Feier des Lebens häufiger Raum gegeben werden müsste. Nicht als Blödsinn, sondern als Exaltation und Exsultation. Mag sein, in frivolen Kontexten. In Weisheitsbewegungen, die nichts anderes sind als manchmal lichtende, manchmal bunt umschleiernde Verrücktheiten.
Der Geist zeigt sich aber auch im Schein, als Vorschein, als ein NochNicht, das höher ist als alle Verdinglichung. Also unbedingt weiterhin Kunst! Weitende Poesie. Schliesslich aber, so die Hoffnung, soll das Pulsieren des Geistes das Leben erneuern. Auch politisch.
Und ich ging weiter zu den nächsten Bildern.
Am Schluss kommen Radha und Krishna zusammen. Die Gegensätze, die potenziell eins sind, sind nun kinetisch vereint. Bis auf Weiteres.
Martin Kunz