von: Mark van Huisseling
5. Oktober 2021
© Mark van Huisseling
Als ich vergangenes Frühjahr die Pandemiebewältigung beschrieb, urteilte ich streng über Verantwortliche beim Bund. Jetzt schreibe ich erneut über Covid-19 respektive die Impfung dagegen. Weil man als MvH gelegentlich auch herausfordernde Gebiete betreten muss. Um auf diese Weise einen Beitrag zu leisten, damit unsere Welt wieder eine wunderbare wird, wie der Name der Kolumne verspricht. Dieses Mal richte ich meine Beanstandung aber nicht an Vertreterinnen und Vertreter der Obrigkeit – diese haben aus früheren Fehlern gelernt, dünkt’s mich, oder machen aus anderen Grün- den einen guten Job –, sondern an Teile des sogenannten Volks.
Mit anderen Worten: Wir müssen über Impfgegner reden (danke, Leserin; danke, Leser, dass Sie dennoch im Text bleiben).
Vor ein paar Monaten sagte mir ein Bekannter zuerst, er schätze mich als einen weltläufigen und gebildeten Menschen (ich übertreibe nicht). Und fragte als Nächstes, weshalb ich mich hätte impfen lassen. Meine Antwort: «Eben drum.» Seine Eckdaten, nebenbei erwähnt, bestätigen die Regel: Anfang vierzig, Migrationshintergrund, keine Bildung der Tertiärstufe, Raucher; ich schätze ihn sehr / wir sind immer noch befreundet.
Mitte September, nach einer Kundgebung auf dem Bundesplatz in Bern, berichtete ein Journalist in der NZZ, die Szenerie bei Demonstrationen gegen Corona-Massnahmen werde dramatischer: Was ein paar versprengte Leute während der ersten Welle angestossen hätten, scheine zu einer Bewegung angewachsen zu sein. «Längst sind skurrile Figuren mit Alu- Hüten und wirrem Blick in der Minderheit.» Es zogen durchschnittliche Menschen durch Bern, am Ende dürften es mehrere Tausend Personen gewesen sein, die ohne Bewilligung gegen die erweiterte Zertifikatspflicht protestierten.
Der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause fühlte sich an den Sturm von Trump-Anhängern aufs Capitol in Washington erinnert. (Möglicherweise ist dieser Stand in der Zwischenzeit überholt und seither noch Schlimmeres passiert, mein Redaktionsschluss war zehn Tage vor Erscheinen dieses Beitrags.)
«Man kommt als normalintelligenter, einigermassen informierter und /oder denkender Mensch nicht mehr umhin, den Begriff ‹Schwarmintelligenz› aus seinem Wortschatz zu streichen. Aber nicht ersatzlos, sondern zugunsten von ‹Schwarmdummheit›; das trifft es besser.» Dieser Satz ist von mir, ich habe ihn im April 2021 geschrieben.
«Wir müssen über Impfgegner reden (danke, Leserin, dass Sie dennoch im Text bleiben).»
Damit wir uns richtig verstehen sowie zur Sicherheit: Durchschnittliche Menschen, mehrere Tausend, zogen nicht durch Bern aus Wut, weil sie sich nicht impfen lassen durften (gratis). Sondern weil sie als (allergrösstmehrheitlich) freiwillig Ungeimpfte nicht länger in den Genuss bestimmter Freiheiten kommen (Restaurant- oder Fitnessstudiobesuche etwa, falls es sich zudem um Nichtgenesene beziehungsweise Ungetestete handelt). Weil sie es also nicht annehmen wollen, dass ihre Freiheit, die Faust zu schwingen, dort endet, wo die Nase eines anderen beginnt (das Bild ist von Daniel Cohn-Bendit).
Einen Augenblick, bitte. Ist das vielleicht zu wenig einfach gedacht? Deshalb folgender Schluss Ihres Kolumnisten: Wer als «Impfgegner» auftritt, packt die Gelegenheit, zurzeit mehr zu sein als eine nonentity, eine unbeachtete Durchschnittsquakerin. Und das ist für die meisten Durchschnittsquaker eine Einmal-im-Leben-Gelegenheit.
Die Freiheits-Trychler beispielsweise setzen sich mit Herz und Hand für unsere verfassungsmässigen Rechte ein, angeblich (Website-Text). MvH hat zuvor noch nie von dieser durch engagierte Urschweizer gegründeten Gruppe gehört (und sie auch nicht vermisst). Plötzlich aber nehmen Journalisten sie ernst oder geben sie jedenfalls wieder –«als vom Bahnhof her der fast dionysische Klang der Treichler anschwoll», NZZ –, plötzlich trägt Bundesrat Ueli Maurer ihr (stilmässig abverheites) T-Shirt oder kommt ihr Name in der Überschrift eines 16 000-Zeichen-Interviews mit Christoph Blocher (NZZ, encore une fois), vor . . . Oder Nicolas Rimoldi, ein ehemaliger unbekannter Jungfreisinniger, und sein Verein «Mass-voll!» – an- derer (gestalterisch leicht besserer) Schlauch, gleich mieser Wein.
Zwei kleine Stiche in die Oberarme – und vor- bei wär’s mit ihren fünfzehn Minuten Ruhm.
Mögen Sie, was Sie lesen? Share the love, werden Sie zahlende Abonnentin/zahlender Abonnent von MvH – wählen Sie auf https://markvanhuisseling.substack.com/subscribe, wieviel Ihnen seine Arbeit wert ist (hint: den meisten 50 USD im Jahr). So erhalten Sie auch in Zukunft Zugriff auf alle Texte. Danke.