von: Jill Grey
1. April 2022
© Buchcover Totenaudienz von Jill Grey
Kapitel 1
Zehn Uhr morgens, ein wunderschöner, warmer Frühsommertag. Gemächlich schlurfte Gordon Jones in Morgenmantel und Sandalen zum Briefkasten, um die Post des Vortages, allenfalls auch des Vorvortages, herauszuholen …
»Jaja, ich hab dich gehört, Nati.« Wie könnte man ihr Genörgel überhören, fügte Gordon im Stillen hinzu.
»Könntest du einfach mal still sein? Wenigstens so lang, bis ich meinen ersten Kaffee intus hab?«
Mit einem tiefen Seufzer raffte er Briefe und Zeitungen zusammen, währenddessen Gaby Hurt, seine Nachbarin, die gerade ihre Rosen schnitt, über die Büsche zu ihm hinüberspähte und sich nicht zum ersten Mal die Frage stellte, ob ihr Nachbar unter Umständen gefährlich sei. Welcher normale Mensch führt Selbstgespräche oder läuft um zehn Uhr morgens im Morgenmantel herum? Ungekämmt und unrasiert, wohlgemerkt. Normale Bürger gingen um diese Zeit ihrer Arbeit nach, ihr bizarrer Nachbar hingegen schien keiner Arbeit nachzugehen.
Während sich Mrs Hurt so ihre Gedanken machte, begab sich Gordon ins Haus und schmiss die Post auf den Tisch in der Diele, auf dem noch manch andere Briefe und Rechnungen darauf warteten, geöffnet zu werden.
In der Küche goss er sich Kaffee ein und fischte den restlichen Joint vom Vorabend aus dem Aschenbecher, zündete ihn an und inhalierte genüsslich. Dabei dachte er kurz an seine Nachbarin, deren neugieriger Blick ihn ständig beobachtete, schien es doch ihre liebste Beschäftigung zu sein, ihn zu beobachten. Als ob sein Leben irgendjemandes Interesse wecken könnte. Gewiss, Mrs Ach-so-perfekt-Hurt war nicht die Erste, die glaubte, dass er Selbstgespräche führe oder eine Schraube locker habe. Eine? – Schön wär’s. Dass mit ihm nicht alles so war, wie es sein sollte, das hatten auch seine fürsorglichen Eltern frühzeitig erkannt.
Als Sloth, so wurde Gordon oft genannt, sechs Jahre alt war, konnten seine Eltern, allen voran seine Mutter, es nicht mehr ertragen, dass ihr Goldjunge fortwährend mit nichtexistierenden Leuten sprach. Und so durchlief Klein Gordon bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr die Praxen so mancher Therapeuten. Seine Eltern schöpften alles aus: Psychiater, Psychologen, Musik- und Hypnosetherapien, Psychoanalysen. Da niemand helfen konnte, kamen sie zum Schluss, dass dann wohl eine Erkrankung des Nervensystems vorliegen müsse, und so schleiften sie ihren Sohn zu einem Neurologen. Aber auch dieser konnte ihre Diagnose nicht bestätigen.
Am Ende ihrer Weisheit, konnte schließlich Gordons Großvater die verzweifelten Eltern überreden, den Jungen zu einem »Medium« zu schicken. Christine, dieses selbsternannte Medium, hörte dem Jungen aufmerksam zu. Nach einer Stunde holte sie seine Eltern dazu und versuchte ihnen schonend beizubringen, dass ihr Sohn weder verrückt noch krank sei, sondern schlichtweg die Gabe habe, Tote zu sehen und mit ihnen zu sprechen. In den Gesichtern seiner Eltern spiegelten sich pures Entsetzen und blankes Nichtverstehen über diese Hiobsbotschaft wider. Von diesem Tag an hörten sie auf, ihren Sohn in Krankenhäuser und zu Psychiatern zu schleppen. Was keinesfalls bedeutete, dass sie solch eine abnorme Tatsache akzeptierten, ignorieren wäre das treffendere Wort; zumindest tat das seine Mutter vehement, die bis heute zu vermeiden versucht, dass Verwandte, Freunde oder gar Nachbarn mitbekommen, dass ihr geliebter Sohn ein klein wenig anders gestrickt ist.
Sloth nahm den letzten Zug von seinem Joint und besann sich seiner ersten Kindheitserinnerung. Er lag in der Wiege, welche man ins Wohnzimmer gestellt hatte, um den Besuchern genügend Platz zu gewähren, den kleinen Wonneproppen in Augenschein zu nehmen. Ein Kopf nach dem anderen schob sich über die Wiege und Lautfolgen wie »Du-du-du …« oder »Wo ist das süße Ba-byyy …« brabbelten auf ihn herab, während unzählige Finger und Hände ihn betatschten. Eine Person dagegen hob sich von allen anderen ab, sie schien durch die Grabscher hindurchzugleiten. Jene Frau, deren dunkles Haar streng hochgesteckt war und die ein graues Kleid und darunter eine bis unter das Kinn zugeknöpfte weiße Bluse mit Rüschen trug, sagte leise: »Keine Angst, Master Gordon, ich werde auf Sie aufpassen.«
Und das tat Nati bis heute.
Nati war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Gouvernante in einem angesehenen Haus gewesen. An einem lauen Sommertag wollte sie ihren damaligen kleinen Schützling, der in den Fluss gefallen war, retten, hatte ob ihrer Sorge bedauerlicherweise eine Kleinigkeit vergessen: Sie konnte nicht schwimmen.
»Master Gordon, es ist halb elf und Sie sind noch immer nicht angekleidet«, bemerkte Nati mit leicht vorwurfsvollem Unterton.
Er verdrehte die Augen. »Weißt du was, du kannst einem an manchen Tagen so richtig auf den Sack gehen.«
»Dieser Ausdruck ist mir nicht geläufig.«
»Sollte er aber, du hörst ihn ja nicht zum ersten Mal.«
Er trank seinen Kaffee aus und machte sich gemessenen Schrittes auf ins Bad. So wie Sloth meist sehr gelassen durch sein Leben trottete, nahm auch seine Stimme eine etwas gelangweilte Tonlage an, oder sie war – meinte er selbst – schlicht und einfach entspannt.
Gordon Jones war sehr behütet aufgewachsen. Sein Vater Todd verkaufte Versicherungen auf Provisionsbasis, was der Kleinfamilie ein sorgenfreies Leben in einem hübschen Einfamilienhaus in der Vorstadt ermöglichte. Pauline, seine Mutter, konnte sich voll und ganz darauf konzentrieren, in ihrer Rolle als »Mom des Jahres« aufzugehen. Zu Gordons Leidwesen beharrte sie darauf, ihren Sohn viele Jahre in die Schule zu begleiten und ihm zum Abschied einen dicken, feuchten Schmatzer auf die Wange zu drücken mit den Worten: »Sei artig, Honey Moon.« Dieser Spitzname haftete ihm über Jahre an: Kinder können grausam sein und die wenigen, die es nicht waren, für die war er … ein Freak.
Später, im College, erkannte Gordon, dass er nicht zu Höherem bestimmt war, wie Arzt, Anwalt oder Architekt zu werden – kurz, für all jene Jobs, die beinhalteten, dass man viel büffeln zu musste. Nein, Disziplin und Durchhaltewille waren keineswegs seine Stärken. Dafür entdeckte er Drogen. Er probierte das eine und andere aus und blieb bei Marihuana hängen, weil er so sein Dasein mit seinen »imaginären Freunden«, wie seine Mutter die Toten heute betitelte, besser ertragen konnte. Das Rauchen entspannte ihn und verschaffte ihm eine wohltuende Gelassenheit. Bevor er diese wunderbare Droge für sich entdeckt hatte, empfand er sein Leben gleich einem Aufenthalt in einer Irrenanstalt und war in manchen Zeiten davon überzeugt, letztendlich genau dort zu landen. Und so lebte Gordon Jones den größten Teil seines Lebens im Marihuanareich.
Nach einer ausgiebigen Dusche betrat Sloth mit seinen ausgelatschten Sandalen an den Füßen und bequemen Klamotten, die ihm in jeder Sitz- und Liegeposition ein absolutes Wohlgefühl gewährleisteten, die Küche und öffnete den Kühlschrank, aus dem ihm eine unerfreuliche Leere entgegengähnte. Weil selbst Kochen zu viel Arbeit machte, waren Hauslieferdienste seine bevorzugte Haupternährungsquelle. »Ich sollte gelegentlich mal wieder einkaufen gehen.«
»Möglicherweise wäre es angebracht, die Kunst des Kochens zu erlernen? Eine gesunde Ernährung ist ausgesprochen wichtig für Körper und Geist.«
»Warum nicht gleich heiraten?« Resigniert schloss er den Kühlschrank.
»Ich bezweifle, dass Ihre Räumlichkeiten den Ansprüchen und Erwartungen einer Dame gerecht werden.«
»Nati, das war ein Scherz. Du solltest an deinem Humor arbeiten.«
Heiraten? Genügte es nicht, dass seine Gouvernante, so bezeichnete sie sich selbst, ihm pausenlos auf die Pelle rückte? Was erwartete sie von ihm? Er duschte jeden Tag, rasierte sich dann und wann und bezog einmal im Monat sein Bett frisch – außer, er hatte weiblichen Besuch, was selten genug vorkam. Es gab ja noch die Masturbation. Nicht, dass Sloth das weibliche Geschlecht verschmähte, er liebte es zweifelsohne, solange die Ladys nicht auf die Idee kamen, ihre Zahnbürsten bei ihm zu deponieren.
Gordon Jones war kaum der ultimativ gutaussehende Typ mit dem traumhaft athletischen Körper. Der einzige sportliche Akt, den er sich zumutete, war, bei einem Fernsehübertragungsspiel aufzustehen und mitzujubeln, wenn seine Mannschaft punktete. Und das Bier, welches er hierbei – sowie zu vielen anderen Gelegenheiten – trank, setzte allmählich an. Ansonsten war er mit seinem Aussehen, Körperbau und der Qualität und Quantität seines Geschlechtsteils ausnehmend zufrieden.
Und wer konnte von sich behaupten selbstständig zu sein? Er war das und verdiente genug, um sich seinen Lebensunterhalt zu sichern. Und das tat er, aber auch nicht mehr. Er arbeitete für das Polizeidepartement, und die Stunden, die er berechnen konnte, ermöglichten es ihm, sein kleines Detektivbüro aufzugeben. Nun gut, Büro war etwas schöngeredet: Es war ein Zimmer neben der Waschküche, und in diesem Zimmer hatte er Dinge zwischengelagert, bei denen er unschlüssig war, wohin damit. Oder wofür er zu bequem war, sie zu entsorgen.
Wäre Gordon eine Frau, hätte man ihn als Schlampe bezeichnet. Sloth war träge – okay, beispiellos träge. Seine Mutter hatte, abgesehen von der Körperpflege, so ziemlich alles für ihn gemacht, bis er mit achtundzwanzig Jahren auszog. Na ja, was man nie gelernt hatte, klappte halt nicht von heute auf morgen – obschon man sagen muss, dass dieses »Heute-auf-Morgen« bei ihm mittlerweile zehn Jahre andauerte. Und so bekam Gordon im College den Spitznamen Sloth: Faultier.
Von irgendwoher klingelte sein Handy.
»Master Gordon, Ihr Telefon klingelt.«
»Es wäre hilfreicher, wenn du mir sagen könntest, wo es ist.«
»Es liegt unter dem Hemd auf dem Stuhl und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, dieses Hemd gehört in den Wäschekorb, es hat Tomatensoße am Kragen.«
»Der Wäschekorb ist voll«, maulte er, des ewigen Genörgels an diesem Morgen überdrüssig.
»Dann wäre es sinnvoll …«
Er hob die Hand und sah seine Gouvernante garstig an, bevor er sich am Telefon mit einem »Ja?« meldete.
»Gordon, bist du es?«
»Wer sollte sich sonst auf dieser Nummer melden?«
»Man könnte sich auch mit seinem Namen melden.«
»Wenn du meine Nummer wählst, ist es doch logisch, dass ich dran bin.«
»Es wäre ganz einfach höflicher, verstehst du?«
»Sammy, möchtest du mich über mein Benehmen belehren oder mir sagen, weswegen du anrufst?«
Samantha McFarlane war psychologische Beraterin bei der Polizei und spezialisiert auf die Betreuung der Angehörigen von Opfern. Sie wurde gerufen, wenn jemand ermordet oder vermisst wurde und arbeitete eng mit dem steifen Detective Ron Walton zusammen.
»Sind wir mies aufgestanden oder ist dir Nati heute bereits auf die Füße getreten?«
»Das tut sie doch ständig. Also, wo drückt dich der Schuh?«
»Hast du zufällig einen Gast, der uns irgendetwas zu sagen hat? Er heißt Mark Scott.«
»Bei mir ist zurzeit niemand, ausgenommen meiner nörgelnden Gouvernante. Und gewöhn dir ab, sie als Gäste zu bezeichnen. Es sind Tote, die sich selbst einladen. Ungebetene Gäste.«
»Wenn du ihnen mehr Achtung und Verständnis entgegenbringen würdest, dann …«
»Spar dir die Luft für deine Patienten.«
»Gord, sie suchen Hilfe, irren in der Zwischenwelt umher und du bist ihr einziger Ansprechpartner – leider.«
»Danke für die Blumen. Und wie geht’s deinem Mann?«
»Es ist jedes Mal erstaunlich, wie du eiligst ein Thema wechseln kannst. Interessiert es dich wirklich oder willst du so von deiner fehlenden sozialen Kompetenz ablenken und vermeiden, dass ich dich weiterbearbeite?«
»Es interessiert mich nicht die Bohne, wie es Martin geht, außer du lässt dich von ihm scheiden, dann wird’s interessant.«
»Du bist nicht mein Typ, ich gebe es dir gerne schriftlich. Also du meldest dich, wenn jemand aufkreuzt?«
»Jaja, meld mich.«
Kaum aufgelegt, läutete das Telefon erneut. Es war Mrs Needham. Sie war seine letzte Klientin, die er als freischaffender Detektiv noch betreute.
»Mr Jones, ich habe seit Tagen keinen Ton von Ihnen gehört …«
Klang irgendwie vorwurfsvoll. Sloth wartete ab, da sollte noch was nachkommen. Kam aber nichts.
»Sind Sie noch dran, Mr Jones?«
»Bin dran, ich mein, an Ihrem Mann.«
»Und?«
»Ich kann bisher nicht mit Sicherheit sagen, ob er Sie betrügt.«
»Doch Sie haben Anzeichen dafür, verstehe ich Sie richtig?«
Für Gordon waren die Frauen ein Rätsel. Zuerst heulten sie Sturzbäche von Tränen und jammerten, dass ihr Leben keinen Sinn mehr habe und sie es auf keinen Fall ertragen könnten, wenn ihr Göttergatte fremdginge, um dann nach Antworten zu gieren, die ihnen genau das bestätigte. Frauen waren ein Widerspruch in sich.
»Geben Sie mir noch ein paar Tage.«
»Oh … ich dachte, es würde schneller gehen. Sie sind doch noch an meinem Fall interessiert?«
»Lady, Ihr Fall bringt mir so viel ein, dass ich die halbe Miete bezahlen kann. Ist Ihre Frage damit beantwortet?«
»Ja. Und Sie sind ausgesprochen unfreundlich.«
»Sie bezahlen mich, um Ihren Mann zu überführen, und nicht um freundlich zu sein.«
»Das war deutlich.«
Immerhin das kam bei der Lady an.
»Ich rufe vor allem an: Mein Mann hat gesagt, dass er sich heute Abend mit Kunden trifft und es spät wird. Also bringen Sie mir Beweise. Und ich will Fotos von der Schlampe!«
»Das war auch deutlich.«
»Gut, dann haben wir uns verstanden. Wiederhören, Mr Jones.«
Am Abend hockte Sloth in seiner alten Karre vor einem Motel außerhalb der Stadt. Dort hatte sich Mr Needham mit einer Rothaarigen einquartiert. Gordon hatte ihn bereits zwei, drei Mal mit dieser Dame gesehen, jedoch waren sie bislang nie in einem Motel gewesen und er bezweifelte stark, dass die zwei da drin Akten durchgingen. Er kam sich vor wie ein Spanner. Ungeachtet dessen waren das die besser bezahlten Aufträge, denn wenn es darum ging, ihre Ehepartner zu überführen, waren Mann und Frau gleichermaßen bereit, tief in die Taschen zu greifen. Er selbst vertrat allerdings den Standpunkt, dass Männer keinesfalls für die Monogamie geschaffen waren. Wieso konnten Frauen nicht einfach akzeptieren, dass ein Mann ein glücklicherer Ehemann war, wenn er sich außerhalb das holen konnte, was ihm zu Hause verweigert wurde? Freilich setzte das voraus, dass er ebenfalls akzeptieren konnte, wenn die Ehefrau dasselbe tat. Und genau an diesem Punkt wurde es schwierig, denn Männer konnten es ebenso wenig.
Gordon zündete sich einen Ofen an, schnappte sich seine Kamera und machte ein Foto vom Motel, dann von der Zimmertür Nummer 29. Danach ging er zu dem Typen bei der Anmeldung, der im besten Fall achtzehn Jahre alt sein konnte, und fragte, ob er ihm die Nummer 29 aufschließen könnte. Er konnte nicht. Also kramte Sloth einen Fünfziger aus der Tasche und wedelte damit herum.
»Den Fünfziger und den da«, grinste der Junge.
»Meinen Joint?«
Sein Gegenüber nickte – weiter grinsend.
»Junge, du solltest nicht kiffen.«
»Sie tun es auch.«
»Ich hab meine Gründe.«
»Die hat doch jeder, Opa.«
Sloth war sich unschlüssig, was ihm mehr gegen den Strich ging – von diesem Schnösel als Opa betitelt zu werden oder seinen Joint abzutreten. »Dann nimm ihn halt und jetzt schließ mir die Tür auf, damit ich meinen Scheißjob erledigen kann.«
»Bist’n Schnüffler, hä?«
»Mhm.«
»Bedeutet ›Mhm‹ ja oder nein? Sie sollten an Ihrer Konversation arbeiten.«
Nein, nein, Sloth wurde niemals wütend, er war durch und durch ein friedliebender Mensch.
Der Junge gab ihm den Schlüssel und er ihm den Fünfziger und seine angerauchte Tüte. Dann trottete er zur Nummer 29 und grübelte darüber nach, warum jeder an seiner Konversation herumnörgelte. Er mochte kein Gesülze, mit der Ausnahme, wenn er mit einer Frau ins Bett wollte. Da ließ sich das schwerlich vermeiden.
Bevor er leise die Tür aufschloss – was unnötig war, da es im Zimmer ziemlich laut zuging – machte er die Kamera bereit, öffnete dann die Tür einen Spaltbreit und schoss flink ein paar Fotos. Durch die Blitzserie aufgeschreckt, schauten Mr Needham und seine Gespielin brav in die Kamera – Augen und Münder waren weit aufgerissen.
»Okay, das war’s. Sie können weitermachen.«
Er zog die Tür zu und ging zu dem Jungen, der nun mit glasigen Augen und noch breiterem Grinsen den Schlüssel zurücknahm. Bei seinem Wagen wollte Gordon soeben die Fahrertür öffnen, da hörte er die verzweifelten Worte hinter sich. »Hey, Mister, warten Sie!«
Mr Needham, in Hosen und nacktem Oberkörper, stolperte barfuß auf ihn zu und rief atemlos: »Hat Sie meine Frau engagiert?«
»Mhm.«
»Hören Sie, ich liebe meine Frau, aber …«
»Kumpel, mir müssen Sie nichts erklären. Ist bloß ein Job.«
»Und was springt bei diesem Job für Sie heraus?«
Schmunzelnd lehnte sich Gordon an die Wagentür und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sie wollen mir sagen, dass ich das Doppelte kassieren kann, wenn ich niemals hier gewesen bin?«
»Das Dreifache. Eine Scheidung kostet mich wesentlich mehr.«
»Gutes Argument.«
»Master Gordon, ich bin empört, das ist durch und durch falsch!«
»Nati, nicht jetzt«, flüsterte er, scheinbar zur Kühlerhaube.
»Was? Mit wem sprechen Sie?«
»Er hat sein Ehegelübde gebrochen!«
»Eine weit überschätzte Sache.«
»Mit wem sprechen Sie?«, wiederholte Mr Needham irritiert.
»Mit jemandem, die sich dauernd in Dinge einmischt, von denen sie nichts versteht. Also, wir waren bei der dreifachen Währung.«
Sein Gegenüber nickte eifrig. »Ich stelle Ihnen hier und jetzt einen Scheck aus.« Wehmütig schielte er zum Motel. »Es ist …, meine Frau, sie …«
Sloth hob abwehrend die Hände. »Will ich gar nicht wissen.«
Zehn Minuten später fuhr Gordon Jones mit einem fetten Scheck in der Tasche nach Hause, und nein, er verspürte keinerlei Gewissensbisse. Man konnte es auch so sehen: Womöglich hatte er mit seiner nicht ganz selbstlosen Tat ja eine Ehe gerettet.
»Master Gordon, Ihr Benehmen kann man mitnichten als integer bezeichnen.«
»Musst du auch noch bei meiner Arbeit auftauchen?«
Sie sah ihn unerbittlich an. »Ich tue das, um meine Worte zu untermauern.«
»So oft wie du dich manifestierst, hast du eine ganze Menge zu untermauern.« Er zog sich einen weiteren Joint aus seiner Hemdtasche und zündete ihn an.
»Ich bemühe mich lediglich, einen besseren Menschen aus Ihnen zu machen, Master Gordon. Und das ist, möchte ich betonen, beileibe keine leichte Aufgabe.«
»Betone ruhig weiter, aber lass den geschwollenen Schmalz bitte weg.«
Seine Gouvernante saß, wie immer, kerzengerade da. Die Hände sittsam in ihrem Schoß gefaltet, war ihr Blick starr geradeaus fokussiert.
»Bist du jetzt beleidigt? War nicht böse gemeint mit dem geschwollenen Schmalz und so. Du solltest an deinem verbalen Ausdruck feilen, Nati, wir leben im Jahr 2012, falls dir das entgangen ist.«
»Wie könnte mir das entgangen sein. Die heutige Sprache empfinde ich als überaus befremdend und ich kann nicht sagen, dass sie mir behagt. Und zu Ihrer Information: Ihre Nachbarn drücken sich sehr viel gewählter aus«, kam der schnippische Nachschlag.
»Drücken sich sehr viel gewählter aus …«, äffte er sie nach, sprach dann mehr zu sich selbst: »Weshalb konnte nicht ein Kreuzritter, eine Hure oder von mir aus ein Stallbursche sich dazu entschließen, mich mein Leben lang zu verfolgen?« Er nahm einen tiefen Zug und hielt den Ofen seiner steifen Gouvernante hin.
»Es geziemt sich für eine Dame nicht zu rauchen.«
»Nati, auch wenn du keine solch antiquierten Ansichten hättest, könntest du dich nie und nimmer zukiffen. Und soll ich dir flüstern, warum? Weil – du – tot – bist! Und wenn man tot ist, geht man in den Himmel. Oder in die Hölle. Was in deinem Fall keine Option ist.« Einmal mehr versuchte Gordon Jones seine Gouvernante von einer Sache zu überzeugen, die sie tunlichst ignorierte. »Aber du nicht. Nein, du irrst seit über einem Jahrhundert hier herum und verbreitest schlechte Laune. Versteh mich nicht falsch, meiner Meinung nach sollte eine Frau mit deiner Intelligenz den Weg zum Himmelstor etwas schneller finden.« Er stützte seine Arme auf das Lenkrad, ließ den Wagen die Straße hinunterrollen und dozierte weiter: »Muss toll sein da oben. Harfenklänge und süße Engelchen. Und es hat garantiert viele Kinder, um die du dich kümmern kannst, denn die kommen immer in den Himmel, egal wie nervig sie sind. Kinder haben einen Himmelsfreipass, verstehst du?« Versonnen schaute er auf den Beifahrersitz, der jetzt leer war. »Jedes Mal haut sie ab. Ja, geh nur, ignorier dieses Thema weiterhin!«
Er parkierte seine Karre vor dem Haus, stieg aus und knallte die Wagentür zu. Genervt zeterte er weiter: »Mag sein, dass ich an meiner Konversation arbeiten muss, doch andere sollten an ihrer Ignoranz arbeiten. Und wenn wir schon dabei sind, du läufst herum, als hättest du einen Besenstiel im Hintern.«
Sein Nachbar von der gegenüberliegenden Straßenseite, der soeben den Müll hinausgetragen hatte, gaffte ihn belämmert an: War das an ihn gerichtet? Hatte er einen Gang, als stecke ein Besenstiel in seinem Hintern?!
Kapitel 2
Am nächsten Morgen wurde Gordon unsanft von den Nachbarskindern geweckt. Er stülpte sich das Kissen über den Kopf, wunderte sich, wieso diese Gören zu Hause waren. Dann hörte er Mrs Tambor rufen: »Kommt jetzt rein, Kinder, das Mittagessen wird kalt!«
Das erklärte vieles – es war Mittagspause. Sloth befand, dass der Mittag auf den Nachmittag verschoben oder den Bälgern in der Schule kurzerhand ein Futtertrog hingestellt werden sollte.
Stöhnend wälzte er sich aus dem Bett, schlurfte ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Anschließend schlüpfte er in den Morgenmantel und holte die Post. Zum Haus zurückschlendernd ging er die Briefe durch und schreckte auf, als plötzlich seine Gouvernante vor ihm stand, neben ihr ein kleiner Junge, der … oh Shit … und das vor dem ersten Kaffee! Dem Jungen war offensichtlich der Kopf eingeschlagen worden.
»Nati, du sollst dich nicht außerhalb des Hauses blicken lassen. Ich wohne erst acht Monate hier und die Nachbarn halten mich jetzt schon für durchgeknallt.«
Er spähte zu Gaby Hurt hinüber, die aus dem offenen Küchenfenster lehnte, um ja kein Wort zu verpassen. »Fallen Sie mir mal nicht aus dem Fenster, Gaby, sonst muss dieser Irre Sie ins Krankenhaus fahren und dazu hat er keinen Bock«, rief er über die Hecke, worauf Mrs Hurt blitzschnell – und zu laut – das Fenster schloss. Und an seine Gouvernante gewandt: »Was ist unverständlich an den Worten: Zeig dich nicht außer Haus?«
»Dies ist ein Notfall, Master Gordon.«
»Bei dir ist alles ein Notfall, inklusive meines Benehmens.« Er wollte die Haustür schließen, da rief eine Stimme: »Gord, warte …« Flink schlüpfte Sammy, seine Arbeitskollegin, durch die Eingangstür.
»Och nein, du auch noch?!« Theatralisch verwarf Sloth die Arme. »Leute, es ist gerade mal Morgen, ich hab noch kein Koffein im Blut und zwei Frauen im Haus, das ist eindeutig zu viel.«
»Es ist zehn nach zwölf«, belehrte ihn Sammy.
»Sag ich ja, es ist Morgen.«
»Sie haben das Kind vergessen, Master Gordon, zwei Frauen und ein Kind. Es möchte Ihnen etwas mitteilen.«
»Und was möchte mir das Kind mitteilen?«
»Darüber habe ich keine Kenntnis.«
»Was für ein Kind?«, wollte Sammy wissen.
»Na, halt ein Kind, die sind doch alle gleich. Nati hat es angeschleppt.«
Kopfschüttelnd tapste Sloth in die Küche und goss Sammy und sich Kaffee ein. »Als Erstes sagst du, es will mir was sagen, und dann, dass du nicht sagen kannst, was es mir sagen will.« Mit gekräuselter Stirn kratzte er sich am Kopf. »Das ist jetzt zu hoch für mich.«
Er reichte ihr die Tasse. »Und bist du auch hier, um mir was zu sagen, was du nicht sagen kannst?«, fragte er gelangweilt, holte sich aus dem Wohnzimmer einen Joint und ein Feuerzeug.
»Sag mal, Gord, verdienst du zu wenig, um dir einmal die Woche eine Putzfrau zu leisten?« Sammys Blick schweifte durch die Wohnung. »Wenn ich daran denke, was wir dir bezahlen, sollte es locker reichen.«
»Zwei Frauen in meinem Haus. Kann es schlimmer kommen?«
»Und das Kind, Master Gordon.«
Niedergeschlagen strich er sich übers Gesicht. »Ja, Nati, und das Kind. Ich schlag vor, du gehst mit ihm … wohin auch immer, und findest heraus, was es loswerden will. Mein Heim ist eine Oase der Gelassenheit, der Ruhe, aber zu meinem Bedauern ist davon an diesem Morgen nichts zu spüren.«
»Es ist Mittag.«
»Was auch immer.« Er schlurfte ins Wohnzimmer zurück, wo er aufs Sofa plumpste, genüsslich rauchte und seinen Kaffee trank. »Also, was kann ich für dich tun? Möchtest du mitrauchen, dich entspannen? Wenn du Lust hast, auch mit mir. Bin frisch geduscht.«
»An deiner Anmache solltest du noch arbeiten.«
»Gibt es irgendwas, dass ihr nicht an mir zu kritisieren habt? Ich hab auch gute Eigenschaften. Na ja, die eine oder andere.«
»Zum Beispiel die seltene Eigenschaft, sich mit der Geisterwelt zu verbinden. Bloß frage ich mich, warum besagte Gabe ausgerechnet dir in die Wiege gelegt wurde.«
»Das war jetzt nicht nett.«
»Gord, kannst du einmal ernst bleiben?«
»Na hör mal, jeden Tag Tote zu sehen ist ernst genug.«
»Es ist unmöglich mit dir zu reden, wenn du nüchtern bist, und genauso wenig, wenn du bekifft bist. Gordon Jones, du bist ein Albtraum von einem Mann!«
»Was wir hier tun, nennt man ›ein Gespräch führen‹, obwohl der Sinn in diesem hauptsächlich darin besteht, mich zu beleidigen. Und wenn du einfach sagst, weshalb du gekommen bist – abgesehen davon, mich zu beleidigen –, könnten wir dieses Gespräch beenden, so dass ich mein Haus wieder zur ›frauenfreien Zone‹ erklären und einen zweiten Anlauf nehmen kann, friedlich in meinen Tag zu gleiten. Außer Nati taucht wieder mit diesem Kind auf …«, sann er vor sich hin.
»Bist du fertig?«
Gordon schreckte auf. »Was? Ähm ja. Wo waren wir stehengeblieben?«
Sammy setzte sich ihm gegenüber und faltete die Hände. »Du hast doch vor ein paar Monaten mit einem alten Mann gesprochen, erinnerst du dich? Ich habe hier ein Foto.« Sie streckte es ihm hin. »Ist das der Mann?«
Er studierte das Bild ausgiebig. »Hm … würd sagen, ja, das ist Transvestitenopa.« Er schnippte mit den Fingern. »Jep, bin mir sicher.«
»Das ist genau so ein Moment, wo ich dich hasse. Hast du denn überhaupt keine Achtung vor den Verstorbenen?«
»Ich hab nichts gegen Transvestiten.« Es war Sloth unverständlich, dass sie diesen Wirbel veranstaltete. »Ich achte die Toten nicht mehr und nicht weniger als die Lebenden. Und ganz nebenbei achten sie meine Privatsphäre auch nicht. Also, was ist mit Trans …, mit dem Opa?«
»Nachdem, was Walton herausgefunden hat, wurde bei seinem Dahinscheiden nachgeholfen.«
»Da wollte wohl jemand nicht länger aufs Erbe warten und hat Opa frühzeitig in die Kiste befördert.«
Ohne auf seine Worte einzugehen, sprach sie weiter: »Er hatte zwei Töchter. Wir sind uns unsicher, welche nachgeholfen hat. Ich dachte, du kannst uns helfen.«
Gordon schenkte ihr einen erlesenen, leidgeprüften Blick. »Und somit verabschiedet sich mein friedvoller Start in den Morgen.«
»Mittag. Oder eher Nachmittag.«
»Das ist Ansichtssache. Von meiner Seite aus betrachtet – und meinen Lebensrhythmus berücksichtigend – ist es Morgen. Von deiner Seite betrachtet – und deinen Lebensrhythmus berücksichtigend, der in Minuten und Sekunden zerlegt ist, die du kontrollieren musst – ist es Nachmi …«
»Ich hab’s begriffen«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Also, kannst du uns helfen? Ich brauche eine Antwort, weil ich meine Minuten und Sekunden sinnvoller nutzen kann, als deinen ausschweifenden, bekifften Lebensphilosophien zu lauschen.«
Gordon setzte sich auf. »Sammy, warum bist du in letzter Zeit so mies drauf?« Nun sah er sie versöhnlich an. »Es ist okay, mich als Rammbock zu benutzen, hey, ich steck das locker weg. Es wäre aber nur fair, zu erfahren, wofür ich einstecke.«
»Ach Gord, ich hasse es noch mehr, wenn du recht hast.« Sie betrachtete ihre Hände und sagte leise: »Ich liebe Martin, das tu ich, aber manchmal … und er hat irgendwie recht, verstehst du? Wir sind immerhin seit drei Jahren verheiratet.«
Gordons Augenbrauen schoben sich erwartungsvoll nach oben.
»Was schaust du so?«
»Ich warte auf das Finale. Du liebst ihn und so weiter, aber …?«
»Der Punkt ist, ich bin mir unschlüssig, ob ich überhaupt Kinder will.«
»Oh …«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
»Oh, das überrascht mich, weil … ja, wieso eigentlich? Ach ja, weil meistens die Frauen ihre Partner dazu drängen, das Rudel zu erweitern. Ist ein normaler Trieb von euch.«
»Rudel? Trieb? Du bist mir ja eine schöne Hilfe.«
»Wie alt bist du? So alt wie ich?«
»Abzüglich drei Jahre. Ich bin vierunddreißig.«
»Sammy, du kannst noch locker mit vierzig Kinder bekommen, ergo hast du sechs Jahre Zeit, dich fortzupflanzen. Zerbrich dir nicht deinen hübschen Kopf über Dinge, die für dich offenkundig noch nicht zur Debatte stehen. So wie ich das seh, hast du Schiss deinem Mann auf die Füße zu treten. Er könnte am Ende glauben du liebst ihn nicht.«
Sie nickte ernst. »Ist angekommen.«
»Gut. Sag’s ihm. Es ist schließlich dein Leben und deine Gebärmutter.«
Für geraume Zeit schwieg sie, stand dann abrupt auf und fuchtelte mit ihren Armen herum: »Herrgott, ich bin Psychologin und unfähig, meinem Mann zu sagen, dass ich vorerst noch keine Kinder will!«
»Es ist stets einfacher, fremde Gärten umzupflügen als den eigenen.«
Sie murmelte einen Dank.
Fünf Minuten später standen beide in Gordons Büro, um die Akte des Opas zu suchen; Der machte sich meist Notizen, wenn ihn ein ungebetener Gast besuchte, dem was auf der Seele lag. Sammy war bereits wieder genervt: »Himmel, Gord, hier drin herrscht ja das absolute Chaos!«
»Na ja, bin halt kein Büromensch«, entgegnete der trübsinnig.
Sie schüttelte energisch den Kopf und befand: »So geht das nicht. Ich möchte, dass du dir eine Hilfe einstellst, die dir das Büro macht. Sie kann auch gleich deine Post erledigen. Da draußen liegen garantiert Rechnungen herum, die mindestens drei Monate alt sind. Zusätzlich stellst du eine Putzfrau ein!« An der Tür drehte sie sich noch mal um und hob ihren Zeigefinger. »Und bis morgen früh um neun stehst du mit der Akte von dem Opa im Revier!«
Gordon schaute sie mit heruntergezogenen Mundwinkeln an.
»Sind wir uns einig?«
»Wir sind uns einig, dass du mir soeben den Morgen versaut hast.«
»Es ist Nachmittag! Also, sind wir uns einig?«
»Wir können einen Deal machen. Ich stell eine Hilfe ein, die mir das Büro und meine Post macht, wenn ihr sie bezahlt. Dafür bezahl ich aus eigener Tasche eine Putzfrau und bin morgen um neun mit den Unterlagen, falls vorhanden, auf dem Revier. Wohlgemerkt, eine unverschämt frühe Zeit.«
Mit vor der Brust verschränkten Armen biss sich Sammy auf die Unterlippe, während sie anscheinend darüber nachdachte, ob sie Gordon an die Gurgel springen oder davonlaufen sollte. Da sie ihn allerdings brauchten, sagte sie: »Okay, ich rede mit dem Chief.«
»Und mit deinem Mann, vielleicht bist du danach ein wenig umgänglicher.«
Die Antwort gab seine Haustür, die mit einem lauten Knall zugeschlagen wurde.
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