von: Jill Grey
1. Mai 2022

Leseprobe aus: „Der Pakt II – Sabenias Schrifen“ von Jill Grey

Annabelle lebt in einer Ehe, die von Regeln bestimmt wird. Ihr Mann George driftet allmählich in den Wahn ab, während seine Misshandlungen ausarten. Nachdem er Anny eines Nachts besonders übel mitgespielt hat, erscheint ihr eine Hexe und bietet ihr einen Pakt an, der ihr die Befreiung aus ihrer Misere ermöglicht.
Anny willigt ein. Für 24 Stunden pro Woche gehört ihr Körper fortan der Hexe Cassandra. Ein Körper ist jedoch nicht dafür geschaffen, zwei Seelen zu beherbergen, zumal diese nicht verschiedener sein könnten:

Annabelle, eher prüde, mit einem trockenen Humor – und Cassandra, hemmungslos, unkontrollierbar und stets auf Jagd nach einem (sexuellen) Abenteuer. Als die junge Frau durch ihren Erfolg als Bestsellerautorin in das Blickfeld der Öffentlichkeit rückt, spitzen sich die Eskapaden der Hexe zu.
Gibt es einen Weg, den Pakt aufzulösen? Als Anny die Antwort erfährt, gefriert ihr das Blut in den Adern. Es gibt vier Optionen – doch eine ist inakzeptabler und schrecklicher als die andere...

© Buchcover

»Der Pakt II – Sabenias Schriften«

 

Die Fortsetzung von »Der Pakt« beginnt zwei Jahre nach Cassandras Verjüngung …

Annabells Leben scheint wieder in geregelten Bahnen zu verlaufen, sofern man das sagen kann, wenn man mit zwei Hexen aus einer Exilwelt befreundet ist. Ihr Bestseller, »Der Pakt«, wird verfilmt und Annabelle plant mit ihrer Mutter eine Reise in die Schweiz.

Derweil versucht Cassandra endlich eine feste Bindung einzugehen und stolpert dabei durch zahlreiche Katastrophen. So gesehen hat sich nicht viel verändert.

An einem schönen Tag, die alte Hexe Mimi ist bei Annabelles Mutter, Lisa, und deren Freundin Mary in London zu Besuch, bricht Mimi in deren Wohnung zusammen. Im Spital teilt der Arzt der kleinen Gruppe mit, dass er nichts mehr für Mimi tun könne, ihr Körper gebe schlichtweg auf und sie werde sterben.

Cassandra ist nicht bereit, dies zu akzeptieren. So kommt es, dass Annabelle ihre Freundin, die vollkommen neben der Spur ist, im Exil hilft, diverse Heilmittel zusammenzustellen, welche Mimi soweit stabilisieren sollen, damit sie wieder durch das Portal ins Exil reisen kann. Der innige Wunsch der alten Hexe ist, in ihrem eigenen Haus sterben zu können.

Und sie schaffen es, Mimi kommt heim. Doch während Cassandra sie heimholt, wird Annabelle im Exil von einer anderen Hexe entführt, die den Pakt und das Portal nach England für sich nutzen will …

 

Kurzer Rückblick

Im ersten Teil »Der Pakt« schloss Annabelle, nachdem ihr Mann, George, sie ein weiteres Mal vergewaltigt und zusammengeschlagen hatte, einen Pakt mit der damals 482 Jahre alten Hexe Cassandra. Diese erfüllte ihr diverse Wünsche, im Gegenzug durfte die Hexe ihren Körper benutzen, um durch ein Portal aus ihrer tristen Welt im Exil nach London zu reisen, während Annabelle (in der Illusion ihres Körpers) in der Exilwelt bei Mimi blieb. Im Exil existieren weder Farben noch Gerüche, so gesehen haben auch Nahrungsmittel keinen Geschmack.

Nach einem zweiten Deal mit Cassandra schenkte Annabelle auch ihrer Mutter die Freiheit aus deren Ehehölle. Fortan gehörte ihr Köper für 24 Stunden die Woche der Hexe. Leider ist ein Körper nicht dafür geschaffen, zwei Leben zu beherbergen, sagte ihr Mimi einmal. Alsbald erkannte auch Annabelle, dass die Hexe einen unkontrollierbaren Dämon in sich trug. Als sie dann durch ihren Bestseller, eine Krimikomödie, vermehrt in der Öffentlichkeit stand, wurden Cassandras Fehltritte für sie allmählich untragbar, die mit ihrem Verhalten anfing, Annabelles neuerworbenes Leben zu zerstören.

Mimi erläuterte Annabelle die vier Optionen, durch welche eine Auflösung des Paktes möglich waren. Schweren Herzens entschied die sich für eine Schwangerschaft, der Samenspender sollte ihr homosexueller Freund Justin sein. Bei einer Voruntersuchung teilte ihr der Gynäkologen jedoch mit, dass sie sterilisiert sei. Wieder einmal hatte Cassandra, welche den Pakt keinesfalls auflösen wollte, ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Und so kam es, dass Annabelle der Hexe die Jugend zurückgab. Dies ist sehr wohl machbar, hierfür braucht man lediglich die Kostbarkeit eines Mannes, aus dessen Samen Mimi ein Verjüngungselixier herstellen konnte. Die vermeidlichen Opfer, allesamt Kinderschänder, fanden sie mit Hilfe von Olga, einem Totenschädel. Die Observierung der Opfer – in deren Leben sie durch Olgas Schädel Einblick hatten – übernahmen ihre Mutter Lisa und deren Freundin Mary.

Die Auserwählten, welche der Hexe die Jugend zurückgeben sollten, wurden im Anschluss dieses barbarischen Aktes, so bezeichnete Annabelle ihre Tat, in Ratten verwandelt, für die sie bis an deren Lebensende sorgen musste. Mister X war der Erste und es sollten noch viele folgen, bis die narzisstische Hexe faltenfrei war.

Nach der Auflösung des Paktes schrieb Annabelle einen neuen Roman »Der Pakt« und Justin, der auch diesen Bestseller las, konnte nun eins und eins zusammenzählen. Annabelle ihrerseits war erleichtert, dass neben ihrer Mutter und Lisa, jetzt auch ihr bester Freund Kenntnis von ihrem Geheimnis hatte.

Sie schloss mit der alten Mimi, die, wie Cassandra, ihre Freundin geworden war, und schon seit Ewigkeiten das Exil nicht mehr verlassen konnte, einen neuen Pakt, damit sie für zwei Stunden die Woche nach London kommen konnte. Und glaubte sie nach der Verjüngung Cassandras und der Auflösung des Paktes, ihr Leben würde endlich in geregelten Bahnen verlaufen, hatte sie sich gewaltig getäuscht.

 

 

1

Zwei Jahre sind vergangen, seit Cassandra ihre Verjüngungskur abgeschlossen hat …

Behutsam legte Annabelle den kleinen Körper von Mr B in ein Tuch, was von Mary und Lisa in andächtigem Schweigen mitverfolgt wurde. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, währenddessen Mary Lisa zuflüsterte: »Deine Tochter hängt wirklich an den Viechern, glaub Mr B’ Tod geht ihr nahe.«

»Sie hat sie ja seit zwei Jahren um sich und sorgt gut für sie«, erwiderte Lisa ebenso im Flüsterton.

»Daran zweifle ich nicht, trotzdem, es sind dennoch Ratten, die, in menschlicher Form, eben auch Ratten waren.« Sie blickte auf das Tuch, das Annabelle in eine Tasche legte. »Ich denke bei Mr B hat die Leber versagt, bedenkt man, was der zu Lebzeiten gebechert hat.«

Lisa nickte ihr bestätigend zu. »Ja, zwei Tage bevor er zur Ratte wurde, war er beim Arzt und der hat ihm exakt das prophezeit, wenn er nicht mit dem Alkoholkonsum kürzertreten würde.«

»Ihr könnt aufhören zu flüstern, ich höre euch«, schaltete sich Annabelle ein.

Ihre Mutter, Lisa, legte ihr den Arm um die Schulter und sagte tröstend: »Jetzt ist Mr B im Rattenhimmel und dort wird es ihm gutgehen.«

»Mom, ich bezweifle stark, dass es einen Rattenhimmel gibt.«

Mary hüstelte und gluckste: »Das wäre doch was, einen speziellen Himmel für Kinderschänder in Rattenform.«

Lisa schaute ihre Freundin irritiert an. »Mir stellt sich vielmehr die Frage, ob Mr B als Mensch oder Ratte dorthin kommt? Damit meine ich den Himmel, in den meiner Ansicht nach alle Wesen kommen, einerlei wie sündig sie gelebt haben.«

Die drei sahen sich ratlos an, offenkundig hatte niemand eine Antwort auf diese fundamentale Frage.

Mary trat an den gigantischen Käfig, den Annabelle im hinteren Teil des Wohnzimmers hatte einbauen lassen und betrachtete die Ratten – es waren nur noch sieben.

»Ratten sterben, habe ich gelesen, sowieso früh. Und ich befürchte, Mr G wird der nächste sein, was bei seinem Gewicht zu erwarten wäre.«

»Jetzt fängst du auch noch an«, sagte Annabelle vorwurfsvoll.

Jeder, der Mr G zu Gesicht bekam, konnte sehen, dass die Ratte übergewichtig war. Lisa sprang für ihre Tochter in die Presche und verteidigte die Ratte: »Mr G war bereits als Mensch überaus korpulent, das weißt du genau Mary.«

»Ja, schon, bloß fällt es einem jetzt mehr auf, man sieht ja kaum noch seine kleinen Beinchen.«

»Hast du etwas gegen dicke Menschen? Ich bin nämlich ebenfalls korpulent!«, sagte Lisa spitz. Worauf ihre Freundin sogleich relativierte: »Du bist keineswegs korpulent, ich liebe deine Rundungen und du bist schließlich keine Ratte.«

Einmal mehr dachte Annabelle, das Mary und ihre Mutter das Abbild von Cassandra und Mimi waren, wobei derlei Zankereien bei den beiden Hexen meistens ausarteten. Um die Wahrheit zu sagen, hing sie tatsächlich an ihren Ratten, womöglich, weil sie sich äußerst menschlich verhielten, nun gut, es waren ja auch Menschen – irgendwie. Als sie heute Nachmittag Mr B tot aufgefunden hatte, lag er inmitten eines Kreises der anderen Ratten und sie schienen alle zu trauern. An diesem Trauertag spendierte sie den Übrigen ein paar Tropfen von Justins Brandy, den sie so mochten und versprach Mr B ein würdiges Begräbnis zu geben, wie seinen Vorgängern, die verstorben waren.

»Bist du bereit meine Tochter?«, fragte Lisa.

Die drei verließen das Hotel, in dem Annabelle das Dachappartement bewohnte, inklusive Terrasse. Sie hatte das Appartement günstig kaufen können, da die wenigsten in einem Hotel leben wollten, sprich, konstante Nachbarschaft bevorzugt wurde. Annabelle störte es nicht, zumal der Lift nur mit ihrem Schlüssel in den obersten Stock fuhr. Sie hatte selten Kontakt zu den Gästen, hingegen hatte sie sich mit Randy, dem älteren Portier, der meist die Tagesschicht machte, angefreundet.

Zwanzig Minuten später, es war kurz nach Mitternacht, legte Annabelle das Tuch, in welchem sich Mr B’ Körper befand, in eine kleine Grube, die sie unter einer alten Tanne ausgehoben hatte. Unter dieser Tanne im Southwark Park, der zwischen ihrem und Lisas und Marys Appartement lag, befand sich sozusagen der Rattenfriedhof. Sie sprach ein paar Worte, zum Beispiel, dass Mr B im Leben kein anständiger Mensch gewesen sei, dafür als Ratte vorbildlich. Dabei musste sich Mary erneut das Schmunzeln verkneifen. Abschließend sagte sie, dass sie hoffe, dass er seinen Frieden gefunden hat und in den Himmel gekommen ist, schielte dann kurz zu ihrer Mutter und merkte nüchtern an: »Als Mensch, so hoffe ich. Ruhe in Frieden, Mr B, Amen.«

Sie schüttete mit der kleinen Handschaufel das winzige Grab zu und trat die Erde fest.

 

Die drei Frauen beerdigten die Ratten stets nach Mitternacht im Park, da der dann verlassen war. Mary meinte, dass es kaum gestattet sei, tote Tiere im Park zu begraben, da würden die Eltern, die mit ihren Kindern hier spielten, Amok laufen.

Cassandra hatte die glorreiche Idee, als die erste Ratte das Zeitliche segnete, sie in der Toilette runterzuspülen. Lisa dagegen meinte, es gäbe bestimmt so eine Stelle, wo man Kadaver abgeben könne, bei Annabelle stieß allein das Wort Kadaver sauer auf. Sie entschied sich für eine Erdbestattung, das schien ihr angebracht.

Nach jeder Bestattung blieben sie eine Minute schweigend am kleinen Grab stehen. Lisa dachte an Mr B, wie sie ihn in menschlicher Form in Erinnerung hatte – sie und Mary hatten ihn fast drei Wochen mithilfe von Olgas Schädel observiert –, besann sich seines Sohnes, der damals bei seiner Exfrau lebte und fragte sich, ob der noch an seinen Vater dachte, der plötzlich verschwunden war. Hatte er sich damit abgefunden oder würde er, als Erwachsener, nach ihm suchen?

Auch Mary war in Gedanken bei Mr B als Mensch und sie trauerte diesem Mann, beziehungsweise Ratte, keine Sekunde nach. Er war ein Kinderschänder der übelsten Sorte gewesen und zudem in jeder Beziehung beispiellos schlampig, hatte, wenn es hochkam, jeden dritten Tag einmal geduscht.

Annabelle war während dieser Schweigeminute ausschließlich bei Mr B in Rattenform. Ein Vorteil, dass sie die Objekte selbst nie überwacht hatte. Mr D würde ihn vermissen, die zwei kuschelten sich gerne aneinander, wenn sie schliefen. Sie waren dicke Freunde geworden.

Wenn sämtliche Misters gegangen wären, würde es sehr still und leer in ihrem Appartement werden. Sie sprach oft mit ihnen und schlichtete Streitereien, die in der kleinen Rattenwelt sporadisch ausbrachen, allen voran, wenn es ums Futter ging. Sie hatte ihnen darüber hinaus einen kleinen tragbaren Fernseher hingestellt, damit sie sich gelegentlich einen Film ansehen konnten und die Ratten liebten ihre Filmabende. Ja, Annabelle Scott musste sich eingestehen, dass sie die kleinen Nager vermissen würde und die Zeit, in der sie starben, war absehbar.

»Geht es dir gut, Liebes?«, holten Lisas Frage sie aus ihren Grübeleien.

»Ja, Mom.«

»Also können wir endlich zum lustigen Teil der Beisetzung kommen? Dem Leichenschmaus?«

»Mary, du hörst dich an wie Cassy!«, tadelte Lisa ihre Freundin.

»Dann gleicht sich das ja aus, du und Anny seid ein Duplikat von Mimi.«

 

Der Leichenschmaus fand für gewöhnlich in Marys Appartement statt, in das Lisa vor einem Jahr eingezogen war. Die Bewohner des Hauses, allesamt aufgeschlossene Senioren, hatten absolut kein Problem damit, dass Mary und Lisa ein Paar waren. Okay, Edgar, der Lisa über einen längeren Zeitraum Avancen gemacht hatte, musste diese ›Sache‹, wie er sie betitelte, erst verdauen. Aber als eine geschiedene ältere Dame in Lisas Appartement eingezogen war, war der Verdauungsprozess für ihn abgeschlossen. Der ältere Herr hatte ein neues Objekt der Begierde gefunden, welches zu seiner Freude außerordentlich angetan war, sich von ihm umwerben zu lassen.

Mary füllte drei Gläser mit Eierlikör – der Leichenschmaus-Trunk –, dann stießen sie auf Mr B an. Nach dem dritten Glas erkundigte sich Mary: »Sag mal, Anny, wie läuft es eigentlich mit dem Schreiben des Drehbuches?«

Annabelle hatte ein Angebot bekommen, man wollte »Der Pakt« verfilmen und die Filmrechte zu verkaufen hatte sie in ihren Augen reich gemacht. Sie wollte das Drehbuch selbst schreiben, hatte allerdings niemals damit gerechnet, welche Herausforderung das sein würde. Antonio, er war Drehbuchautor, hatte sich anerboten zu helfen.

Bevor sie antworten konnte, lachte Lisa: »Frag doch gleich, ob es mit Antonio läuft?«

Augenblicklich stieg ihrer Tochter die Schamröte ins Gesicht. Gewiss, sie verbrachte viele Stunden mit Antonio und genoss die Arbeit mit ihm, doch mehr würde nie daraus werden. Einerseits war er für sie zu jung, er war vierundzwanzig, sie neununddreißig, anderseits hatte sie erkannt, dass das Leben, welches sie führte – die Verbindung zum Exil und die Freundschaft mit den Hexen –, keinesfalls kompatibel mit einer festen Beziehung war. Nach ihrem Ermessen sollte man in einer festen Bindung Offenheit leben, und genau da lag der Hund begraben.

»Gut, sehr gut«, gab sie sparsam zurück.

»Definiere – sehr gut«, bohrte Mary weiter. »Seid ihr jetzt ein Paar?«

Mary unterschied sich nur geringfügig von Cassandra, denn die hätte an dieser Stelle gefragt, was er in der Kiste leistet. Sie sagte, dass Spanier ausgezeichnete Liebhaber seien, was Annabelle bisher weder bestätigen noch dementieren konnte. Zugegeben war Antonio ausgesprochen gutaussehend. Und ja, sie hatte zwischenzeitlich vereinzelt Nächte mit Männern verbracht, natürlich nicht in dem Ausmaß, indem es die Hexe praktizierte, aber es war nie eine feste Bindung daraus entstanden.

»Nein, sie sind kein Paar und jetzt hör auf meine Tochter zu verhören und übe dich in Geduld.«

»Ich verhöre sie nicht, Lisa, ich möchte lediglich, dass Anny glücklich ist.«

»Ich bin glücklich«, verteidigte die sich und überlegte sich im Stillen, ob sie glücklicher wäre, wenn sie sich verlieben, in einer festen Partnerschaft leben könnte.

Ihre Mutter klatschte in die Hände. »So, genug über das Liebesleben meiner Tochter, wenn alles gut läuft, lernen wir diesen außergewöhnlichen Mann ja irgendwann kennen.«

»Oder er stellt sie seiner Familie vor«, gluckste Mary und brach in Gelächter aus, alle lachten beim Gedanken an Cassandra, welche in den letzten zwei Jahren des Öfteren versucht hatte, eine feste Beziehung aufzubauen – erfolglos.

 

Cassandras letzter Partner war der Typ »Familienmensch« und statt des erhofften romantischen Kerzenlicht-Dinners in einem der erlesensten Restaurants Londons, dem Launceston Place, erwartete die Hexe dort seine gesamte Sippschaft, welche begierig darauf war, seine reizende Freundin kennen zu lernen. Clive erlag dem Irrglauben, das Treffen würde seiner Angebeteten schmeicheln und sie würde erkennen, dass er es bitterernst meinte. Nun ja, es wurde bitterernst, aber anders, wie er sich das vorgestellt hatte.

Da die Hexe sich voll und ganz auf ein romantisches Dinner eingestellt hatte, war ihre Laune ziemlich mies, weil anstelle der Romantik Clives Familie aufmarschierte. Und dann so zahlreich, sie hatte ja keinen blassen Schimmer, dass ihr Freund ein Rudeltier war. Da hockten seine Eltern, einschließlich Großeltern mütterlicherseits, und seine Schwester hatte neben ihrem Mann noch zusätzlich zwei Kinder im Schlepptau. Und selbstredend waren Clives Tantchen und Onkelchen mit von der Partie, kurzum, der romantische Zweiertisch war zu einem Großfamilientisch umfunktioniert worden und alle glotzten die Neue von Clive unverhohlen an.

Der Aperitif verlief ohne größere Zwischenfälle, man könnte sagen, es war das Vorstellungsritual, mit der mehrmaligen Betonung der Großfamilie, welche Freude es sei, Cassandra Saltimo kennenzulernen.

»Woher stammt dieser Name, Saltimo?«, schleuderte Großmütterchen die Frage über den Tisch, schob dann in leichtem Unterton nach: »Sie stammen nicht aus England, oder?«

Zu diesem Zeitpunkt wiederholte Cassandra im Geiste längst, gleich einem Mantra: ›Du bist ruhig … Du bist ruhig …‹, bevor sie schnippisch antwortete: »Der Name stammt aus einem edlen Geschlecht, ich bezweifle, dass man es auf eurer kleinen Insel, genannt England, finden kann. Ergo, ich stamme sicherlich nicht aus England.«

Kollektives Schlucken war bei Clives Verwandtschaft wahrzunehmen und er selbst bedachte seine Freundin mit einem Ausdruck, der pures ›Nichtverstehen‹ widerspiegelte. Die Hexe hob ihren Arm und bestellte den nächsten Drink, revidierte dann und machte einen Doppelten daraus.

»Und welchen Beruf üben Sie aus?«, führte Tantchen die Fragestunde fort.

Die Hexe blies die Backen auf, atmete einmal tief durch und antwortete trocken: »Seh ich aus, als ob ich es nötig hätte zu arbeiten? Sonst noch was?«

Dieses Kennenlern-Dinner, so nannte es ihr Freund, überstand zu seinem Bedauern das Essen nicht. Cassandra Saltimo schaffte es zwar, ihr wallendes Blut bis zur Vorspeise runter zu kühlen, doch als Clives Schwester mit der Frage: »Und wollen Sie denn irgendwann Kinder haben?«, weiterbohrte, platzte ihr der Kragen endgültig und sie keifte lauthals: »Bin ich für euch etwa eine Gebärmaschine oder ein exotisches Tier im Zoo? Verdammt, ich komme mir vor wie eine Arome auf dem bekackten Viehmarkt!« Danach gab die Hexe einiges von sich, was die möglichen, künftigen Schwiegereltern, inklusive des mitgebrachten Anhangs, um keinen Preis hören wollten. Und nachdem sie auf Nimmerwiedersehen sagte und aus dem Restaurant marschierte, gefolgt von jedem einzelnen Augenpaar der Gäste, war Clives Familie zu geschockt, um auch nur einen Ton von sich zu geben.

Nach geschlagenen fünf Minuten betretenen Schweigens, fragte die Großmutter: »Clive, mein Junge, was ist eine Arome auf dem Viehmarkt?«

 

Dasselbe hatte Lisa und Mary die alte Mimi gefragt, als sie bei einem Besuch die Geschichte zum Besten gab. Eine Arome, setzte Mimi sie ins Bild, sei zu vergleichen mit einer Kuh, auf ihrem Heimatplaneten Sarhanas ein wichtiges Nutztier, das Milch gibt, allerdings auf keinen Fall zum Verzehr geeignet ist, ihr Fleisch sei so zäh, dass man es Tagelang hätte kauen müssen, um es runterzubekommen.

In Erinnerungen schwelgend lachten die drei Frauen herzlich bei ihrem Leichenschmaus-Trunk. Cassandras Bemühungen, eine feste Bindung einzugehen, waren bis anhin allesamt gescheitert.

»Der arme Clive. Aber er ist in bester Gesellschaft. Wie hieß nochmal dieser nette Mann, der an der Börse arbeitete?«, warf Lisa in die Runde.

»Du meinst sicher Matty«, sagte Annabelle, »mit dem war sie tatsächlich vier Wochen zusammen.«

»Demzufolge hat er den Rekord gebrochen«, meinte Lisa und Mary schmunzelte: »Ich erinnere mich, wie aufgebracht Cassy hier aufgetaucht ist.« Sie mimte die raue Stimme der Hexe nach und zeterte, mit in die Hüften gestemmten Fäusten: »Stellt euch vor, das Weichei sagte allen Ernstes, dass ich, Cassandra Saltimo, zu dominant für ihn sei! Kann man sich das vorstellen?!«

Abermals brachen sie in Gelächter aus, bis Lisa betrübt sagte: »Ja, Cassys soziale Kompetenzen sind erwiesenermaßen korrekturbedürftig. Mir tut sie leid, ich befürchte, in dieser Welt wird sie keinen Mann finden, der die Courage besitzt, ihr die Stirn zu bieten.«

»Und mit ihren Launen klarkommt«, ergänzte Mary und Annabelle fügte hinzu: »Oder ihrem exzessiven Drang die Nächte durchzuzechen. Und mal unter uns, ich bin nicht davon begeistert, dass sie neuerdings die sozialen Medien entdeckt hat. Die alte Hexe ist auf Facebook, Twitter, Instagram und was es sonst gibt, sie postet jeden Schwachsinn.«

»Du machst dir Sorgen, stimmt’s?«

»Wie könnte es anders sein, Mom, wir alle kennen Cassy und ihre frivole Lebenseinstellung, Mäßigung gehört mitnichten zu ihren Tugenden. Paart man das mit den sozialen Medien, wird das kein gutes Ende nehmen.«

Nun nickten Mary und Lisa ernst und beipflichtend.

Annabelle stand auf. »Ich gehe dann. Übrigens, Mom, hast du die Digitalkamera gekauft?«

»Nein, Mary und ich wollen uns morgen umsehen.«

»Und Mary möchte sich dann nicht bloß Fotos von unzähligen Bergen und Kühen ansehen müssen«, sagte die gespielt mürrisch. Worauf Lisa ihrer Tochter zuzwinkerte, und sagte: »Sie mimt weiterhin die Beleidigte, weil wir eine Woche in der Schweiz Ferien machen.«

»Stimmt doch gar nicht«, sagte Mary, »ich freue mich für euch, aber ausgerechnet die Schweiz? Dieses Land ist so klein, da fällt man zweimal hin und hat alles gesehen oder stößt sich prompt die Nase am nächsten Berg an.«

»Du übertreibst«, lachte Lisa, »zudem wollen wir den einen und anderen Berg von Oben ansehen.«

»Zu Fuß?« Ihre Freundin war aufgebracht. »Willst du dir dort drüben einen Herzinfarkt holen?«

»Iwo, es gibt auch in der Schweiz Gondeln und Seilbahnen.« Lisa sah ihre Freundin liebevoll an. Sie hatten ihr anerboten mitzukommen, doch Mary musste mit ihrem verstorbenen Mann unzählige Wanderungen absolvieren und hatte genug davon, und ja, für sie galt; Schweiz = Berge, Kühe und Wandern.

»Mimi freut sich wie ein Kind, wenn sie ihre zwei Stunden dort verbringen kann«, sagte Annabelle, die es bereute, dass sie Mimi seinerzeit nicht überreden konnte, ihr für die Gabe jemandem – sprich Cassandra – der Stimme zu berauben, mehr Stunden zu geben. Heute musste sie der Hexe nur mit erhobenem Finger drohen, fing die an wie ein trotziges Kind herumzumaulen, und sie verstummte unverzüglich. Sagte Cassandra früher Annabelle sei bescheiden, was ihre Wünsche anbelangte, so war die alte Mimi die Gründerin der Bescheidenheit.

 

2

Seit einem Jahr stand in Miss Piggys Gehege ein Korbstuhl, in welchem es sich die alte Mimi jeden Tag eine Weile bequem machte, um sich mit dem Schwein zu unterhalten, wenngleich derlei Unterhaltungen stets einseitig verliefen. Der Grund, dass Mimi das tat, war, dass sie sich einsam fühlte. Und weshalb sie sich so fühlte, lag auf der Hand. Cassandra, die ihre Jugend wiedererhalten hatte, schaute nur noch selten bei ihr im Exil vorbei. Trotz der ungestümen Art der Hexe und der Tatsache, dass die zwei Freundinnen permanent aneinandergerieten, vermisste Mimi sie. Im Haus auf dem Berg war es still und leer geworden.

Dazu vermisste sie die Zeit mit Annabelle. Während des Pakts mit Cassandra war sie regelmäßig bei ihr. Annabelle hatte ihr anerboten in den zwei Stunden, in denen Mimi in London war – meistens verbrachte sie die Zeit dort mit Lisa und Mary –, im Garten das Unkraut zu jäten, was Mimi eine immense Unterstützung war. Sie hätte sie auch so, ihn ihrer eigenen Gestalt, ab und zu besuchen können, zu ihrem Leidwesen machte die oft ruppige Reise durch das Portal ihrem alten Körper vermehrt zu schaffen und erschöpfte sie zunehmend.

Und da waren die Gerüchte in Little Exil Town, der Kleinstadt im Exil. Man munkelte von einem Jungbrunnen, aus dem Cassandra emporgestiegen sei. Es gab durchaus ein paar naive Leute, die sich auf die Suche nach dem Brunnen machten, einerlei ob Mimi das vehement dementierte, mit dem logischen Argument, dass, wenn ein solcher Brunnen existieren würde, sie freilich auch ein Bad darin genommen hätte.

Nein, die wenigsten in der kleinen Stadt schluckten das Märchen mit dem Verjüngungszauber und ebenso wenig hatte die Gerüchteküche bis heute aufgehört zu brodeln. Ein paar von der älteren Generation hatten bereits mit der Bitte bei Mimi vorgesprochen, ihnen auch diesen Dienst zu erweisen. Inklusive die sich wiederholende Frage, wieso Mimi den Zauber, wenn es denn kein Jungbrunnen gewesen sei, nicht auch bei sich angewandt habe. Hierbei schwafelte Mimi etwas von Zutaten, die nur für eine Verjüngung gereicht hätten und das Los hätte Cassandra gezogen. Ja, alle waren sie davon überzeugt, dass es unmöglich Cassandra gewesen sein konnte, jeder wusste, dass, was die Magie anging, Mimi die wahre Meisterin war, das war ihre Domäne. Damit lagen sie richtig. Cassandra scherte sich einen Dreck um Bücher und alte Schriften, in welchen wahre Wunder schlummerten. Sie war schlichtweg zu faul, um sich weiterzubilden und schließlich hatte sie hierfür ja ihre Freundin. Aber was würde sie anstellen, wenn ihre Jugend auf ein Neues der Vergangenheit angehörte und ihre Freundin fort war? Denn genau das könnte in absehbarer Zeit eintreffen. Ersteres lag auf der Hand, mäßigte sich Cassandra Saltimo nicht ein bisschen. Bei jeder Anwendung von Magie schritt ihr Alterungsprozess ein klein wenig rasanter voran. Und das schloss mit ein, dass sie, anstatt die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, sich zu Hause auflöste, um sich an dem gewünschten Ort zu materialisieren.

Mimi hatte sie einmal diesbezüglich angesprochen, weil Cassandra anfangen wollte zu jammern, dass sie fast zusehen könne, wie die Faltenbildung im Begriff war aus ihrer Gruft zu steigen. Ihre Antwort war typisch: »Seh ich aus wie eine primitive Pendlerin, die sich in Taxis oder schlimmer, die U-Bahn, setzt? Hast du eine Ahnung, welchem Gestank man sich in diesen Wagen aussetzen muss? Die ganzen Körperausdünstungen, das ist ja nicht zum Aushalten. Und der Rücksitz eines Taxis, all die Keime, die da herumliegen, ekelhaft!«

»In einem Punkt gebe ich dir recht, Cassy, als Pendlerin würdest du, so wie du herumläufst, in einer U-Bahn auffallen wie ein Grogo in einem Tierheim in London.«

Ein Grogo war auf Sarhana zu vergleichen mit einem Hund, hingegen machte der Grogo den Anschein, als hätte man eine Bulldogge mit einer Echse gepaart.

»Soll das eine Anspielung auf meinen verflossenen Liebhaber auf Sarhana sein?«, frage Cassandra daraufhin beleidigt. Vermutlich, die Hexe hatte ihren Freund – sie hatte ihn mit einer anderen Frau im Bett erwischt – auf seinen Penis reduziert und den an seinen Grogo verfüttert. Besagte Tat hatte ihr die Verbannung ins Exil eingebracht, ohne der Aussicht, je begnadigt zu werden. Und dieses Exil war eine kleinere Nachbildung von Sarhanas, oder wenigstens die Illusion des Planeten. Man möchte jetzt denken, dass das ja keine wirkliche Strafe sei, weit gefehlt. Im Exil existierten nämlich weder Farben noch Düfte, somit waren die Geschmacksnerven fürwahr überflüssig. Man hätte drei gehäufte Löffel Salz anstelle von Zucker in den Tee geben können, ohne einen Unterschied zu bemerken, so gesehen war auch der Zucker und Gewürze vollkommen nutzlos.

»Glaubst du ernsthaft, ich reite auf Dingen herum, die Jahrhunderte zurückliegen?«, wetterte Mimi. »Was ich damit andeuten will, ist, dass du offensichtlich niemals aus deinen Fehlern lernen wirst oder anfängst darüber nachzudenken, was für Folgen dein Handeln haben könnte.«

»Ich will aber nicht mit der primitiven Bevölkerung von London pendeln! Okay, wir sind uns einig, dass wir uneinig sind.«

Die alte Mimi seufzte. »Mitunter habe ich den Eindruck, dass du es anlegst, dich in Schwierigkeiten zu bringen. Es geht darum, dass dir sehr wohl bewusst ist, dass du viel schneller wieder altern wirst, benutzt du deine Fähigkeiten und sei es nur um das Pendeln zu vermeiden. Und es geht darum, dass ich es leid bin, dein Gejammer anhören zu müssen. Du kennst die Konsequenzen, ergo, benimm dich den Gegebenheiten entsprechend erwachsen und übernimm Verantwortung.«

Die Antwort auf Mimis Rede war Cassandras Abgang, wohlgemerkt ohne sich zu verabschieden. Das war vor zwei Wochen gewesen, seither hatte sie sich rar gemacht. Das sollte sich an diesem Tag ändern.

 

Versonnen betrachtete Mimi das Hausschwein, Miss Piggy, und besann sich Pater Jerichos Besuch am Morgen. Wo der Priester für gewöhnlich seine Schäfchen, denen er ins Gewissen reden musste, in die Kirche zitierte, kam er heute persönlich den Berg hinauf. Mimi, die keines seiner Schäfchen war – sie besuchte nie den Gottesdienst –, staunte angemessen, als sie ihm die Haustür öffnete: »Pater Jericho, mit Ihnen hätte ich am allerwenigsten gerechnet.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie oft allein auf dem Berg sind, und ich entschied, Sie zu besuchen und mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.«

Dem konnte die Hexe schwerlich Glauben schenken, Jericho würde keinesfalls nur deshalb den weiten Weg auf sich nehmen.

Nachdem sie sich bei einer Tasse Tee ausführlich über das Wetter unterhalten hatten – im Exil war es kontinuierlich Frühsommer, insofern war das Thema schon nach ein paar Minuten ausgeschöpft –, kam der Priester auf den Punkt. »Mimi, Ihnen ist sicherlich bekannt, dass die Gerüchte über Cassys Verjüngung nicht verstummen wollen.«

»Ja, darüber bin ich informiert. Die Frage ist, was Sie von mir erwarten?«

»Die Wahrheit.«

Okay, das waren für einmal klare Worte und Mimi befand sich in einem Dilemma, da es ihr missfiel, einen Priester anzulügen, und auch wenn sie keiner Religion folgte, fühlte sich das nach einer Sünde an. »Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, Pater, es tut mir leid.«

»Das habe ich vermutet. Die Bewohner von Little Exil Town fragen sich darüber hinaus, wo Cassy sich seit ihrer Verjüngung aufhält, man sieht sie selten noch. Manche behaupten, dass sie nicht mehr im Exil ist.«

Die alte Mimi lachte, obschon ihr Lachen verkrampft wirkte. »Wo sollte sie denn sonst sein, Pater?«, stellte sie eine Gegenfrage.

»Das frage ich Sie, Mimi.«

»Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, weil ich nicht weiß, wo sie ist.«

Nun gut, die Ausrede fühlte sich weniger wie eine Lüge an, da Mimi wirklich ahnungslos war, wo sich ihre Freundin derzeit in London herumtrieb.

Während des ganzen Gesprächs windete sich Mimi um viele Ecken und sie war dankbar, dass der Priester nach einer halben Stunde aufstand und Anstalten machte zu gehen. Sie begleitete ihn zur Tür, wo er ihr seine Bitte vortrug, um sie dann mit offenem Mund zurückzulassen.

Es war das erste Mal gewesen, dass die zwei Hexen einen Pakt aufgelöst hatten, indem sie es schafften, Cassandra nicht nur ein paar Jahre, sondern ein paar Jahrhunderte zu verjüngen. Mimi hatte bislang keinen Pakt auf diese Weise aufgelöst, was unnötig war, da sie – im Gegensatz zu Cassandra – sich zu benehmen wusste. In Annabelles Situation jedoch war es unumgänglich, den Pakt mit Cassandra aufzulösen, hätte die ansonsten ihr Leben zerstört.

Beide Hexen hatten damit gerechnet, dass diese Verjüngung in Little Exil Town zu reden geben würde, doch dass das Gerede auch nach zwei Jahren nicht verstummen wollte, das war überraschend. Des Weiteren hatten sie nicht bedacht, dass Cassandras Verschwinden Folgen haben könnte. Zweifelsohne war es nachvollziehbar, dass die Hexe London der tristen und geschmacklosen schwarzweißen Welt im Exil vorziehen würde. Nichtsdestotrotz wäre es klug, sich zuweilen in der Stadt blicken zu lassen. Vor Kurzem noch hatte ihre Freundin die Stadt regelmäßig aufgemischt, wenn sie ausgeklinkt war und im Ausklinken war die Hexe eine Meisterin. Sie hatte zum Beispiel einmal Pater Jerichos Kirche über Nacht mit Spinnweben eingewebt, sodass der sich am nächsten Morgen mit einer Machete den Weg freischlagen musste. Nicht alle ertrugen diese Welt sonderlich gut, Cassandra gehörte definitiv zu denjenigen, die überaus schlecht damit umgehen konnten.

Seit sie den Pakt mit Annabelle aufgelöst hatte, die ihr die Jugend wiedergeschenkt hat, war es in Little Exil Town ruhig geworden. Manchen war das ganz recht, sprich Dotty Bimsamen, der Lehrerin, andere vermissten die Streiche der Hexe, welche ein wenig Leben in das verschlafene Nest gebracht hatten. Und wie Mimi von Estra gehört hatte, er gehörte zum Clan der Hellhörigen, dementsprechend hatte er überdimensional große Ohren, fingen sich manche Leute an zu fragen, wo Cassandra Saltimo steckte, da sie teils über Wochen nirgends gesichtet wurde. Die alte Mimi hatte längst aufgehört sich irgendwelche Ausreden aus den Fingern zu saugen und schwieg sich aus. Sie hoffte inständig, dass die Leute endlich aufhören würden, sie mit Fragen zu belästigen, die sie weder beantworten konnte oder wollte. Käme ans Licht, dass ein Portal zur Erde – um genau zu sein nach England – existierte, würde sich jede Hexe im Exil darum reißen, es zu benutzten und auf der kleinen Insel würde alsbald ein Chaos ausbrechen. Die Hexen hier im Exil waren ja aus gutem Grund verbannt worden.

Die Küchentür war zu hören, das musste Cassandra sein, die zur Abwechslung geruchslose Exil-Luft schnuppern wollte. Ohne aufzublicken, sagte Mimi: »Hallo Cassy, schön besuchst du mich.«

»Hier bist du also. Hab das ganze Haus nach dir abgesucht. Führst du deine fruchtlosen Gespräche mit unserem Schwein?«

»Alte Gewohnheit, früher habe ich dasselbe mit dir getan.«

»Kaum bin ich hier, fängst du an mich zu beleidigen!«, sagte sie knatschig und stellte sich vor den Korbstuhl. »Mann, Mimi, du siehst echt beschissen aus, bist du krank?«

»Nein, ich bin müde und du bist so taktlos wie eh und je. Aber wir haben größere Probleme als mein derzeitiges Aussehen.«

Ihre Freundin verschränkte die Arme vor der Brust und fragte desinteressiert: »Die da wären?«

Mimi berichtete ihr von Pater Jerichos Besuch am Morgen und den Unruhen in Little Exil Town.

»Was soll das? Die reden seit zwei Jahren, kann uns doch egal sein!«

»Sie fragen sich aber auch, wo du bist. Es wäre hilfreich, wenn du dich ab und zu in der Stadt blicken lassen würdest. Und damit meine ich nicht, dass du husch in die Kirche gehst und unseren Priester anmachst!«

Nun stellte die Hexe einen erlesenen Ausdruck von Verlegenheit zur Schau, spielte mit einer Haarsträhne herum und wisperte: »Hat er was erwähnt?«

Mimi schälte sich mühsam aus dem Korbstuhl, baute sich vor ihrer Freundin auf und sprach ernst: »Cassy, ich habe dir mehrfach gesagt, dass Pater Jericho Tabu für dich ist. Ja, er hat es erwähnt und es schien ihm äußerst peinlich zu sein, mich auf dieses Thema anzusprechen. Offenbar weiß er sich nicht anders zu helfen, da du ein Nein nicht akzeptieren willst!« Sie strich sich müde über das Gesicht, fragte dann in schrillem Ton: »Was denkst du dir nur dabei?«

Cassandra zuckte hilflos mit den Schultern und murmelte: »Was soll ich sagen, seine schwarze Kutte macht mich einfach irre an, und er sieht mit seinen vierzig Jahren zum Anbeißen aus.«

»Du hast drüben eine Insel voller Männer, die dir aus der Hand fressen, also rate ich dir, deine Hormone im Zaun zu halten, wenn du hierherkommst und solltest du nochmal einen Versuch wagen, unseren Priester verführen zu wollen …«

Blitzartig hob Cassandra die Arme und rief: »Okay, ich hab’s kapiert. Ich werde die Kirche nie mehr betreten und wenn ich seinen süßen Arsch auf der Straße sehe, guck ich in die andere Richtung, versprochen!«

Mimi durchforschte die Mimik ihrer Freundin und kam zum Schluss, dass sie es ehrlich meinte. Die Frage war, ob ihr Entschluss den Hormonen standhalten konnte, die Cassandra im Überfluss zu produzieren schien.

»Na gut. Da wäre aber noch das Problem deiner Abwesenheit.«

»Och komm schon, Mimi, was soll ich hier, wenn ich im Paradies von London leben kann?«

»Ich verstehe dich, trotzdem müssen wir das Portal schützen und wenn die Leute anfangen daran zu zweifeln, dass du überhaupt noch hier im Exil lebst, ist der Schutz gefährdet. Es reicht, wenn du dich einmal die Woche in der Stadt blicken lässt. Geh in Hobs’ Wirtschaft und trink ein Glas. Plaudere mit den Leuten aber verplappere dich um Gottes willen nicht.«

»Ich bin doch kein Amateur!«

»Nein, du bist Cassandra Saltimo und die verliert zuweilen die Kontrolle, ergo, du würdest gut daran tun, nicht zu viel zu trinken, alles andere wäre unseren Bemühungen keineswegs zuträglich.«

Jede dieser Auflagen missfiel der Hexe über die Maßen. Sie schluckte alles klaglos runter und gab ein gedehntes »O-kay« von sich, maulte dann: »War’s das?«

»Fürs Erste – Ja. Sag mal, weswegen bist du eigentlich gekommen?«

»Ich hab Anny vorbeigebracht. Schon vergessen, du hast dich heute mit Lisa und Mary verabredet.« Sie nestelte an ihrem Kleidärmel herum, bevor sie leise nachschob: »Dachte, dass es für dich so leichter ist, du weißt, die Reise durch das Portal macht dir doch zu schaffen.«

Für einmal war die alte Mimi sprachlos. Konnte es sein, dass ihre Freundin sich um sie sorgte? Zugegeben hätte die das nie und nimmer. Da Mimi sie unablässig beäugte, fragte sie: »Was? Hab ich was falsch gemacht?«

»Nein, im Gegenteil. Ich danke dir. Damit hast du mir ungemein geholfen. Und ja, ich hatte es wirklich vergessen.«

 

Nachdem Mimi durch das Portal zu Lisa und Mary gegangen war, sagte Annabelle: »Ich mache mir Sorgen um Mimi.«

Sie besann sich ihrer ersten Reise durch das Portal. Heute war es normal, obgleich es für sie partout unerklärlich war, wie genau sie in zwei Welten existieren konnte. Auch die beiden Hexen konnten dieses Mysterium nicht zufriedenstellend aufklären. Sobald sie die Person, mit der sie einen Pakt hatten, ins Exil gebracht hatten, konnte die Hexe durch das Portal zurück nach England gehen und fand sich im Körper dieser Person wieder. So gesehen hatte die Person – Anny – auch einen Körper im Exil, aber das war lediglich die Illusion eines Körpers. Bei der Rückkehr funktionierte es genauso, kam Anny zurück, hatte sie ihren Körper wieder, der, nach ihrer Meinung, ja nie weg gewesen war. Manchmal verlor sie fast den Verstand, wenn sie das Rätsel entschlüsseln wollte.

Ferner erinnerte sie sich daran, dass sie einmal vergessen hatte die Augen auf der kurzen und oft ruppigen Reise zu schließen. Ihr flogen Gesichter entgegen, die mit weit aufgerissenen Augen und Mündern, gleich stummer Schreie, auf sie zurasten. Cassandra meinte gelassen, dass seien verlorene Seelen, die zwischen den Welten herumirrten.

Annabelle seufzte. »Mimi sagt es ginge ihr gut, aber das stimmt nicht.«

Cassandra stand auf und schaltete den batteriebetriebenen CD-Player ein – im Exil gab es keinen Strom –, den Annabelle Mimi geschenkt hatte. Sie hatte ihr CDs mitgebracht und unzählige Radiosendungen aufgenommen, und denen lauschte die alte Mimi am liebsten, sie mochte die Moderatoren und ihr Geplapper.

»Ja die alte Hexe ist mächtig stolz. Aber ich mach mir da keine Sorgen, die ist zäher als wir beide zusammen.«

Annabelle sah Cassandra nachsichtig an. »Würdest du dir keine Sorgen machen, hättest du dich nicht anerboten, mich zu holen und zurückzubringen.«

Sichtlich ertappt hüstelte die Hexe, zückte dann ihr iPhone und fluchte: »Verflixt, ich vergesse ständig, dass wir hier keinen Empfang haben!«

»Der Tag, an dem du dieses Ding für dich entdeckt hast, sollte man ausradieren können. Du bist schlimmer als jeder Teenager in London.«

»Und du bist für dein Alter erschreckend konservativ, was die Dinger anbelangt, dein Ding hat nicht mal Internet!«

Die nächste halbe Stunde debattierten die zwei Freundinnen über die Vor– und Nachteile besagter Geräte und kamen wie üblich, wenn sie sich auf solch kontroverse Diskussionen einließen, auf keinen gemeinsamen Nenner. Annabelle stand auf und begab sich in den Garten, um für Mimi das Unkraut zu jäten. Wollte sie Cassandra überreden, ihr zur Hand zu gehen, nahm deren Gesicht jeweils kryptische Züge an. Nein, sie würde ihr niemals helfen, sie könnte sich bei solch trivialer Arbeiten sowohl die Hände beschmutzen als auch ihre Nägel ruinieren. Nichtsdestoweniger leistete sie ihr im Garten Gesellschaft und rekapitulierte ausgiebig die letzten zwei Tagen in London, allen voran führte sie die Nächte aus, die sie, wie könnte es anderes sein, durchgemacht hatte.

 

Dendera, eine Hexe, die sehr abgeschieden lebte, war zum einen eine äußerst launische Person und zum anderen mied sie Ihresgleichen, ebenfalls die restlichen Einwohner von Little Exil Town. Sie lebte seit knapp hundert Jahren im Exil, wurde verbannt, weil sie auf Sarhana Abtreibungen vorgenommen hatte und solche waren verboten. Dotty Bimsamen, die Lehrerin, trat vor ein paar Monaten mit einer Bitte an sie heran. Herr und Frau Bimsamen waren trotz aller Anstrengungen kinderlos und Dotty wusste, dass die alte Mimi zwei anderen Frauen diesbezüglich helfen konnte. Allerdings stand Dotty mit Cassandra und Mimi auf Kriegsfuß, ergo untersagte es ihr Stolz, sie um Hilfe zu bitten. Auch Dendera konnte der Lehrerin nicht weiterhelfen, da sie nicht sämtliche Zutaten des Trankes kannte, den die alte Mimi zusammengemischt hatte. In ihren Augen war Mimi eine Meisterin auf jedem Gebiet und Dendera hätte ihren rechten Arm hergegeben, um an die Aufzeichnungen der Hexe zu kommen, insbesondere derjenigen, die Cassandra ihre Jugend wiedergegeben hatte.

Das war der Anstoß, dass sich die Hexe entschlossen hatte, Mimis Haus zu überwachen, in der Hoffnung, den Zeitpunkt zu treffen, in dem diese in die Stadt runterging, um Besorgungen zu tätigen. Somit würde ihr genug Zeit bleiben, sich im Haus umzusehen und sich ihre Rezepturen anzueignen. Bedauerlicherweise blieb Mimi mehrheitlich daheim und Dendera hatte unzählige Tage damit verbracht auf der Lauer zu liegen – erfolglos. Aber heute geschah etwas, das die Hexe zutiefst irritierte. Sie vernahm Stimmen und Musik im Haus, ausnehmend sonderbare Musik. Sie schlich an ein Fenster, spähte hinein und erblickte jene schöne Frau, die laut Mimi Miss Piggy war. Mimi hatte den Leuten erzählt, dass sie und Cassandra ihr Hausschwein dann und wann in eine Frau oder Mann verwandeln, um ihnen beim Tragen der Einkäufe zu helfen. So konnten sie plausibel erklären, dass vereinzelt Personen auftauchen, die nicht hier lebten.

Nur … wie konnte Miss Piggy im Garten in ihrem Gehege sein und gleichzeitig im Haus? Und wieso zum Geier konnte das Schwein plötzlich sprechen?

Und was sagte die Stimme aus dem kleinen, flachen Gerät in der Küche? Dass es heute in London den ganzen Tag regnen würde? Und was hatte Cassandra da für ein Ding in der Hand, auf dem sie herumtippte? Verdattert rieb sich die Hexe über die Augen. Irgendetwas war da faul!

Später ging Miss Piggy, die eben nicht Miss Piggy war, Cassandra nannte sie Anny, in den Garten und die zwei unterhielten sich weiter. Nach einer Stunde ging Dendera zurück in den Wald, wo sie ihren Ochsenkarren stehengelassen hatte, nun wusste sie mit Sicherheit, dass Cassandra nicht mehr im Exil lebte. Irgendwie hatten die zwei alten Hexen ein Portal entdeckt, dass sie in eine andere Welt bringen konnte und die Menschen von dort hierher. Und sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um herauszufinden, wie das funktionierte. Mehr noch, sie wollte das Portal für sich nutzen und es war ihr schnurzegal, was sie dafür tun musste.

 

Neugierig geworden? Dann besuchen Sie die Website der Autorin Jill Grey…