von: Dr. Katja Hachenberg, Autorin (Karlsruhe)
16. November 2016

Literaturtage Zofingen 2016

Geschichten von Büchern, Menschen… und Tieren

© Literaturtage Zofingen

Der niederländische Schriftsteller Gerbrand Bakker wäre, müsste er Tier statt Mensch sein, gerne ein Schaf, die flämische Autorin Saskia de Coster ein Mops und die Autorin und Filmkritikerin Bettina Spoerri, Leiterin des Aargauer Literaturhauses, eine Robbe auf einer einsam dahintreibenden Eisscholle… Diese und andere vergnügliche Einblicke in das Leben und die Gedankenwelt von Schriftstellern konnten die Besucher der Literaturtage Zofingen gewinnen, die vom 28. bis 30. Oktober unter dem Patronat der Botschaft des Königreichs der Niederlande stattfanden.

 

Seit 2009 orientieren sich die Literaturtage jeweils am Ehrengast der Frankfurter Buchmesse: So wurden diesjährig Gäste aus Holland und Flandern willkommen geheißen. Die Zofinger Literaturtage gelten als „Chill-out-Room“ des wichtigsten Branchen-Events der Welt: Nach den hektischen Messetagen in Frankfurt geht es in Zofingen um ein Vielfaches ruhiger und entspannter zu. In einem überschaubaren, fast familiären Rahmen können Interessierte hier einander und der Literatur begegnen. Die Veranstaltungsorte liegen nah beieinander und sind fußläufig in wenigen Minuten erreichbar. Ganz nebenher lernt man dabei die wunderschöne Stadt nahe Olten kennen.

 

Das vielfältig und anspruchsvoll gestaltete Programm (Projektleitung: Johanna Bucheli) spannte diesjährig einen Bogen von einem Workshop mit Schülern in der Kantonsschule mit dem niederländischen Comicautor und Illustrator Marcel Ruijters über eine Lesung Gerard van Gemerts hin zu einem Podiumsgespräch über virtuelle Realität und Literatur. Verschiedene Vermittlungsformen – Lesung, Workshop, Präsentation, Gespräch, Vortrag, Referat, Filmvorführung und Podiumsdiskussion – korrespondierten den breit gefächerten Inhalten und sorgten für Abwechslung und Kurzweil.

 

Am Eröffnungsabend im Bürgersaal des Rathauses trugen ein Vater und seine Tochter Franz Hohlers charmante Geschichte „Hoe de bergen in Zwitserland kwamen“ („Wie die Berge in die Schweiz kamen“) vor. Markus Kirchhofer, Programmleiter der Literaturtage, betonte in seinem Grußwort die Ausweitung des Programms auf Schulen sowie die intermediäre Dimension. Es folgten Ansprachen des Vertreters der Botschafterin der Niederlande sowie des Stadtammans, des Präsidenten der Nederlandse Vereniging Zürich und der Präsidentin Stiftung Powerstation Art. Sieben 12-jährige Kinder aus der Schweiz lasen sieben Texte über ihren Besuch auf der Insel Ameland und sieben Texte von niederländischen Kindern über deren Besuch in der Schweiz vor – fantasievolle, bezaubernde kleine Texte, in denen ab und zu Drachen und Feen auftauchten…

 

Im Innenhof des Rathauses gab es die Gelegenheit für Begegnungen mit den anwesenden Gästen und die Einladung, vom holländisch-schweizerischen Kulturfondue zu kosten (lecker!).

 

Der zweite Veranstaltungstag begann mit Kaffee, Gipfeli und zwanglosen Gesprächen in der Buchhandlung Mattmann am Kirchplatz. In der Stadtbibliothek sprach anschließend Cécile Vilas, Stadtbibliothekarin, über das „Goldene Zeitalter“ der Niederlande. Auch der holländische Buchdruck genoss internationale Ausstrahlung und hinterließ in der historischen Büchersammlung der Stadtbibliothek seine Spuren. Vilas zeigte auf, wie im weltoffenen und liberalen Holland bahnbrechende Werke des Rationalismus gedruckt wurden, die anderswo keine Möglichkeit hatten, publiziert zu werden. Die Stadtbibliothek besitzt neben kostbaren Atlanten aus dem 17. Jh. auch eine in Amsterdam gedruckte Erstausgabe von Baruch de Spinozas „Tractatus theologico-politicus“ aus dem Jahre 1670. Vilas spannte in ihrem Vortrag einen weiten Bogen bis in die heutige Zeit und verwies unter anderem auf Irvin Yaloms Auseinandersetzung mit Spinoza. Es war ein ganz besonderes Erlebnis, die historischen Werke zu betrachten und, nach dem kenntnisreichen und spannenden Vortrag, in die Hand nehmen und darin blättern zu können.

 

Das anschließende Referat von Marja Clement, die an der Universität von Amsterdam doziert, fand ebenfalls eine diskussionsfreudige Zuhörerschaft: Clement zeigte den Stellenwert des Niederländischen zwischen dem Englischen und dem Deutschen auf und präsentierte zahlreiche grammatikalische Beispiele. Zusammen mit den Deutschschweizern seien die Holländer die Weltmeister im Verwenden von Diminutiven. Viele Wörter waren zu bestaunen, unter anderem „Zwitserlevengevoel“ – das spezifische Schweizerische Lebensgefühl -, „lekker wertje“ (schönes Wetter) und „een dutje doon“ (ein Schläfchen machen). Clement zeigte die Herkunft des Niederländischen aus der indoeuropäischen Sprachfamilie und dem Urgermanischen auf. Das Niederländische werde keineswegs „von ein paar Wenigen“ gesprochen – es gebe allein 22 Millionen Muttersprachler. Außerdem verwies Clement auf die Bedeutung der niederländischen Sprache für Belgien, Surinam, die Karibischen Inseln und Südafrika (Afrikaans als Tochtersprache). Sie machte deutlich, wie stark Sprache und Emotion miteinander verknüpft sind, was schon darin zum Ausdruck kommt, dass wir von unserer „Muttersprache“ reden und Sprache als Heimat empfinden. Sprache sei ein lebendiger Organismus, in steter Verwandlung und Transformation begriffen.

 

Am Samstagabend präsentierten Gerbrand Bakker und Saskia de Coster ihre aktuellen Werke. Bakker, dessen Roman „Oben ist es still“ in 30 Ländern veröffentlicht wurde, las aus „Jasper und sein Knecht“, einer „Art Tagebuch“ ohne eigene Genre-Bezeichnung, das erzählende und autobiografische Momente in sich vereint. Schwerpunkte der von Ulrich Probst moderierten Lesung waren der Literaturbetrieb, die Unsichtbarkeit der Depression sowie poetisches Schreiben über die Natur, das in literarische Selbstreflexion übergeht.

 

Saskia de Coster, die zu den renommiertesten und erfolgreichsten Autorinnen Belgiens gehört, las aus ihrem aktuellen Roman „Wir & ich“, einer „Chronik der ererbten Verzweiflung innerhalb einer flämischen Familie“: In der Villengegend „Der Berg“ spielt sich hinter hohen Hecken das neurotische Leben der Familie Vandersanden ab. Mutter Mieke kämmt Teppichfransen, Vater Stefaan hat für jede Lebenssituation einen passenden Dylan-Song parat und Tochter Sarah muss Besuch von Schulfreunden zwei Wochen im Voraus anmelden. Für ihren Roman, bemerkte de Coster, habe sie „achtzehn Jahre recherchiert“ – sie wuchs in einer ebensolchen Villa auf dem Berg auf. Ihre Familie hat sie mit diesem Buch verärgert, von ihrer Schwester wird sie als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet. Im Gespräch machte sie klar, wie es ihr um den Stellenwert des Ich innerhalb des Wir (der Familie, der „Ketten von Genen“) geht: „Man muss leben – das Leben muss durchgehen!“ Außerdem erzählte sie von Elfje, ihrem Mops, der „immer da ist“ und als erster de Costers neue Texte hört. Wenn sie ohne Elfje verreist, hat sie deren Schnarchen als Audiodatei immer dabei. Nur in Anwesenheit von Elfjes Schnarchen kann sie schreiben.

 

Tiere spielten auch in den Gesprächen des letzten Literaturtags eine Rolle: Hanspeter Müller-Drossaart eröffnete das Gespräch mit Bakker, de Coster und Bettina Spoerri über Film und Literatur mit der Frage, welches Tier man am liebsten wäre. Nach einem kurzen Seitenblick auf das parallel stattfindende „Zürich liest“ und die Diskussionen um Bärfuss und Stamm diskutierte Müller-Drossaart mit den Autoren über die jeweiligen Qualitäten des filmischen und des literarischen Mediums und über Grenzen und Möglichkeiten von Literaturverfilmungen. Alle drei Autoren wurden durch Filme geprägt – durch deren Atmosphärisches, durch filmische Architekturen und Filmmusik. Für die Arbeit an einem Film spiele Team-Arbeit eine wesentliche Rolle, wohingegen die Schriftstellerei eine einsame Tätigkeit sei – „eine Person und viele Wörter, das ist die Schriftstellerei“, brachte de Coster es auf eine prägnante Formel.

 

Die Literaturtage in Zofingen haben Lust gemacht auf mehr – mehr Bücher, mehr Begegnungen, mehr Autoren und Geschichten. Sie haben faszinierende und intime Einblicke gestattet, inspiriert und Impulse gesetzt. Die herzliche Atmosphäre und das schöne Ambiente lassen schon jetzt Vorfreude auf die Literaturtage 2017 aufkommen!

Katja Hachenberg

Infos zur Autorin: www.katja-hachenberg.de und www.literaturport.de/Katja.Hachenberg/

Die Bilder zeigen Impressionen vom Festival (Quellen: PD und uha)