von: Jill Grey
1. März 2022
© Buchcover
Kapitel 1
1
Vollkommen verstört stand Linda auf der verlassenen Hauptstraße von Yukon. Der Wind trug verdorrtes Gestrüpp über die Straße, aus welcher Unkraut aus zahlreichen Rissen herauswuchs. Hinter ihr schlug ein Fensterladen gleichmäßig im Wind auf und zu. An diversen Fenstern waren die Scheiben eingeschlagen. Fahrzeuge, die vereinzelt am Straßenrand standen, schienen seit Jahrzehnten unbenutzt – Mahnmale längst vergangener Zeiten.
»Hallo?« Lindas Rufe waren zaghaft. »Hallo? Ist da denn niemand?« Diesmal war ihre Stimme lauter, wenngleich auch Angst darin mitschwang. Kein Mensch antwortete ihr. Sie ging ein Stück die Straße hinunter. Wie konnte das sein, die Geschäfte und Häuser ihrer Heimatstadt machten den Anschein, dass Yukon zu einer Geisterstadt geworden sei.
Das ist sie, Linda Berger. Yukon ist eine Geisterstadt, und unzählige Städte werden ihrem Beispiel folgen, weil du sie im Stich gelassen hast! Siehst du die toten Babys, Linda?
Welche toten Babys?, schoss es ihr durch den Kopf.
Sieh hin!
Linda wandte sich den Häusern zu, und wirklich, auf den Türschwellen lagen sie, die toten Babys …
»Lin … wach auf!«
Mit einem Schrei schreckte sie aus dem Schlaf. Ihr Herz raste und sie konnte weiterhin die toten Babys sehen. »W-was …«, stotterte sie und versuchte sich zu orientieren.
»Du hast geträumt, war wohl ein Albtraum.« Dennis beäugte sie neugierig. »Erzähl mir davon, ich mag gruselige Geschichten.«
»Nein, lass uns weiterschlafen.«
»In einer halben Stunde geht sowieso der Wecker, wir könnten …« Ein lüsternes Grinsen breitete sich über Dennis’ Gesicht aus, während er seinen Körper an ihren drückte und sie küssen wollte.
»Lass das, zum einen habe ich keine Lust und davon abgesehen ist es mir zuwider, unseren Morgenmundgeruch auszutauschen.«
»Mir ist das schnurzegal, wenn ich scharf bin.«
»Dann leg selbst Hand an oder geh kalt duschen«, antwortete sie genervt, drehte sich um und zog die Decke bis unters Kinn, fragte sich, weshalb sie Dennis erlaubt hatte, sich in ihrem Appartement einzunisten. Sie hatte es getan, weil ihre beste Freundin den Standpunkt vertrat, dass es mit vierunddreißig Jahren angebracht wäre, eine feste Bindung einzugehen.
An diesem Morgen jedoch erkannte Linda, dass diesen Rat zu befolgen ein fataler Fehler gewesen war und den wollte sie korrigieren. Doch vorher hatte sie ein wichtiges Meeting mit einem Künstler. Bedauerlicherweise waren diese Künstler nicht selten ungemein exzentrisch. Sie an Land zu ziehen war relativ leicht, ihren Wünschen für die Ausstellungen gerecht zu werden, das war Schwerstarbeit. Zugegeben hatte Linda wenig Kenntnis von Kunst, dafür hatte sie einen untrüglichen Instinkt für Menschen, ob Künstler oder Käufer. Das hatte ihr Boss und Inhaber der Galerie, Don Dishorn, ebenfalls erkannt und ihr vor fünf Jahren ein gutes Angebot unterbreitet. Zwei Jahre später kamen die Provisionen dazu.
Die Galerie D.D in Downtown von Minneapolis war der Geheimtipp bei den gutbetuchten Leuten des Landes. Stellte ein Künstler in den Räumlichkeiten aus, kamen sie in Scharen, um sich ein Objekt zu sichern. Man konnte die Reichen hierbei mit Schulkindern vergleichen, hatte ein Kind ein neues Computerspiel, wollten es alle haben.
»Komm schon Babe, bloß ein Quickie, ich spül mir auch rasch den Mund aus.«
Jetzt schlug Linda die Bettdecke zurück, stand auf und fuhr ihren Freund an: »Weißt du was? Es wäre besser du gehst dahin zurück, wo du hergekommen bist.«
»Ich soll zurück zu meiner Mutter?«
»Du könntest dir auch eine eigene Wohnung suchen.«
»Wohnungen in dieser Stadt sind schweineteuer«, maulte Dennis. »Was ist los mit dir? Wir sind erst ein paar Wochen zusammen und haben schließlich tollen Sex?«
»Nur mit gutem Sex kann keine Beziehung überleben. Und ich lebe lieber allein. Zudem schnarchst du und das nicht zu knapp.«
Im Bad überlegte sie, dass sie ihr Anliegen wenig diplomatisch rübergebracht hatte als vorgehabt, aber die Diplomatie hob sie sich lieber für die Künstler auf. Der Sex mit Dennis war tatsächlich gut, darüber hinaus gab es allerdings absolut nichts, was sie verband. Abgesehen davon liebte sie ihn nicht. Linda hatte sich bislang noch nie richtig verliebt.
Sie kam in die Küche, Dennis stellte ihr eine Tasse Kaffee hin, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute sie mit unnachgiebiger Miene an.
»Was?«
»Das fragst du mich? Du hast mich soeben, ohne mit der Wimper zu zucken, rausgeworfen.«
»Tut mir leid, ich bin kein Morgenmensch.«
»Und du bist kalt wie eine Hundeschnauze.«
»Ich sagte doch es tut mir leid. Wirfst du den Schlüssel in den Briefkasten, wenn du gehst?«
Dennis hob resigniert die Arme. »Mach ich. Und keinen Quickie mehr, sozusagen zum Abschied?«
Sie stellte die Tasse ins Spülbecken, nahm ihre Schlüssel und antwortete: »Grüße deine Mutter von mir.«
»Du kennst sie ja gar nicht?!«
Linda Berger hatte eine Wohnung mit drei großen Zimmern im Mills Bezirk im Osten von Minneapolis. Hier wurden alte Mühlen in Wohnblöcke umgebaut. Die Gegend war keinesfalls berauschend. Letztendlich hatte sie die Aussicht auf den Mississippi überzeugt. Um nach Downtown zur Galerie zu gelangen, nahm sie jeden Tag den Metro Transit Bus. Sie hasste es, sich mit dem Wagen durch den Verkehr zu quälen, so hatte sie am Morgen und Abend Gelegenheit die Zeitung zu lesen.
Um neun Uhr betrat sie die Galerie, wo ihr Boss bester Laune war. »Linda, da bist du ja, und du siehst heute wieder umwerfend aus!«
Es hatte zwei Jahre gedauert, bis Don seine Avancen aufgab. Er hätte ihr Vater sein können, doch kannte man seine Frau, Marlene, erübrigten sich Fragen bezüglich seines Verhaltens. Marlene war eine Hypochonderin, im Körper wie im Geiste. Ihre besten Freunde waren Ärzte und Therapeuten. Seit Generationen war ihre Familie wohlhabend und erst ihre Beziehungen hatten Don in Sphären gehoben, in denen er sich seit seiner Heirat auf gleicher Höhe mit der Oberschicht bewegte.
»Danke, Don, du siehst hingegen übernächtigt aus.«
Er verwarf die Hände und stöhnte: »Marlene, heute Nacht glaubte sie Anzeichen für einen Gehirntumor zu erkennen. Ich sollte ihr den Internetzugang sperren lassen, den ganzen Tag verbringt sie mit Google und sieht sich irgendwelchen Mist an. Am Abend glaubt sie dann, bald sterben zu müssen.«
»Tut mir leid.« Das war ehrlich gemeint. Don war ein herzensguter Mensch und eines Tages würde seine Frau ihn krank machen. »Du kannst dich immer noch scheiden lassen.«
»Und alles verlieren? Nein. Okay, bist du bereit für den großen Elmore?«
»So bereit man für einen exzentrischen Maler sein kann.«
Um halb elf Uhr standen Don, Linda und Elmore im Hauptausstellungsraum, wo der Künstler nochmals die Wände begutachtete, an denen seine Werke demnächst ausgestellt werden sollten. Nun legte er den Zeigefinger an die Lippen und neigte bedächtig den Kopf zur Seite, flüsterte: »Dieses Weiß … es erscheint mir für den Hintergrund ein klein wenig zu weiß für meine Kunstwerke.«
Linda entging nicht, dass ihr Boss mit den Augen rollte. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und sagte: »Ihr Auge ist exzellent, Elmore, und ich kann Ihnen vollkommen beipflichten. Ihre Bilder würden von diesem Weiß geradezu erschlagen werden.«
»Ja, exakt! Sie, meine Liebste, haben es auf den Punkt gebracht! Sie verstehen mich, Miss Berger, Sie verstehen meine Kunst!« Er küsste ihre Hand. Dann musterte er ihr Gesicht. »Ihr markantes Kinn ist faszinierend, und die dunkelbraunen Locken, die es liebkosend umspielen, Ihre ganze Erscheinung beflügelt meine Fantasie!«
»Danke, ich fühle mich geschmeichelt.« Linda konnte ihren Boss ausatmen hören. Er konnte diesem Gehabe nichts abgewinnen, gleichwohl wusste er, dass Lindas Ausstrahlung jeden heterosexuellen Künstler beflügelte, und was noch wichtiger war, zähmen konnte.
»Elmore«, fuhr Linda in sanftem Ton fort, »unsere Galerie hat den Ruf, jedem Künstler und seinen Werken gerecht zu werden. Sie informieren uns bis Morgen, für welches Weiß Sie sich entschieden haben und wir lassen den Raum für Sie und Ihre Werke neu streichen.«
Sofort öffnete ihr Boss den Mund, er dachte vermutlich einzig an die zusätzlichen Kosten.
»Miss Berger, Sie sind ein wahrhaftiger Engel.« Ein Seufzer und letzter Blick auf die weißen Wände. »Ja, ich werde Ihnen meine Entscheidung bis Morgen zukommen lassen. Es wird wunderbar, einfach wunderbar!«
»Das wird es, Elmore.« Linda machte sich eine weitere Notiz. »Um Ihnen jegliche Unannehmlichkeiten zu ersparen, verrechnen wir die Kosten für den Neuanstrich am Ende mit Ihrer Provision.«
Die Stirn des Malers krauste sich. Doch Lindas offenes Lächeln besänftigte ihn augenblicklich, es war unmöglich dieser Frau irgendetwas abzuschlagen.
»Tun Sie das, Miss Berger.«
Nachdem Elmore gegangen war, sagte Don anerkennend: »Ich bin jedes Mal beeindruckt, wenn du die Künstler weichklopfst. Die fressen dir buchstäblich aus der Hand. Dich einzustellen war die beste Entscheidung meines Lebens. Du verwandelst diese Bizarros in handzahme Hunde und schaffst es, jemandem eine Skulptur anzudrehen, die er zuvor als Altmetall bezeichnet hat.«
Genauso war es, und es bereitete ihr Spaß, den Reichen und nicht selten arroganten Kunden Dinge anzudrehen, die sie selbst nicht einmal in ihrer Abstellkammer aufhängen würde. Es bereitete ihr Freude, derlei Menschen zu manipulieren und sie dazu zu bringen, ihr Checkheft aus der Tasche zu holen. Jeder, der in die Galerie kam, verfügte über die Mittel, sich die Kunst zu leisten, welche die Ausstellungsräume anboten.
»Wollen wir einen Happen Essen gehen?«, fragte ihr Boss.
»Es tut mir leid, ich bin heute mit Karen verabredet.«
»Oh, es ist Mittwoch?«
»Ja, Don, heute ist Mittwoch. Du solltest gelegentlich mal in deine Agenda schauen.«
»Wozu, du schmeißt den Laden praktisch ohne mich.«
»Und sollte ich irgendwann gehen, wärst du angeschmiert.«
»Du überlegst dir zu kündigen?« Sogleich entglitten ihrem Arbeitgeber sämtliche Gesichtszüge.
»Nein, aber es wäre gut, wenn du dich auf dem Laufenden hältst, damit du ohne mich eben nicht auf die Schnauze fällst.« Sie stand auf. »Fang fürs Erste bei den Wochentagen an«, zwinkerte sie ihm zu und verließ die Galerie.
2
Das kleine Restaurant, in dem sich Linda und Karen jeden Mittwoch zum Lunch trafen, war auch heute voll besetzt. Der Inhaber, ein Freund von Karen, reservierte ihnen jeden Mittwoch einen kleinen Tisch in einer abgelegenen Nische. Linda ging auf die Nische zu, wo ihre Freundin ihr freudig zuwinkte.
»Na endlich, ich bekam langsam Angst, du versetzt mich.«
»Die Besprechung hat länger gedauert.«
»Wieder so ein verrückter Künstler?«
»So sind sie nun einmal, manche zumindest, was außerdem den Verkauf fördert. Die Reichen mögen es, wenn die Künstler Divas sind.«
Sie bestellten ihr Essen, ein Glas Wein und tauschten Neuigkeiten aus. Nebenbei beschwerte sich Karen über die Kälte. Linda ersparte es sich, ihre Freundin, die ihr Leben lang in Minneapolis lebte, darauf hinzuweisen, dass in diesen Gefilden im Januar Minustemperaturen die Norm waren. Als sie zum Kaffee übergingen, wollte Karen ihre Neugier stillen.
»Und? Wie lebt es sich so in einer Partnerschaft unter einem Dach? Du hast noch kein Wort über Dennis verloren.«
»Da gibt es nichts mehr zu sagen, ich habe ihn heute Morgen vor die Tür gesetzt.«
»Jetzt schon?«
»Es waren immerhin fünf Wochen.«
»Ich fand ihn ganz nett.«
»Und oberflächlich«, ergänzte Linda.
»Na ja, kommt darauf an was zählt. Im Bett hat er es doch gebracht.«
»Ich bezweifle, dass ich nur von Sex intellektuell satt werde.«
»Da ist was dran. Und wie hat er es aufgefasst?«
»Er meinte, ich sei kalt wie eine Hundeschnauze.«
Ihre Freundin prustete los. »Das hat er gesagt?«
»Ja, und ich habe früher ähnliches zu hören bekommen.« Sie lehnte sich vor. »Karen, wir kennen uns fast zehn Jahre. Denkst du das auch?«
»Nein. Aber was die Männer betrifft, da bist du absolut unnahbar und verwehrst jedem die Möglichkeit, dich besser kennenzulernen.«
Linda zeichnete mit dem Löffel das Muster der Tischdecke nach und schwieg.
»Und spricht man dich diesbezüglich an, hüllst du dich in Schweigen.«
Lindas Handy klingelte. Sie holte es aus der Tasche und starrte mit versteinerter Miene auf das Display.
»Willst du nicht rangehen?«
»Nein …«
»Du siehst aus als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Kommt der Sache ziemlich nahe. Das war mein Großvater …«, antwortete sie gedankenverloren und steckte das Telefon zurück in ihre Tasche.
»Dann lebt, abgesehen von deinem Bruder, mit den du nicht mehr sprichst, noch ein Verwandter?«
»Ja. Karen, übernimmst du heute die Rechnung? Ich muss gehen.«
Benommen lief Linda in die Galerie zurück. Sie hatte seit sechzehn Jahren kein Wort mehr mit ihrem Großvater gesprochen. Genau genommen seit sie die Kleinstadt Yukon, wo sie aufgewachsen war, mit dem Vorsatz hinter sich gelassen hatte, niemals mehr dorthin zurückzukehren. Mit Patrick, ihrem Bruder, hatte sie danach ein paar Jahre losen Kontakt. Ein Kontakt, der sie schwerlich vergessen lassen wollte, woher sie kam. Erneut klingelte ihr Handy, ohne auf das Display zu schauen schaltete sie das Gerät ganz ab.
Am Nachmittag setzte sie den Vertrag für Elmore auf und fertigte einen ersten Entwurf für die Einladungen der Vernissage an. Es fiel ihr schwer sich zu konzentrieren und beharrlich tauchte die Frage auf: Weswegen ruft er mich an?
Um vier Uhr schaltete sie in der kleinen Küche ihr Handy ein und wählte Ralphs Nummer. Der musste sich neben dem Telefon aufgehalten haben, nach dem ersten Freizeichen war seine Stimme zu vernehmen, die trotz seiner annähernd neunzig Jahren klar und forsch klang: »Linda? Bist du es?«
»Ja.«
»Schön hast du dich noch entschieden, mit mir zu sprechen.«
»Das habe ich nicht vor, ich will wissen, warum du anrufst. Ist etwas mit Patrick?«
Eine Pause entstand, dann, ganz leise: »Lin, dein Bruder ist tot.«
»Was … was ist geschehen?«
»Verkehrsunfall. Er war betrunken und hat die Herrschaft über den Wagen verloren. Er konnte, gleich deinem Vater, schlecht damit umge …«
»Ich will es nicht hören«, fuhr sie ihm schroff ins Wort.
»Das solltest du aber. Ein Leben für ein Leben, Linda, und du bist jetzt die letzte Berger!«, entgegnete ihr Großvater resolut.
»Ralph, ich will es nicht hören!« Sie hatte längst aufgehört, ihn Großvater zu nennen.
Nun klang er versöhnlicher. »Linda, lass uns nicht streiten. Ich möchte dich bitten zu kommen, wir werden Patrick am Samstag hier in Yukon beisetzen. Komm und nimm mit mir Abschied von deinem Bruder. Ich bitte dich.«
Auch Ralph hatte die Gabe, sich in die Menschen einzufühlen und sie mit sanfter Stimme dorthin zu führen, wo er sie haben wollte und wo sie sich unmöglich herauswinden konnten. Genauso erging es seiner Enkelin. Ja, sie liebte ihren Großvater, gleichermaßen hatte sie nie aufgehört ihren Bruder und Vater zu lieben. Und diese Liebe wurde soeben mit sanften Worten aus der Tiefe emporgehoben, ohne dass sie etwas hätte dagegen ausrichten können.
Als ihr Vater vor sieben Jahren starb, war Linda zur Beisetzung nach Yukon zurückgekehrt, sie blieb gerade so lange, bis man seinen Sarg in der Grube versenkt hatte. Damals hatte sie sich geschworen, sich auf kein Gespräch einzulassen, weder mit ihrem Bruder noch mit Ralph. Und sie gab ihrem Großvater die Schuld, dass ihr Vater sich eine Waffe an den Kopf gehalten und abgedrückt hatte. Insofern gab sie jetzt ebenso ihm die Schuld, dass ihr Bruder volltrunken in den Tod gefahren war.
»Bist du noch dran, Liebes?«
»Ja«, antwortete sie heiser. »Ich werde kommen.«
»Ich erwarte dich am Freitag. Am Nachmittag kommt Paul vorbei, er möchte das Testament in deinem Beisein verlesen. Linda, es gibt nur noch dich …« Letzteres war vielmehr ein Flüstern.
Ohne ein Wort darauf zu erwidern, trennte sie die Verbindung. Es entsprach der Wahrheit, Lindas Mutter starb bei ihrer Geburt. Ihre Großmutter starb, da war sie neun Jahre alt. Ralph war überaus betrübt, dass seine Frau ihm lediglich ein Kind, einen Sohn, schenken konnte.
»Linda, ist alles in Ordnung?« Don war in die kleine Küche getreten.
»Was …?«
»Alles in Ordnung? Du bist blass.« Er sah auf das Handy in ihrer Hand, welches sie so fest umklammert hatte, dass ihre Fingerknöchel weiß waren. »Schlechte Nachrichten?«
»Ja … mein Bruder ist tot …« Linda hatte sich während des Gesprächs mit ihrem Großvater bemüht, die Fassung zu wahren, doch jetzt, als sie die mitfühlenden Augen von Don bemerkte, brach sie in Tränen aus.
»Mein armes Kind, komm …« Er nahm sie in die Arme und ließ sie weinen. Später machte er Kaffee und zog Linda zu der kleinen Sitzgruppe hinten in der Galerie. »Was ist geschehen? Ich muss gestehen, ich war ahnungslos, dass du einen Bruder hast. Im Prinzip weiß ich wenig von dir. Ich … ich möchte dir sagen, ich bin für dich da und ich bin ein guter Zuhörer.«
»Danke. Es war ein Verkehrsunfall. Mein Bruder und ich hatten in den letzten Jahren …, wir hatten unsere Differenzen.« Sie nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf den Tisch zurück und informierte ihn über ihre Abreise.
»Selbstverständlich, nimm dir alle Zeit die du brauchst, ein paar Tage oder eine Woche. Hier wird wahrscheinlich das Chaos ausbrechen und die Leute nach dir schreien, aber irgendwie werde ich das schaffen.«
Sie schenkte ihm ein freudloses Lächeln. »Das wirst du. Im Notfall habe ich mein Telefon und Laptop mit.«
»Du meinst, falls Elmore sich plötzlich entschließt, dass sein neues Weiß zu wenig weiß ist und er in eine Hysterie verfällt?«
»So ungefähr«, lachte sie ehrlich und stand auf.
»Kann ich irgendetwas für dich tun? Egal was, sag es mir.«
»Danke, da muss ich selbst durch.« Sie küsste ihn auf die Wange, holte ihre Tasche und Jacke und verließ die Galerie.
Im Bus auf dem Heimweg blickte Linda hypnotisiert aus dem Fenster. Eine Station vor ihrer Haltestelle entschied sie sich den Rest zu Fuß zu gehen, sie brauchte frische Luft und die Kälte war für einmal wohltuend, fühlte sich reinigend an.
Zu Hause angekommen – Dennis hatte wie vereinbart den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und nichts im Appartement deutete mehr darauf hin, dass er ein paar Wochen hier gelebt hatte – nahm sie eine Stunde lang ein heißes Schaumbad, hin- und hergerissen zwischen Trauer und Wut. Und da war Schuld, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnte, die Schuld ihren Bruder im Stich gelassen zu haben. Vor ein paar Monaten hatte er ihr eine Nachricht hinterlassen, sie möge ihn bitte zurückrufen. Er sagte in etwa: ›Lin, ich glaube, ich verliere den Verstand.‹
Sie hatte die Nachricht gelöscht, ohne zurückzurufen. Jetzt flüsterte sie unter Tränen: »Mein Gott, Patrick, es tut mir so leid …«
Auch in dieser Nacht fand sich Linda auf der verlassenen Straße von Yukon wieder, wo sie nach den Einwohnern der Kleinstadt rief und nicht begreifen konnte, was hier vorgefallen war. Sie eilte zu Coopers Eisenwarenladen. Ein Schild an der Tür teilte ihr mit: Bis auf weiteres geschlossen! An anderen Geschäften hingen ähnliche Schilder, manche Fenster waren mit Brettern verbarrikadiert, andere eingeschlagen. Ihre Heimatstadt war zu einer Geisterstadt geworden.
Es sind die Babys, Linda, sie sterben … sieh hin…!
Und da waren sie wieder, die toten Babys, sie lagen vereinzelt auf Türschwellen und schauten sie mit starren, toten Augen an. Mit einem Schrei wachte Linda auf und suchte mit zitternder Hand nach dem Schalter der Nachttischlampe. Sanftes Licht durchflutete das Schlafzimmer, erleichtert stieß sie die Luft aus und zischte: »Verflucht seist du, Ralph!« und schlug energisch die Bettdecke zurück, stand auf und schlüpfte in ihren Morgenmantel. In der Küche goss sie sich ein Glas Milch ein. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es drei Uhr fünfzehn war. Sie setzte sich in den Sessel vor dem Wohnzimmerfenster und blickte hinaus in die Dunkelheit.
›Linda, es gibt nur noch dich.‹ Das waren Ralphs Worte. Sie hatten ein Tor in ihr geöffnet, welches sie vor sechzehn Jahren bewusst verschlossen hatte.
Linda Berger sprach nie über ihre Familie, beziehungsweise ihre Vergangenheit, weil sie beides mit aller Kraft verdrängt hatte. Was ganz passabel funktioniert hatte, bis ihr Vater sich das Leben nahm. Und jetzt, wo Patrick tot war …, war es wirklich ein Unfall in betrunkenem Zustand gewesen? Oder wollte sich ihr Bruder das Leben nehmen?
›Ich glaube ich verliere den Verstand.‹ Das waren seine letzten Worte gewesen.
Ein Teil von Linda wollte mitnichten zur Beerdigung gehen, wollte nichts mehr mit dieser Stadt, ihren Bewohnern zu schaffen haben, allem voran ihrem Großvater. Es war offenkundig, was er von ihr erwartete. Was die Stadt von ihr erwartete. Ja, sie war die letzte Nachfahrin der Bergers, einer Familie, die ein ganzes Dorf im Schlepptau, vor vierhundert Jahren aus Deutschland auf diesen Kontinent geflüchtet war. Leider hatte diese Flucht ihnen nicht geholfen, der Fluch, der auf jenem Dorf und insbesondere ihrer Familie lastete, hatte sie verfolgt. Ein Fluch, der vor vielen Jahrhunderten ausgesprochen worden war und das Dorf und seine Nachkommen seither verfolgte.
3
Seit zehn Jahren arbeitete Bryan Craven als Detective bei der Mordkommission in Minneapolis, und er konnte nicht von sich behaupten, dass ihm der Job mit den Jahren besser gefiel, das Gegenteil traf eher zu. Mit jeder Woche wurde seine Sehnsucht größer, in einer Kleinstadt zu leben und Parkbussen zu verteilen, den restlichen Tag würde er in seinem kleinen Büro hocken und Bücher lesen und sich mit einem Partner, falls vorhanden, über belanglose Dinge unterhalten. Craven sehnte sich danach eine ruhige Kugel zu schieben. Er hatte es satt an Tatorte gerufen zu werden, wo er Menschen mit aufgeschnittener Kehle und Schusswunden ansehen musste. Oder schlimmer, wie gestern, einen Obdachlosen, der von einem Irren mit Benzin überschüttet und dann angezündet wurde. Bryan glaubte auch noch nach vierundzwanzig Stunden diesen Geruch nach verbranntem Menschenfleisch in der Nase zu haben.
Bereits im Kindesalter hatte er sich gewünscht, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, der sein Vorbild war. Er träumte davon, den Schwachen zu helfen und die Bösen hinter Gitter zu bringen. Er träumte von einer besseren Welt. Die Realität sah letztlich anders aus als die Träume eines kleinen Jungen.
»Und? Sind wir mit der Grillwurst schon weitergekommen?«
Die Frage hatte sein Partner gestellt, Greg Fuller, der mit zwei Kaffeebechern an seinen Tisch gekommen war. Einen stellte er Craven vor die Nase. Fuller hatte ein beachtliches Defizit, was Taktgefühl anbetraf. Er war abgebrüht und konnte mit seiner sarkastischen Ader den Dreck dieses Jobs besser verkraften. Ungeachtet dessen konnte Bryan dem absolut nichts abgewinnen. Mehr noch, an manchen Tagen widerte ihn sein Partner gelinde gesagt an. Und das war ein solcher Tag.
»Sein Name war Evan Koller!«, gab er gallig zurück.
»Dennoch sah er wie eine Grillwurst aus, lag auch dementsprechend gekrümmt da. Also, was haben wir bis jetzt?«
»Wir haben nichts. Fünf Stunden Befragung und kein Mensch will was gesehen, sprich, gehört haben.«
»Was kein Wunder ist in dieser Gegend, wo sich fast ausschließlich Dealer, Süchtige, Obdachlose und Straßennutten herumtummeln.«
Zu Cravens Leidwesen musste er ihm hierbei zustimmen. Bryan war heute morgen an den Tatort zurück gegangen und hatte in den umliegenden Blocks abermals an Türen geklopft, vorwiegend bei denen, die am Abend verschlossen geblieben waren. Ohne Erfolg. Die Leute, die hier lebten, wollten keine Bullen in ihrem Viertel, geschweige denn wollten sie Ärger mit den Leuten, die besagte Bullen hier nicht haben wollten. Demnach sieht und hört man nichts, was einem Ärger einbringen könnte. Aus welchem Grund jemand einen Obdachlosen auf so grausame Weise tötet, konnte er nicht nachvollziehen. Außer man wollte eine Warnung aussprechen. Ein weiterer Beweggrund konnte sein, dass der Obdachlose jemandem ungewollt in die Quere gekommen war. Greg und er hatten vor einer Woche einen toten Dealer in der Gegend. Sie vermuteten, dass der arme Teufel beobachtet hatte, wer den Dealer aus dem Weg geräumt hatte.
»Was macht eigentlich deine Freundin?«, erkundigte sich Fuller, der sich ihm gegenüber an seinen Schreibtisch gesetzt hatte und lustlos in einer Akte herumblätterte.
»Du meinst Ex-Freundin.«
Just linste Fuller zu ihm rüber. »Ihr habt euch getrennt? Wie hieß sie, Sonja?«
»Katja. Und ja, sie hatte es satt, sich mit meinen chaotischen Arbeitszeiten zu arrangieren.«
»O ja, das kann zu einem Problem werden. Deshalb hab ich meine letzte Freundin geheiratet, in der Hoffnung, so könnte es besser hinhauen.«
»Hat ja bestens funktioniert, wenn man bedenkt, dass du eine Exfrau und zwei Kinder hast, die du bei seltenen Gelegenheiten siehst.«
»Und dass ich reichlich Alimente für diesen Irrtum abdrücke. Aber was soll’s, ich lieb meine Kinder und seit Sybille einen festen Freund hat, ist sie um einiges umgänglicher«, grinste sein Partner und widmete sich wieder der Akte.
Craven konnte keinesfalls leugnen, dass er Pech in der Liebe hatte. Er war in diesem Monat siebenunddreißig geworden und Universen davon entfernt, eine Ehe einzugehen. Wenn er eine feste Beziehung am Laufen hatte, was eher die Ausnahme war in Bezug auf ›fest‹, hatten diese ein kurzes Verfallsdatum. Zu Beginn waren die Frauen fasziniert von seiner Arbeit und beklagten sich nicht, wenn er erst in der Nacht heimkam oder eben überhaupt nicht. Ergo wich die Faszination alsbald der Resignation. Zugegebenermaßen war Bryan Craven nicht unbedingt der Typ Mann, der zum Kuschelbär mutierte. Und war er an einem Fall dran, empfanden ihn seine Freundinnen distanziert und unzugänglich. Ja, Bryan konnte sich in seine Fälle verbeißen wie ein Hund in einen Knochen. Und kam nichts dabei heraus, konnte er enorm grantig werden. Vielleicht musste er noch die passende Frau finden, bei der es sich lohnen könnte, sich in diesem Ding, genannt Beziehung, ins Zeug zu legen.
Bis anhin war er keiner begegnet, bei der es sich gelohnt hätte, alles zu geben. Und wer weiß, eventuell würde er nach weiteren zehn Jahren in diesem Job so enden wie sein Partner, dann hätte sich, aus seiner Sicht, das Ding mit einer festen Beziehung erledigt, denn Bryan konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Frauen Gefallen an solch unsensiblen Typen fanden, die sich mehr und mehr gehen ließen, wie es Greg Fuller seit seiner Scheidung handhabte.
Versonnen nahm er einen Schluck Kaffee. Zurzeit spielte sich sein Leben auf der Schattenseite ab. Er mochte seinen Job nicht mehr, und seinen Partner, der wiederum seinen Job hasste. Dasselbe galt für die Stadt, in der er lebte.
4
Den Donnerstagmorgen verbrachte Linda in der Galerie und beauftragte die Maler, nachdem Elmore ihr seine Wünsche telefonisch mitgeteilt hatte. Am Nachmittag packte sie daheim eine Reisetasche und legte sich um fünf Uhr ins Bett. Sie hatte knapp 900 Kilometer vor sich – an die 8 Stunden Fahrt. Natürlich hätte sie den Flieger nehmen können, sie war jedoch kein Fan vom Fliegen, zudem wollte sie die Fahrt nutzen, um sich zu sammeln und auf Ralph vorzubereiten.
Um Mitternacht fuhr sie aus der Stadt Richtung North Dakota. Yukon, die Kleinstadt, die kaum jemand kannte, lag an der kanadischen Grenze oberhalb von Minot und beherbergte knapp 2500 Seelen, das war jedenfalls der Stand vor ein paar Jahren, war man auch stetig darum bemüht, die Einwohnerzahl tief zu halten. Und Auswärtige, die wollte man in Yukon erst recht nicht, dementsprechend behandelte man sie, um eine mögliche Niederlassung zu unterbinden. Desgleichen Touristen, die sich in das kleine Nest verirrten, die wurden keineswegs mit offenen Armen empfangen, und um sie nicht zu ermutigen, länger zu verweilen, gab es kein Motel oder sonstige Übernachtungsmöglichkeiten.
Die Kleinstadt versuchte, sich weitmöglichst selbstständig zu versorgen. Es gab einen Arzt, ein kleines Krankenhaus, einen Veterinär, zwei Restaurants, zwei Bars, ein Kino, Kindergarten, Schule und eine Kirche – alle Einwohner waren ausnahmslos katholisch. In Yukon konnte man alles bekommen, hatte man gute Schuhsohlen und die Geduld, diverse Krämerläden aufzusuchen. Die Stadt hatte darüber hinaus eine Poststelle, welche von Pius und seinem Sohn Dillen betrieben wurde. Dillen fuhr jeden Morgen mit seinem Lieferwagen zur Brücke außerhalb der Stadt, wo er Briefe und Pakete von einem Zulieferer übernahm, welche dann im Postbüro von Vater und Sohn sortiert und anschließend verteilt wurden. Dasselbe wurde von den Krämerläden so gehandhabt, Sendungen wurden stets bei der Brücke in Empfang genommen und weitergegeben. Man handhabte das so, seit Linda denken konnte.
Wie gesagt, in Yukon konnte man auf Auswärtige verzichten, dazu gehörten auch Lieferanten. Diese Kleinstadt war irgendwo in der Zeit stehen geblieben, so sehr, dass man außerhalb fast vergessen hatte, dass sie existierte.
Nach ein paar Stunden Fahrt stellte Linda gegen vier Uhr am Morgen ihren Wagen neben einen Tankstellenshop und legte sich für eine halbe Stunde auf die Rückbank. Fast augenblicklich glitt sie in den Schlaf, in dem Erinnerungen längst vergangener Zeiten sie einholten.
»Lin, dein Großvater möchte mit dir sprechen.«
Ihr Vater, Bruce, war in den Garten gekommen. Sie folgte ihm ins Wohnzimmer, wo Ralph und ihr Bruder auf sie warteten. Ralph klopfte neben sich auf die Couch und sagte sanft: »Setz dich, mein Kind.« Sie tat wie ihr geheißen, schielte unsicher zu ihrem Bruder und Vater und überlegte fieberhaft, ob sie was angestellt hatte.
»Hab keine Angst, alles ist gut«, beruhigte sie ihr Vater.
»Linda«, eröffnete Ralph seine Ansprache, »du bist jetzt zehn Jahre alt, alt genug, um die Geschichte deiner Familie und Ahnen zu erfahren.«
Sie hatte von dieser Geschichte gehört, die nur innerhalb der Familien der Stadt weitergegeben werden durfte. »Ich darf die Geschichte endlich hören?« Die kleine Linda freute sich sehr.
»Ja. Aber du darfst mit niemandem außerhalb darüber sprechen, niemals!« In diesen Worten ihres Großvaters lag so viel Schärfe, dass sie dem Kind durch Mark und Bein gingen. Sie schluckte leer und versprach es.
Ralph lehnte sich zurück und begann zu erzählen: »Vor vielen hundert Jahren lebten unsere Vorfahren im heutigen Deutschland, du weißt, wo das liegt?«
»In Europa.«
»Korrekt. Ihr Dorf lag an einem Fluss in der Nähe eines großen Waldes, in dem sie jederzeit genügend Wild erlegen konnten. Die Erde war fruchtbar und es mangelte ihnen an nichts. Mein Vorfahre, sein Name war Gunar, war der Stammesälteste, ein weiser und geachteter Mann. Wo andere Stammesälteste die Männer in den Krieg führten oder sich gegen die Römer zur Wehr setzten, lebte er mit seiner Gemeinde in Frieden und hielt sich aus jeglichen Konflikten heraus, was ihm Freunde, und gleichermaßen Feinde bescherte, da die Stämme sich gerne zusammentaten, wenn sie in den Krieg zogen.
In Gunars Dorf waren Fremde allzeit willkommen, man gab ihnen ein Nachtlager und Essen. Eines Tages, der Winter brach herein, kam eine hochschwangere Frau des Weges, und auch sie wurde mit offenen Armen aufgenommen. Sie sagte, man habe sie aus dem Dorf verbannt, in dem sie für die Geburt Schutz suchen wollte, weil sie eine Heilerin und Magierin sei. Daraufhin wurde die Gemeinschaft hellhörig, denn Frauen und Männer, welche sich der Magie bedienten, durfte man auf keinen Fall unterschätzen, man hörte Gutes, aber auch Schlechtes. Gunars Frau ergriff das Wort und sagte, dass man die Frau unter keinen Umständen fortschicken könne, in Kürze würde das Land unter einer hohen Schneedecke liegen und es wäre barbarisch, eine hochschwangere Frau sich selbst zu überlassen. Und so entschied Gunar, ihr bis zum Frühjahr Schutz zu gewähren, dann sollte sie weiterziehen.
Drei Wochen später gebar Marla, so nannte sich die Frau, einen Sohn. Das ganze Dorf hatte sich – wie gewöhnlich, wenn ein Kind das Licht der Welt erblickte – in freudiger Erwartung des Kindes, und selbstredend des Festes, das auf jede Geburt folgte, versammelt. Dann kam die Hebamme aus dem Stall, wo die Frau ihr Lager hatte, bekreuzigte sie sich und berichtete, dass das Kind verkrüppelt sei – es sei verflucht. Dem Kind fehlten ein Arm und ein Fuß.
An diesem Tag folgte kein Fest auf die Geburt, stattdessen brach ein heftiger Disput aus und manch einer malte am selben Abend ein Zeichen an seine Tür, um den Fluch auszusperren.«
Die kleine Linda lachte. »Deine Vorfahren waren abergläubisch.« Sie wusste sehr wohl von dem Fluch, aber dass man sich wegen eines missgebildeten Kindes irgendwelche Zeichen an das Haus malte, fand sie lustig. Nicht so ihr Großvater, der seine Enkelin eindringlich anschaute und sagte: »Das waren sie, mein Kind. Und die Dorfgemeinde erfuhr später, dass man die Frau aus jenem Dorf gejagt hatte, weil sie angeblich eine andere Frau verflucht habe. Marla soll die Frau angeschrien haben: ›Ersticken sollst du an deiner Gehässigkeit!‹ Zwei Tage später erstickte die Frau an einem Stück Brot. O ja, Marla bediente sich der Magie, der Weißen und ebenso der Schwarzen. Wie dem auch sei, es war ein harter Winter und wäre nicht so viel Schnee gelegen und die Temperaturen bis auf minus 20 Grad gesunken, hätten die Dorfbewohner jener Frau Decken und Lebensmittel gegeben und sie weitergeschickt. Das war jetzt unmöglich, sie hätten sie in den sicheren Tod geschickt.
Dann erkrankte des Schmieds Frau an einer Lungenentzündung und starb. Es kam, vor allem im Winter, häufig vor, dass die Dorfbewohner krank wurden und mitunter starb jemand. Das sagte Gunar seiner Gemeinde, die es mit der Angst zu tun bekam und anfing, das Haus des Schmieds zu meiden, in dem jene Frau im Stall untergebracht war. Der Schmied selbst wollte, dass man die Frau anderswo unterbrachte, doch niemand war bereit ihr Unterschlupf zu gewähren. Und so blieb es an Gunar und seiner Frau, sie aufzunehmen.
Im Februar stürzte dann ein kleines Mädchen, als sich ein Schneebrett löste, in den Fluss und ertrank. Kurz darauf wurde Gunars Bruder von einem Pferd getreten, sein Arm vom Huf zerschmettert, er überlebte, doch würde er nie mehr mit diesem Arm arbeiten können. Allein das war eine Tragödie, da jeder Mann gebraucht wurde und seine Aufgabe hatte. Gunars Bruder fällte Bäume und war mit drei anderen Männern verantwortlich, dass die Gemeinschaft im Winter genügend Feuerholz hatte.
Die Dorfbewohner drängten Gunar zu einer Versammlung. Sie waren jetzt überzeugt, dass über ihrem Dorf ein Fluch lag. Ja sogar das Wild, das man auch im Winter erlegte, war plötzlich verschwunden. Es wurde stundenlang hitzig geredet und schlussendlich waren sich alle einig, dass man die Frau und ihr verkrüppeltes Kind fortschicken musste. Gunar und seine Frau, die Marla in ihrem Stall untergebracht hatten, waren nach anfänglichem Zögern einverstanden. Sie wussten nicht viel von der Frau, da sie äußerst schweigsam war und genau ihre Verschwiegenheit beunruhigte sie. Gunars Frau war mit ihrem fünften Kind hoch schwanger und es ging ihr schlechter als bei den vorherigen Schwangerschaften, auch dies wies man als böses Omen.
Am nächsten Morgen teilte Gunar der Frau mit, dass sie gehen müsse. Er legte ihr ein Bündel mit Decken und Lebensmittel hin, sagte, das sollte ausreichen, bis sie das nächste Dorf erreiche. Marla weigerte sich zu gehen, sie würde da draußen erfrieren. Auch Gunar bezweifelte, dass sie kräftig genug sei, um ihr Baby so weit durch den Schnee zu tragen. Er hatte Mitleid mit der Frau, nichtsdestotrotz war der Wille der Dorfbewohner unmissverständlich. Er beschrieb ihr den kürzesten Weg zum nächsten Dorf, sprach ihr sein Bedauern aus und dass er keine Wahl hätte, da die Menschen im Dorf sich vor ihr fürchteten.
Am nächsten Morgen in aller Früh klopfte der Geistliche an Gunars Tür. Draußen hatte sich fast das ganz Dorf versammelt, die Bewohner riefen durcheinander und zeigten zu einer Hütte, die am Dorfrand stand und lichterloh brannte. Es war die Hütte einer alten Frau, die seit dem Tod ihres Mannes und der einzigen Tochter, allein in der Hütte lebte.
Gunar rannte mit den Leuten zur Hütte, tragischerweise kam für die alte Frau jede Hilfe zu spät. Die Dorfbewohner wollten wissen, wann die Hexe gegangen sei und ob das ihre Strafe dafür wäre, dass man sie weggeschickt hatte. Gunar konnte nicht sagen, wann sie gegangen war, sie war am Vorabend nicht mehr im Stall gewesen. Daraufhin suchte man in allen Hütten und Ställen, um sicherzugehen, dass die Magierin mit ihrem verkrüppelten Kind tatsächlich fort war und die Tragödien ein Ende nehmen würden. Marla war geblieben, sie hatte sich mit dem Kind auf dem Heuboden in der Scheune des Schmieds versteckt.«
Ralph hielt inne und strich sich mit der Hand über das Gesicht. Auch Lindas Vater und Bruder schienen betroffen zu sein.
»Was haben sie gemacht, Großvater?«, drängte das Mädchen ungeduldig.
»Sie wollten sie zwingen fortzugehen und Marla beschwor die Gemeinde, Erbarmen zu haben. Sie hat die Bewohner angefleht, geschworen, dass sie nichts mit den Vorfällen zu tun hatte.«
»Und sie haben sie trotzdem fortgeschickt?« Die Augen der kleinen Linda schauten kummervoll zu ihm hoch.
»Nein, Kindchen. Als Marla begriff, dass sie gehen musste, fing sie an, die Dorfbewohner zu beschimpfen, worauf die sie als Hexe und Mörderin bezeichneten. Und wie immer, wenn sich die Gemüter erhitzen und die Menschen von Angst getrieben werden, geschah was geschehen musste. Irgend jemand brüllte, man solle zuerst das von einem Fluch belegte Kind und dann die Hexe im Fluss ersäufen, erst dann würde der Fluch von ihrem Dorf genommen. Danach ging alles sehr schnell. Man zerrte die Frau mit dem Baby zum Fluss hinunter, während die Menge schrie: ›Tötet die Hexe, tötet die Hexe!‹
Gunar musste einsehen, dass er außerstande war, seine Gemeinschaft davon abzuhalten, und hätte er es geschafft, hätte man ihn verantwortlich gemacht, wäre noch etwas geschehen. Alle versammelt sich am Flussufer und der Geistliche forderte ihn auf: ›Gunar, sprich das Urteil über die Hexe und diese bedauernswerte Kreatur von einem Kind.‹
Und das tat mein Vorfahre, er verurteilte Marla und ihr Kind zum Tode, wegen Hexerei und Ausübung von schwarzer Magie. Und da es der Brauch forderte, fragte er die Frau, ob sie noch irgendetwas sagen wolle, bevor das Urteil vollstreckt würde. Marla sagte: ›Gunar, du und dein Dorf sollen auf ewig verflucht sein. Für jedes neugeborene Kind sollst du und deine Nachkommen ein Leben opfern. Weigerst du dich, wird das Neugeborene sterben. Weigerst du dich zu erfüllen, was ich dir hier und jetzt auferlege, wird dein Dorf aussterben, und das Nächste wird folgen, bis kein Mensch mehr, mit der Ausnahme deiner Nachkommen, auf Erden wandert. Ein Leben für ein Leben! Verdammt sollt ihr sein, die ihr euch Gottes Geschöpfe nennt!‹ Dann lachte die Frau, ja sie lachte, als man ihr das Kind aus den Armen entriss und in den Fluss warf. Und sie lachte noch, als man ihr von hinten einem Stein auf den Schädel schmetterte und sie in die Strömung stieß.
Manche sagten, man hätte ihr Lachen noch viele Tage und Nächte hören können …«
Ein Piepsen drang zu Linda. Sie öffnete die Augen, schaltete den Wecker ihres Handys aus, setzte sich auf und bog ihren schmerzenden Rücken durch. Sie konnte noch die Tränen spüren, die sie seinerzeit vergossen hatte, als Ralph ihr die Geschichte erzählte. »Verdammt sollst du sein, Ralph Berger«, wetterte sie, besann sich dann, dass er das ja bereits war, so wie sie. Sie stieg aus, ging in den Waschraum und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Dann holte sie sich einen doppelten Espresso im Shop und fuhr weiter.
Um diese Zeit war die Straße praktisch verlassen und sie hing dem Traum nach. Das Tor, welches sie vor Jahren verschlossen hatte, war erneut aufgestoßen worden und die Erinnerungen kehrten unbarmherzig zurück. Schon beim Tod ihres Vaters erging es ihr ähnlich, wenn auch nicht so intensiv. Eventuell lag es daran, dass sie zu ihrem Vater kein so inniges Verhältnis hatte wie früher zu Patrick. Sie hatte geglaubt, dass ihr Vater insgeheim ihr die Schuld am Tod seiner Frau gab, ihrer Mutter, die er über alles geliebt hatte. Am Sarg ihres Vaters konnte Linda keine einzige Träne vergießen. Sie war wütend, dass er sich einfach so aus dem Leben gestohlen hatte, ohne Abschiedsbrief, ohne ein letztes Wort. An jenem Tag hatte sie weder mit ihrem Bruder noch mit ihrem Großvater mehr als ein paar Worte gewechselt. Der Sarg war in die Grube gelassen worden und sie hatte auf dem Absatz kehrt gemacht, die Stadt verlassen und sich geschworen, nie mehr zurückzukehren.
Warum kehrte sie jetzt zurück? Sie wollte mehr über den Tod ihres Bruders in Erfahrung bringen. Und sie wollte sich von ihm verabschieden. Doch das war nicht alles, sie fühlte sich konstant mit Yukon verbunden. Ihre Freundin, Karen, und ihr Boss hatten recht, Linda mied es, Menschen an sich heranzulassen. Keine Beziehung zu einem Mann hielt mehr als zwei Monate. Sie wusste, die Ursache lag in ihrer verkorksten Familie und der Stadt. Erhoffte sie sich einen endgültigen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit zu ziehen? Dies würde ihr kaum gelingen, solange Ralph lebte. Solange der Fluch existierte.
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