von: Heiko Strech
2. Oktober 2019
© Flyer Moby Dick Streck
„Fast alle Mann hingen mit ihren Blicken wie gebannt an dem Wal, der sein vorherbestimmendes Haupt seltsam hin- und herschwenkte, als er in einem breiten Halbkreis aus brodelnder Gischt heranstürmte. Und keine Macht der Welt konnte ihn hindern, mit dem massigen Klotz seiner Stirn den Bug steuerbords zu rammen. Drunten hörte man die See durch das Leck ins Schiff strömen, wie ein reissender Wildbach durch eine Bergklamm rauscht.“
So versenkt der riesige weisse Pottwal Moby Dick den US-Walfänger „Pequod“. Einzig Ismael, der Ich-Erzähler des ozeanischen Romans „Moby Dick oder Der Wal“ (1851) von Herman Melville (1819-1891), überlebt. Sein Kapitän Ahab hatte durch alle Meere den Wal gejagt, der ihm einst ein Bein zerschmetterte.
Moby Dicks reales Vorbild, Mocha Dick, soll Dutzende Walboote zerstört, drei Schiffe versenkt und dreissig Seeleute auf den Meeresgrund geschickt haben.
Ein Walfänger mass damals etwa 33, ein Fangboot 7 Meter. Pottwale werden bis 30 Meter lang. Sie konnten mit ihrem gewaltigen Kopf wie aus Hartgummi tatsächlich Holzschiffe versenken.
Melville, am 1. August 1819 in New York als Kaufmannssohn geboren, fuhr 1841-1844 zur See. Dann hatte er mit zwei Südseeromanen grossen Erfolg. 1851 erscheint „Moby Dick“. In die atemberaubende Jagd-Handlung hat Melville eine Fülle von philosophischen Reflexionen und religiösen Motiven eingefügt.
Der Roman-Ozean „Moby Dick“ reisst uns mit durch seine Sprach-Dynamik: Sanfte und schäumende Wellen, Wasserwirbel, untergründige Strömungen, grosse Brecher, leichte Brisen, jähe Böen, Stürme – sogar ein paar Flauten finden sich im Sprachmeer Melvilles.
Doch das Spitzenwerk der Weltliteratur fiel bei Publikum und Presse krachend durch. Was sollte der Einstieg mit seitenlangen Zitaten zur Walkunde? Und dann diese fremdartige Collage: Dialoge, Monologe, Predigten, Dokumente, Idyllen, Satiren, Philosophie – in einem Abenteuer-Roman? Taugt nix.
Manisch schreibt Melville weiter, jagt dem weissen Wal „Erfolg“ hinterher. Fast ohne Echo. Neunzehn Jahre lang verdingt sich das Genie als Zollinspektor. Mit Elizabeth Shaw hat er zwei Töchter und zwei Söhne. Malcolm begeht Suizid, Stanwix stirbt an Tuberkulose. Elizabeth will sich von ihrem depressiven Ehemann scheiden lassen, bleibt dann aber bei ihm. 1891 stirbt Herman Melville. Früh im Olymp des Ruhms, dreieinhalb Jahrzehnte im Orkus des Vergessens.
Der dämonische Ahab aus „Moby Dick“ erinnert an Shakespeares von Hass und Wahn getriebene Macbeth, Lear oder Jago. Die Crew hält der mitreissend „populistische“ Kapitän voll im Griff. Seine blinde Rachsucht führt in aller Tod.
Der Weisse Wal – als Symbol wie in allen grossen Dichtungen unendlich deutbar. Jedenfalls steht der Sieg von Moby Dick über Ahab als Warnung da vor der menschlichen Hybris, etwa in Politik und Wirtschaft. Heute haben wir allen Grund, die Populismus-Demagogen dieser Welt zu fürchten. Allerdings besitzen sie nicht die finstere Grösse Ahabs, sondern sind bloss banale Autokraten.
Eingebettet in das Aussendrama Ahab/Moby Dick ist die Binnen-Tragödie zwischen dem Kapitän und seinem Ersten Steuermann. Starbuck, Mann des vernünftigen Masses, hält Ahab entgegen: „Rache an einem stummen Tier, das einfach dich aus blindem Trieb getroffen, Wahnsinn!“ Doch Ahabs Wahnsinn schlägt Starbucks Sinn.
Einmal steht Starbuck mit einer Muskete vor der Kajüte des Kapitäns. Wie böse muss das Gute sein, um das Böse zu besiegen? Starbuck wagt den Tyrannenmord nicht.
„Benito Cereno“ – die infame Fake-Story
Wir verlassen die „Pequod“ und betreten mit der Erzählung „Benito Cereno“ (1856) vor der Küste Chiles 1799 ein heruntergekommenes spanisches Sklavenschiff. Capitán Benito Cereno lehnt tatenlos am Grossmast. US-Kapitän Delano auf Besuch staunt: Viele Schwarze laufen da frei herum – und nur wenige Weisse.
Neben Cereno „stand ein Schwarzer von kleinem Wuchs. Jedesmal, wenn er mit der stummen Gebärde eines Wachhundes zu seinem Herrn aufblickte, waren in seinem groben Gesicht Kummer und liebevolle Besorgnis zu spüren.“
Stockend berichtet Cereno, wie ein Wogenschwall sämtliche Schiffsoffiziere über Bord gefegt habe. Allesamt jäh ertrunken? Der gutgläubige Delano gerät ins Schwanken – aber er vermag die trügerischen Zeichen ringsum nicht zu lesen.
Was er sieht: „Wie sie da vor ihm standen, Herr und Diener, der Schwarze die Stütze des Weissen, drängte sich ihm mit Macht auf, welch schönes Verhältnis sich da offenbarte: ein Schauspiel der Treue hie, des Vertrauens dort.“
Alles falsch. Fake-Regisseur Babo hat hier ein Rührstück zwischen Schwarz und Weiss inszeniert. Dabei ist er der Chef eines Sklavenaufstandes an Bord. Hintergründig bezeichnet Melville ihn schon beim ersten Auftritt als „Wachhund“. Der bewacht ja entweder jemanden gegen andere – oder eben diesen selbst.
Babo benutzt seinen Capitán sogar als Mitspieler in seinem Fake-Theater. Er lässt Cereno sich nach Mannschaftstärke und Bewaffnung auf Delanos „Bachelor’s Delight“ erkundigen, so dass Delano Verdacht schöpft – gegenüber Cereno! Doch natürlich plant Babo heimlich das Entern des US-Schiffes. Fast zu spät erkennt Delano die Differenz zwischen Schein und Sein.
Hier ist die erzählerische Raffinesse Melvilles kaum zu überbieten. Immer wollen wir Kapitän Delano zurufen: Merkst du nicht endlich was? Und wenig später lassen wir uns gleich ihm wieder täuschen durch Zeichen, die wir falsch deuten (sollen). Heute leben wir ja voll im Fake-Zeitalter.
„Bartleby“ – ein Schreiber schreibt nicht mehr
Jetzt verlassen wir den Ozean für einen Landgang nach Manhattan, in die Kanzlei eines Notars an der Wallstreet, des Ich-Erzählers von „Bartleby, der Lohnschreiber“ (1856). Der „erledigt ein ungeheures Pensum an Schreibarbeit, schweigend, bleich und mechanisch.“ Doch bald weist er höflich eine neue Aufgabe zurück: „Ich möchte lieber nicht – I would prefer not to.“
Dieser Satz – unvergessliches Leitmotiv einer verstörenden Geschichte. Einmal bittet der Notar seinen scheuen, höflichen und ungeheuer einsamen Schreiber, doch ein bisschen vernünftig zu sein. Bartleby: „Im Augenblick möchte ich lieber nicht ein bisschen vernünftig sein.“
Schliesslich flieht der Notar sogar vor diesem Rätselmenschen in eine neue Kanzlei. Doch der Besitzer der alten lässt Bartleby, der dort jetzt „tags auf der Geländersäule sitzt und nachts in der Eingangshalle schläft“ – ins Gefängnis abführen.
Bald verweigert Bartleby die Nahrung, stirbt am Fusse der Gefängnismauer, an die er sich immer angelehnt hatte. Bartlebys Fenster in der Kanzlei ging auf eine Brandmauer hinaus, vor der er stets wie träumend stand.
„Bartleby“ trägt den Untertitel „Eine Geschichte von der Wall-Street“. Schon damals ein schnell drehendes Kapitalismus-Karussell. Das bedeutete extreme Arbeitsteilung, Dauer-Monotonie. Das nach Selbstsein verlangende Ich muss vor der Mauer der Bürotür stehen bleiben. Bartleby jedoch möchte kein Schreib-Automat mehr sein. Übermächtigen Systemen gegenüber bleibt nur noch passiver Widerstand. Auch heute. Über Gesellschaftskritik hinaus zielt Melville auf des Menschen Geworfensein, existentialistisch gesprochen. Am Schluss steht der Ausruf
„Ach, Bartleby! Ach, Menschsein!“
Denkt man beim archaisch-modernen Epos „Moby Dick“ an Shakespeare und die Bibel, so beim surreal-absurd-tragikomischen „Bartleby“ an die Kunst unserer Zeit, an Kafka oder Beckett. Der grosse unglückliche Dichter Melville – er ist bei uns angekommen. Endlich.