von: Simone Klein
9. Mai 2015

Mit Volldampf ins Leere

Unsere Gastautorin Simone Klein las den Roman "Bajass" von Flavio Steimann

© Buchcover Edition Nautilus

Der Mord an einem Bauernpaar führt Ermittler Albin Gauch kurz vor seinem Ruhestand tief in die Innerschweiz. Bei seinen Recherchen stößt er auf Morast – nicht nur im Wald. Obwohl die Abgeschiedenheit des Tals keinerlei Anonymität zulässt, will niemand etwas gesehen haben. Als einziger Zeuge kommt der Knecht der Eheleute in Betracht, dem aufgrund einer geistigen Behinderung keinerlei Aussage möglich ist. Auch die Indizien bieten erst einmal keinerlei Anhaltspunkte. Bald jedoch stößt Gauch im Nachlass auf das Foto eines jungen Mannes, an den sich erwartungsgemäß niemand zu erinnern vermag. Zudem findet er eine Annonce zu Überfahrten mit einem Auswandererschiff nach New York. Gauch bricht mehrere Dienstvorschriften und geht schließlich an Bord des Dampfers. Sollte sich der Schuldige außerhalb der Schweiz befinden?

Im Protagonisten Gauch schildert der Autor Flavio Steimann einen Sonderling im Kreise ebensolcher, der die eigene Position in der bäuerlichen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts kritisch hinterfragt. Der Gerechtigkeit im Auftrag des Staats verpflichtet, fällt ihm die Zuordnung von Gut und Böse zunehmend schwerer, ebenso das Gehen. Gauch kommt nicht mehr voran, weil das Ziel vor seinen Augen verschwimmt. Als Lösung für sich selbst und zur Aufklärung des Falles bleibt ihm nur noch der unausweichliche Gang auf das Schiff. Dort gibt es für ihn kein Entrinnen mehr, denn die unliebsame Struktur einer Mehrklassengesellschaft, die sich an Land noch verteilte, präsentiert sich hier auf engstem Raum. Schmerzhafter denn je wird Gauch bewusst, dass er zu keinen Kreisen wirklich gehört. Die Feudalen am Oberdeck sind ihm ebenso fremd wie die Namenlosen, die auf Stroh schlafen, und all jene, die er gar nicht zu Gesicht bekommt. Bleibt die zweite Klasse, eine Art Mittelschicht. Doch auch mit diesen Menschen vermag er sich nicht mehr zu identifizieren und steuert scheinbar aussichtslos auf das leere Unbekannte zu. Selbst der Trumpf in seiner Hand soll ihn am Triumpf vorbeiführen.

In „Bajass“ ist Steimann eine Komposition gelungen, in der er eine an den Realismus erinnernde Novelle mit einer naturalistisch anmutenden Sprache versieht, und als Quintessenz mit den Ausläufern einer Fin-du-Siècle-Stimmung kombiniert. Die Erzählung wird zum Zeitkolorit, der den Beginn des vergangenen Jahrhunderts mit seiner Entwicklung in die Moderne hinein minutiös abbildet. Eine ausgeprägte Metaphorik fügt Figuren, Handlung und Umgebung zu einem vortrefflichen Ganzen zusammen, einem formschönen und sehr individuellen Kunstwerk. Simone Klein

 

Das Buch: Flavio: Bajass. 2. Auflage. Hamburg: Edition Nautilus, 2014. ISBN 978-3-89401-797-2. 128 Seiten

Simone Klein lebt als Autorin bei Zürich und veröffentlichte schon mehrere Romane. Besuchen Sie ihre Website hier.