von: Klever Verlag Wien / Red.
23. März 2020

Neue Bücher aus dem Wiener Verlag Klever

Wir meinen, das sind Bücher, die entdeckt werden sollten.

© Klever Verlag

„Die Verbotsschilder und Kennzeichnungen sind klar und deutlich, da kennt sich jeder aus, auch die Bescheuerten“ (Claudia Bitter: Kennzeichnung)

Claudia Bitter: Kennzeichnung. Roman
224 Seiten, Hardcover, € 24,-, ISBN 978-3-903110-56-4

„Wie gut, dass es das Amt gibt, wie gut sie sich um uns kümmern. Wenn es der Virus gewesen wäre, der Gedanke ist immerzu um mich herumgeflogen, aber ich habe ihn verscheucht, wie eine lästige Fliege, die sich immer wieder einen Platz auf der nackten Haut sucht.“ (Leseprobe, Teil 1 – Su)

„Ich liebe mein Land, unser System, unser Amt, das nenn ich Liebe. Das hat nichts mit Sex und Heirat und Windeln zu tun, sondern mit Ehre und Stärke und Willen. Die Frauen sind gut aufgehoben in den Fabriken und ihre Kinder in den Schulen, das Amt kümmert sich gut um sie, die brauchen sich nicht beschweren, die haben ein gutes Leben, das passt für sie, auch wenn das nicht alle wissen.“ (Leseprobe, Teil 2 – Willi)

„Der Tag im Bunker ist kein Tag, wie man ihn kennt. Die Zeit vergeht dort anders. Auf Fragen der Bürger, wie lange die Katastrophenübung denn dauere, gibt es nur Schulterzucken von den Wärtern und Sicherheitsbeamten. (…) Immer wieder werfen Bürger einen Blick aufs MWG, wollen die Zeit ablesen, wie sie es gewohnt sind, unzählige Male am Tag zu tun. Dann schütteln sie den Kopf, manche fragen sich, was die Ausschaltung dieser Funktion mit der Katastrophenübung zu tun hat.“ (Leseprobe, Teil 3)

Su kriegt ein Kind. Vater gibt es keinen dazu. Aber ein neues System, das sich von der Wiege bis zur Bahre“ um alles kümmert. Egal ob Kinder­erziehung, Gesundheitswesen oder Sterbebegleitung. Ein zentrales Amt klassifiziert, bewertet und kontrolliert die Bevölkerung gemäß Plus und Minus. Su’s Sohn Willi entwickelt sich vom Kleinkind mit erheblichen psychischen Defekten zu einer militä­rischen Führungskraft. Zu tun gibt es einiges: Die Gesellschaft muss klar und scharf gespalten werden, außerdem wurde von „Auswärtigen“ ein hochgefährlicher Virus eingeschleppt; betroffen sind mehr Plus als Minus. Der Großteil der Geschichte wird von Su erzählt, einer Frau, die sozial abgedriftet ist, sich aber nicht beteiligen möchte an der System­­­erhaltung. Der letzte Teil des Buches wird aus der Perspektive von Willi erzählt, der nun das Ruder übernimmt und zeigt, was ohne Empathie in der Gesellschaft möglich werden kann.

Manfred Bauschulte: Henri Michaux: Autor und Artist
224 Seiten, Hardcover, € 24,-, ISBN 978-3-903110-56-4

„Im 20. Jahrhundert malt und beschreibt Michaux den Wechsel wie die Störung und Zerstörung, die der radikale Wandel impliziert. Er lernt die Symptome und Folgen des Bebens an sich selbst zu beobachten.“

„In erster Linie will dieser biographische Parcours demonstrieren, wie in Büchern von Henri Michaux physische Träume wachgerufen werden und sich an Leser wenden. Auf natürliche Weise kommen sie als lebendige Kräfte ,zur Sprache‘. Sein Ausdruck für die Praxis des Schreibens als laut gewordenem Denken ist: ,Sprechdenken‘ oder ,Gedanken­musik‘. Schritt für Schritt wird die Entstehung dieses lyrisch-liturgischen Schreibens nachvollzogen und gleichzeitig der Ausdruckswandel der zeichenhaften Alphabete und Figuren auf dem Papier rekonstruiert, der mit seiner Malerei einsetzt.“

Seit je genießt Michaux den Ruf eines extremen Künstlers, dessen Bücher und Bilder zwar Aufmerk­samkeit und Anerkennung verdienen, aber bisweilen als rätselhaft gelten. Seine Schriften schillern zwischen intimen Journalen und imaginären Repor­tagen, Fabeln und Gedichten. Seine Malerei verliert sich in einem endlosen Strom fragiler Figuren und kryptischer Zeichen.

Manfred Bauschultes Biographie ist ein chronologischer Parcours, auf dem die einzelnen Stationen im Leben und Schaffen von Michaux abgeschritten werden. Sie rekonstruiert, warum er anonym bleiben und ohne jede Gewiss­heit existieren will, und demonstriert, wie in seinen Schriften bitterer Hu­mor in herzzerreißenden Lyrismus, harmlose Phan­tasie in brutale Realität um­schlägt.

Gerhard Ochs: Der Blinde hat ein Auge und ist König. Erzählungen
124 Seiten, Klappenbroschur, € 16,-, ISBN 978-3-903110-58-8

„Der Revolver weilt im geheimen Versteck. Ich wollte ihn in die Hand nehmen und fühlen, ob noch Leben in seiner Kühle ist. Nach der Sonnen­finsternis Bericht der Augen über die Lichtge­schwin­digkeit. Am Himmel der Kreis, zurück gehe ich vorwärts. Automatisch schreibt die nächste Zeile den Text. Schwin­gungen aller Ungeborenen und Sterbenden, die jünger sind als wir, vergehen in tödlichen Minuten. Ach, wir pfeifen auf die ungewöhnlichen Aufregungen und glauben stattdessen an volle Löffel, die uns beruhigen werden. Nein, wir müssen nicht frieren, wenn wir sterben, das zum Trost. Ich glaube fest, wir fangen an zu schweben und lassen die irdene Kraft zurück. Ist es nicht an der Zeit, sich stumm und warm zu laufen in eine rosane Zukunft? Ich sage, kehrt um und vernichtet die Technik! Geschwächt fällt die Hand vom Rand des Tisches auf den Schoß. Liebe mich im Land zwischen Pfau und Schlaf, wässrig wie ich einmal war!“

„Kann man die Schultern so schleifen, dass Flügel daraus wachsen?“ – „Welche Ge­schichte will auf der Stelle erzählt werden, wer schraubt an ihr, bis sie ihr Ziel verfehlt hat?“ – „Warum hier sein?“ – – – – Gewiss werden in den kurzen Prosastücken von Gerhard Ochs die wesentlichen Fragen gestellt, die in der Literatur überhaupt gestellt werden können, und wer nun dabei nach dem roten Faden einer Erzählung suchen will, bekommt gleich noch einen blauen, gelben oder schwarzen Faden zur Hand. Ein idealer Leser dieser Erzählungen jedenfalls „kann sich einleiden oder ein­freuen in die Geschichte eines anderen Menschen.“ Denn wir erfahren: „Bald gibt es in der Welt keine Stelle mehr, die uns nicht an irgendetwas er­innert.“