von: Rainer Bartels, Pforzheim
29. Dezember 2017
© von Urs Heinz Aerni
Maneuvre post-la-guerre
Fast zwei Wochen waren wir zuletzt mit diesem Zweigespann aus klapperigem Citroen mit Anhänger unterwegs. Heute ist der 26.12.1945. Es ist kalt. Es ist Mittwoch. Es ist dunkel und Paris beginnt in der Ferne an zu lärmen. Das sei ein Geräusch der Hoffnung meinte Yves matt, mir jedoch ist Angst, Verlust und Grauen seit Kriegsende meine Nähe geworden. Was mit meinen Eltern geschah, warum ich in diese Tage und Nächte eingebunden wurde, mir ist’s nur bitter und unerklärlich. Mit Fäustlingen schreibe ich mit Bleistift auf Kartonpapier.
Ich kann keinen Roman schreiben und diese Zeilen schreibe ich nur, weil ich vielleicht verrückt werde, in dieser unmöglichen Ruhe mit fremden Hintergrundgeräuschen plötzlich eine Geschichte, eine unglaubliche Geschichte, die sich gerade jetzt erst mir erschließt, da ich in dieser unerträglichen Situation hocke immer noch mit dem Peitschen von MG-Schüssen im Ohr. Mein bisheriges Leben erscheint mir heute Nacht beliebig, fremdbestimmt und unklar gewesen zu sein. Denken? Dazu war keine Zeit seit August spätestens. Politisch interessiert? Nein, das war ich nicht. Ich bin alleine gelassen worden wie schon oft in diesen Kriegs- und Nachkriegstagen in Frankreich. Ich als Boche, als Franzose, der Deutscher ist durch den Pass seiner toten Eltern, der Aushorcher wurde von kriegsgefangenen Franzosen und manchmal in den katalanischen Akzent der Sprache des Roussillon verfiel. Die deutsche Sprache war mir verhasst, lag doch ihre preußische Tonfärbung hart über meiner singenden Sprachweise wie ein schmutziges Tuch über einem hübschen Korb voller Orangen, Mandarinen und Limonen. So wurde ich in Kriegszeiten mit meinen deutschen Eltern, die längst ihre Heimat verlassen hatten, ja sicher verlassen mussten, aus glaubens- oder aus politischen Gründen, in diese Weltgegend unter dem großen Canigou zwischen Claret und Foix als Fremder erwachsen. Erinnerungen an Deutschland hatte ich keine aber Angstträume durchschüttelten mich, sprachen die Eltern an windigen Abenden flüsternd aber- und abermals über die Tage und Nächte der Flucht und wie sie Kontakte – mit wem auch immer – aufrecht erhalten mussten oder müssten, frug ich mich, da unten im Kerzenlicht zwischen den grauen rohen Kalksteinmauern unserer Behausung am Hang eines Hügels abseits der Ortes. Warum waren es immer wieder windige Abende frug ich mich manchmal und es war klar, dass ich diese Abende am Nordhang der Pyrenäen nicht ertragen konnte. Dieser Tramontana genannte Wind, eigentlich ist es ein ekelhafter trockener Sturm, zerstört Realitäten und fördert Gespenster. Spannungen knistern dann im Kopf, als ob er eine elektrische Drahtwicklung wäre.
Das Kerzenlicht jagte diese Gespenster und schwarze Rußflocken durch den Raum und manche dieser Ungestalten versuchten mich im Schlaf von oben her, hinter dem Treppenabsatz her, nachts in meinen Träumen anzugreifen, wogegen ich mich mit Geschrei aufwachend zur Wehr setzte.
Als die deutsche Wehrmacht einrückte, die hier weder etwas zu suchen oder gar zu wehren hatte, sondern in perfider Weise ein Angreifer war, war ich gefundenes mehrsprachiges erstes Opfer, welches von nun auf sofort vereinnahmt wurde und nicht wusste, dass ich damit abgestempelt wurde und ein Verlierer sein würde.
Die Oliven waren grün und warm, die Kirschen längst geerntet und das Steinobst reif. Es war August. Es war die Hölle. Es schien wieder einmal eine unglaubliche Sonne. Darüber ein Himmel, zu welchem nur ein Tor führte, daran anzuklopfen.
Die Eltern verschwanden mit diesem Kriegsende und hinterließen mir nichts außer gellendem Lärm in meinem Kopf, harte Schläge wie Metall auf Stein und den erstickt wirkenden Schrei meiner Mutter. Zwei, drei Schüsse fielen und dann war Sterbensruhe. Nur in mir tobte laute Panik. Mein Versteck war durchlöcherte Pappe geworden. Später erst erfuhr ich von einer Siegerkonferenz in Potsdam zu dieser Zeit.
Hier war von Siegern und Besiegten nur Angst geblieben. Bestenfalls Unsicherheiten. Kalte Einsamkeit, körperlos.
Vermutlich war ich ohnmächtig gewesen in dieser Nacht der verlorenen Heimat, der verlorenen Sicherheit und damit des Totalverlustes jeglicher Liebe und Umarmung. Vermutlich hätte ich mich bis zum Verdursten und zum Verhungern in mich zurückgezogen aus meinem totalen Unverständnis der Situation heraus und in ein Schneckenhaus hinein mich versteckt. Irgendwann standen Yves und Francois bei mir und rüttelten mich wach. Es war Tag. Welcher Tag? Sie nahmen mich mit. Es sei derzeit nicht gut als Deutscher sich im Hauptgebiet der ehemaligen Resistance aufzuhalten. Mir half das Grübeln nicht weiter, was wohl meine Eltern denn hier gemacht hatten? Es war wohl gefährlich gewesen und nicht geheim geblieben, nachdem die Deutschen kamen und dann wieder vertrieben worden waren. Deutsch? Aber doch nicht ich!
Oben in Prats de Mollo lag bereits früher Schnee am Septemberbeginn. „ Cristina ist schwanger“, sagte Yves. Cristina unser aller charmante-petite, die Kleine. Unser Nachbarmädchen litt, und ich dachte immer noch, dass wir eigentlich unschuldige Kinder seien. Kinder? Damit war deutlich Schluss. Die Welt änderte uns in immer schneller einkreisenden Umrundungen. Und ich war doch kein Deutscher, kein Boche und kein Allemande. Ich war hier zu Hause, hier war ich zu Hause geworden, zu Hause gewesen, hier war ich aufgewachsen!
Schwanger, das war fast ein Todesurteil in diesen Tagen, sowohl was die medizinische Versorgung als auch den Fluch der zurückkehrenden Franzosen betraf. Ihre Schädelrasur hatte ich verständnislos zur Kenntnis genommen. Es tut mir heute noch wehe.
Jetzt, als wir uns von dieser Gegend verabschieden wollten war Cristina selbstverständlich mit einer, ich kicherte verblödet, mit einer „Meckifrisur“ dabei und eingeweiht. Yves vermutete seine Eltern oder das was von seiner Familie übrig geblieben war in der Bretagne, Francois strebte nach Rouen, Cristina, um das Kind bedacht, das sie eigentlich damals abtreiben wollte und dann doch nicht konnte als sie die ersten Bewegungen dieses Wesens in sich spürte, wollte nur Sicherheit, also nach Paris und ich war sowieso heimatlos. Mir erschien das völlig unbekannte Elsass die einzige Alternative nahe Deutschland zu sein, doch dieses feindliche Land nie betreten zu müssen.
So blieb ich als Kriegsverlierer in dieser kleinen jungen, Heimat suchenden Gruppe.
Ein bunter Herbst schlich über das Tal des Tain. Ich wurde als Dieb ernannt. Ich wurde ausgesucht, eine Transportmöglichkeit zu suchen, die uns von hier wegbringen sollte. Ich sollte den Dieb spielen. Ein äußerlich edler, schwarzer, schlanker Citroen, welcher innerlich jedoch immer stärker klapperte, je mehr der Vergaser angesprochen wurde und ein ummanteltes Kupferkabel, welches einen Tender hielt, war das Ergebnis. Das Auto stand total verstaubt hinter einer Scheune unter vielen Stroh- und Reisigballen, ausgedörrten Weinreben. Eigentümer gab es möglicherweise, doch in den Nachkriegswirren sollten die außerordentlich schwer ausfindig zu machen sein. Wir glaubten das fest und hatten insofern keine Eile, unser Gefährt in einen halb-optimalen Zustand zu versetzen. Heimlichkeiten waren wir gewohnt. Krieg kann bilden und härtet ab.
Dass Cristina schwanger war, das sahen nun wir auch. Wie sie gehänselt wurde und welche Nöte sie ausstehen musste, waren dann auch unsere Nöte und Peinlichkeiten, ohne dass wir jemals wahre und gute Erziehung genossen hatten.
Der Krieg war in uns als ein Lebensparameter, jedoch auch auf eigenartige Weise war er an uns vorbei gegangen. Der Tender, der Anhänger, ein Gummireifenwägel, wohl eines verschollenen Gemüseverkäufers, sollte uns als Einsammel- und Schlafraum dienen. Ein direkter Weg nach Paris kam nicht in Frage. Zu sehr befürchteten wir restliche militärische Linien, wer sie kontrollierte und welchen Eindruck wir hinterlassen könnten mit einem schwangeren Mädchen, einem Bretonen, einem Franzosen und einem Katalanen, der einen heftigen deutschen Akzent sprach. Ach so, ja, der auch mit einem geklauten Citroen ohne Papiere unterwegs war. So waren Nachtfahrten unsere tägliche Routine gewesen in den letzten Tagen.
Gesucht werden würden wir nicht, aber auch dumme Zufälle können zu heftigem Ärger führen, so sagten wir uns.
Nachdem der schneeweiße Canigou , es war mittlerweile Winter geworden, weit hinter uns lag und Andorra, in der Macht des Bischofs von Urguell damals, querab festgestellt werden konnte, hatten wir kurz überlegt, ob wir uns Franco in Spanien überstellen sollten, hatten dann aber drei sinnvollere Ziele. Alle führten zunächst nach Paris, also nach Norden, dann Francois und Yves weiter, Cristina wollte dort bleiben und ich nach Osten. Wir fuhren durch ein leeres Frankreich und kamen ganz gut durch bis Angouléme. Dort Benzin-Gemisch zu bekommen erwies sich als problematisch und war wie noch zur Carl Benz Zeiten nur über eine verschwiegene überteuerte Apotheke möglich. Damit war unser sorgsam aus Devisen zusammengestoppeltes Kapital aufgebraucht und dahin.
„Ich habe Wehen“ kreischte Cristina und hyperventilierte. Es war wieder einmal Nacht und wir näherten uns Paris über Orsay. Die Straße durch Versailles war gesperrt. „Ein Spital!“.
Mir war das ein unerträgliches, übles Spiel. Ich musste jetzt wieder das Steuer des klapprigen Citroen übernehmen, da nur ich einen Führerschein hatte, einen Führerschein ausgerechnet ausgestellt von den deutschen Besatzungskräften im Bereich „Landes-Pyrenäes“ vor anderthalb Jahren. Praktisch, so war mir klar, hatte ich ein eigenes Todespapier in der Tasche. Ich war, sobald überprüft, der Kriegsgefangene, wenn nicht gar der Tote. Yves, Francois hatten damit kein Problem und gar keinen Führerschein und Cristina waren im Moment solche Überlegungen herzlich fremd.
Irgendwo da draußen in der Dunkelheit gab es ganz sicher eine Hebamme, einen Gynäkologen, ein Spital departemental, doch nein, weiteres suchen hätte weitere kostbare Zeit gekostet. „Paris-le-Hospital“, so heißt eine kleine Gemeinde in der Nähe von Nolay in Burgund“ brachte Francois hervor. Wollte er witzig sein? „Dann hätten wir das Rhonetal auf der N 86 nordwärts fahren müssen, da aber herrscht jetzt der Mistral“ murmelte unfroh Yves. Ich hätte fast gelacht, konnte es mir mit Mühe verkneifen. Mir war ernsthaft klar, dieser Weg wäre auch möglich gewesen, jedoch mit ca. 130 km/h Sturm auf der Nase? also frontal? Möglicherweise noch von den Deutschen vermint?
Westherum um das Zentralmassiv war allemal sicherer. Auf diesem Weg waren wir. Wo dort draußen im gelben Scheinwerferlicht könnte eine medizinische intakte Einrichtung sein? Eine Klinik, in welcher Cristina gebären könnte?
Der rechte Scheinwerfer begann zu flackern. „Nein!“ betete ich. „Nein!, wir haben keine Ersatzglühbirnen!“.
Dann endlich: Vor uns der Bois de Boulogne. Der Zaun, zertreten, die Mauer, eingestürzt, Postamente zerstört aber der Parkweg frei. Frei für unser quietschendes und klapperndes Gefährt, mitten hinein in den Park, den Wald, seine Geschichte. Der Tender hoppelte brav mit.
Keinen Sou, kein Wasser, keine Wärme, kein Essen, kein Spital. Aber: Eine fast zerstörte Villa vor uns im Scheinwerferlicht, royal in unser goldgelbes PKW-Licht getaucht.
Die Reste des Baquette bröselten wie Mumien im Samun, die Trockenwürste hatten ausgeölt und rochen nach alter Firnis und Francois hatte Durchfall. Cristina stöhnte und schwitzte.
Hier war das Herz Europas, hier war das Lutetia der Kelten und wir vier Versprengten waren genau da angekommen.
Hier wird Cristina gebären. Hier?
Eine zerschossene Villa, finstere, teils noch reflektierende Fensterhöhlen, eine notabene Adresse mit einem Allzwecktender und einem vorkriegs-Citroën. Wir erhofften drum herum einen Ofen und weitere Annehmlichkeiten zu finden. Wir fanden nichts außer einer übergelaufenen Email-Badewanne hoch oben links neben einer mit Splittern großzügig überschütteten Treppenhausgestaltung deren Kronleuchter finster und schräg auf uns hinabblickten. Doch, wir fanden eine Toilette, die war wohl von Clochards, Kriegsverlierern und Kriegsgewinnlern bereits so verdreckt, dass sie zu nichts mehr taugte als übel zu stinken.
„Nach Osten hin, zum See, ist das Dach noch dicht“ hörten wir von Yves und Francois ergänzte lakonisch, „da gibt es auch Parkettboden!“: Im Moment wusste ich mit diesen Luxusbemerkungen nichts anzufangen. „Formidable, tres bien“ sagte ich jedoch dazu aber das erwartete Lachen blieb aus.
Der See nach Osten war das „Mare Saint-James“. Also ein Meer? Nein, ein kleiner See im Park.
In dieser Situation der dezemberlichen Eiseskälte mit zerbrochenen Fenstern auf den Luxus eines wunderschönen Eichenparketts hingewiesen zu werden, war zu viel, als ich als eine Unperson, wie ich mich fühlte, (comme moi) irgendwie zu belustigen!. Auf die Schönheit eines Eichenparkettes hinzuweisen, ja, das kann nur ein Franzose, ein echter Genussfranzose in dieser Situation. Nicht ein beinahe-Deutscher in Eiseskälte fernab von irgendwo, der könnte das nicht. Hier sollte also Cristina gebären.
„C‘est redicule“ war meine Antwort und doch hätte Jean-Marie ohne das Parkett seine eigene Geburt kaum überlebt. Der Raum war tatsächlich trocken, das Feuer aus herausgeschlagenen Parkettdielen heiß glühend wie ein Scheiterhaufen in der Mitte eines ehemaligen Salons aufgeschichtet und das Badezimmerwasser, so wenig reinlich es auch aussah, kochte in unserem Gemüsetopf auf quer gelegten Eisenstangen bis in den frühen Morgen. Noch heute stehen mir die Nerven hoch unter der Haut und blank und dann auch noch ganz dicht in den oberen Hautzellen, wenn ich die Hektik bedenke, die durch den fortschreitenden Gebärvorgang immer nüchterner, rationaler und blutiger zum Erfolg führten.
Die kleine Cristina bewies erstaunliche Kenntnisse und Durchhaltevermögen. Jean-Maries erstes Krähen kann ich gerade noch auf 05.15 Uhr früh definieren, also ist schon der zweite Weihnachtsfeiertag, also ein Werktag hier in Paris. Da ich seit Tagen die einzig noch funktionierende Uhr habe, kann ich das noch festhalten. Und nun geht mir das Kartonpapier aus und ich brauche meine Aufzeichnungen vielleicht morgen, um wieder ein Parkettholzfeuer zu entzünden.
Ich kann meine Schrift nicht mehr lesen und Sinn und Unsinn, Glück und Furcht und Angst und Zuversicht haben sich gemengt.
René v. Bar.
Nachtrag:
Natürlich ging die Armbanduhr irgendwie falsch und Jean-Marie nutzte diese Unklarheit in seinem späteren Leben mindestens 2 Geburtstage Ende Dezember zu feiern, weil ja Weihnachten, so begründete er einmal später, ihm sowieso alle Festgeschenke wegnahm.
Damals aber wurde der rotgesichtige, vaterlose kreischende Bub in die westliche Welt des Wiederaufbaus und des erblühenden Europa entlassen. Er ist vielleicht jetzt irgendwie Opapa, vielleicht als hoher Beamter bzw. als jetzt 69-jähriger Pensionär in Brüssel geworden.
Unvermeidlicherweise vorbeikommende Gendarmen, oder waren es Flics? – Damals –
nahmen Mutter und Kind damals in das nächste Hospital mit, nahmen unsere Personalien auf und verschwanden. Wie wir auch.
r.v.b
Rainer Bartels lebt in Pforzheim und ist Präsident der Stiftung Bartels Fondation in Basel
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