von: Stephanie Gränicher
25. Dezember 2018

Kängurus, Glasperlen und Milkshakes

Ein Gastbeitrag von Stephanie Gränicher

© Bucher Verlag - Stephanie Gränicher mit ihrem Roman "Foodparadies"

„Kängurus, Glasperlen und Milkshakes!“ rief Edgar Scharp, der Quizmaster, und sah die vier Kandidaten an. Er drehte sich zum Publikum und fuhr fort:

„Was haben diese drei gemeinsam?“

Er wandte sich wieder den Kandidaten zu. „Na“, wiederholte er seine Frage, „was haben Kängurus, Glasperlen und Milkshakes gemeinsam?“

Thomas spürte, wie sich in seinem Kopf eine Leere auftat, ein schwarzes Loch. Der Blick Edgar Scharps streifte sein Gesicht wie ein Frosthauch. Hinter dem kantigen Kopf des Moderators verschwamm Publikum im Studio wie auf einer unscharfen Fotografie. Obwohl Edgar Scharp inzwischen zwei Schritte nach rechts gemacht hatte und seine hellblauen Augen auf Verena fokussierte, hatte Thomas den Eindruck, als ob sein Eisblick immer noch auf seiner Haut lag. Er fühlte, wie seine Stirn feucht wurde. Ein Schweisstropfen rann ihm das Rückgrat hinunter. In seiner Brust entstand ein schmerzhafter Druck. Thomas holte vorsichtig Luft.

„Na, meine Damen und Herren, kommen Sie!“ hörte er Edgar Scharps Stimme. Von unzähligen Quizsendungen geschult klang sie geschmeidig wie Maschinenöl.

„Seien Sie mal etwas kreativ. Was haben Kängurus, Glasperlen und Milkshakes gemeinsam?“

Er ging zwei weitere Schritte nach rechts und drehte sich langsam mit einem Grinsen im Gesicht zum Publikum.

„Na, meine lieben Zuschauer, was sagen Sie zu diesen Damen und Herren auf dem Podium?“ Er schwang seinen Arm in Richtung der Kandidaten.

„Dies ist die letzte alles entscheidende Frage. Anna und Thomas liegen mit ihren Punkten nahe beieinander. Verena und Florian sind leicht abgeschlagen, aber…“

Der Quizmaster liess seinen kalten blauen Blick über die Reihen der Zuschauer gleiten.

„Aber“, fuhr er fort, „sie können die anderen noch locker überholen, denn die richtige Antwort auf die letzte Frage gibt die doppelte Punktzahl, wie Sie alle wissen.“ Er bewegte seinen Arm wieder auf das Podium zu.

„Wie Sie aber auch wissen, hat keiner der Kandidaten hier oben die letzten drei Fragen korrekt beantworten können.“

Er streckte beide Arme in den Saal und fragte mit einem Lacher, der in Thomas Ohren einen sadistischen Unterton hatte:

„Was meinen Sie, liebe Zuschauer? Kann da überhaupt die richtige Antwort kommen?“

Thomas hörte das Publikum lachen, erst zögernd und verlegen und dann immer herzhafter. Er versuchte, die Krawatte zu lockern und hoffte, dass es unauffällig aussah. Seine Hand zitterte. Die Hitze der Lampen auf der Bühne brannte auf seine Anzugsjacke. In seiner Brust presste eine eiserne Faust sein Herz zusammen.

Ich weiss es nicht! Ich weiss es nicht! rotierten seine Gedanken.

Dabei war sich Thomas so sicher gewesen, dass er beim Quiz ‚Hunderttausend oder nichts’ spielend als Sieger hervorgehen würde. Die Sendung, die Elvira während der Essensvorbereitungen verschlang, lief jeden zweiten Vorabend im Lokalfernsehen. Er hatte Elvira ausgelacht, wenn Sie versuchte, die Antworten mitzuraten, aber irgendwann begann ihn das Quiz zu faszinieren. Die Fragen waren zwar äusserst simpel und der Quizmaster ein arroganter Widerling. Dennoch war es jedesmal ein Triumph für Thomas, wenn er die gefragten Lösungen fand. Hier fühlte er sich in seinem Element, auf der Überholspur, dort, wo er seiner Ansicht nach verdiente zu sein.

Thomas liebte Aktivität und Geschwindigkeit. In Windeseile hatte er seine Ausbildung durchlaufen. Schon bald stieg er zum Top-Verkäufer auf. Mit seiner ehemaligen Klassenkameradin Ruth fand er die ideale Ehefrau.

Allerdings liessen immer weitere Reisen, immer lukrativere Aufträge und ein Leben mit immer besseren finanziellen Möglichkeiten Ruth langsam hinter seinem Rücken ins Nichts verschwinden. Sein fünfzigster Geburtstag und die damit verbundene Midlife-Crisis machten ihm klar, dass er etwas ändern wollte. Als Elvira, die neue 30jährige Assistentin des Chefs, in sein Blickfeld trat, griff er blitzschnell zu, bevor es ein Kollege tun konnte. Mit ein paar teuren Geschenken und noch teureren Wochenenden im Süden Europas eroberte er ihr Herz im Sturm. Er entliess Ruth vollständig aus seinem Leben, zahlte ihr für seinen Begriff grosszügige Alimente und führte Elvira zum Traualtar.

Thomas fuhr erschrocken zusammen.

Ich träume hier herum, anstatt die Antwort zu suchen, dachte er.

Sein Mund fühlte sich trocken an. Verstohlen blickte er erst auf das Glas Wasser vor ihm auf dem Tisch und dann zu Florian, der links neben ihm sass. Florians Gesicht glänzte trotz all der Schminke, die eine Visagistin ihnen vor der Sendung aufgetragen hatte.

Er sieht bleich aus, aber das kann auch am Licht liegen, dachte Thomas.

Als er nach dem Wasserglas greifen wollte, durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Arm. Ihm wurde übel. Eine diffuse Angst schnürte ihm den Magen zusammen.

Besser kein Wasser, dachte er und zog seinen Arm langsam zurück. Diese stickige Luft wird langsam unerträglich.

Trotz der Enge in seiner Brust zwang Thomas sich, sorgfältig, ein- und auszuatmen.

Anna ganz links aussen räusperte sich.

„Ah“, rief Edgar Scharp ins Publikum und ging auf Anna zu. Seine Schuhe wippten. „Ein Lebenszeichen von den Kandidaten. Ich dachte schon, Sie seien vor Schreck in ein Koma gefallen.“ Das Publikum lachte.

„Ich glaube“, sagte Anna mit heiserer Stimme.

„So, Sie glauben, liebe Anna“, unterbrach sie der Quizmaster. „Eigentlich sollten Sie aber wissen und nicht glauben“, fuhr er fort und grinste augenzwinkernd ins Publikum. Auf den Grossbildschirmen auf beiden Seiten des Saals sah sein Zwinkern aus, als ob er einen Fremdkörper im Auge hätte.

„Also“, sagte Anna, „ich glaube“, und bevor sie Edgar Scharp erneut unterbrechen konnte, fügte sie hastig hinzu, „es sind alles Gegenstände.“

„Aha“, sagte er und wandte sich dem Publikum zu. „Liebe Zuschauer, was meinen Sie? Hat Anna Recht? Sind Kängurus, Glasperlen und Milkshakes alles Gegenstände?“

Thomas konzentrierte sich auf sein stetes Atmen und versuchte so, seine in Wellen auf- und absinkende Angst und Übelkeit unter Kontrolle zu bekommen. Nur am Rande nahm er wahr, wie die Zuschauer entweder ratlos mit den Achseln zuckten oder die Köpfe schüttelten.

„Genau, meine Damen und Herren“, rief Edgar Scharp mit einem trockenen Lachen ins Publikum. „Genau, Kängurus, Glasperlen und Milkshakes sind nicht alle Gegenstände. Welches dieser drei ist also keiner?“

Während die Haltung des Moderators herausfordernde Erwartung ausdrückte, sanken Annas Kopf und ihre Schultern resigniert nach vorne.

Thomas durchfuhr es wie ein Blitz.

Es ist das Känguru, dachte er, wieso bin ich nicht darauf gekommen? Genauso, wie ich nicht darauf gekommen war, dass Elvira es nur auf mein Geld abgesehen hatte. Erst als Dr. Pfister beim jährlichen Gesundheitscheck die Worte „akut herzinfarktgefährdet“ in den Mund nahm und mit besorgter Stimme von „Blutdruck senken“ und „Anspannungen reduzieren“ sprach, da habe ich gemerkt, wie sehr diese Frau mich stresst.

Aber nicht mit mir, hatte er gedacht, und sich für die Teilnahme an ‚Hunderttausend oder Nichts’ angemeldet.

Die Hunderttausend würden seinen Kontostand erheblich aufbessern. Elvira würde merken, dass er noch ein ganzer Kerl war und nicht dieser Schmidlin, mit dem sie in letzter Zeit im Büro dauernd herumscharwänzelte.

Er rang nach Luft. Die Enge in der Brust wurde für ihn fast unüberwindbar. Bitte nicht jetzt, dachte er. Schnell, jetzt muss ich schnell sein.

„Es ist das Känguru“, schrie Thomas zu Edgar Scharp hinüber. Er drehte seinen Kopf leicht ab zum Publikum. „Das Känguru ist kein Gegenstand und…“

„Richtig, Thomas“, rief der Moderator zurück und machte eine tiefe Verbeugung in seine Richtung. Bevor er fortfahren konnte, unterbrach Thomas ihn mit einer heftigen Handbewegung.

„…und“, keuchte er mehr als er schrie, „das Känguru kommt nur in Australien vor. Also haben die drei gemeinsam, dass sie in Australien vorkommen, denn Glasperlen und Milkshakes gibt es dort auch.“

„Super, Thomas!“ Die Stimme von Edgar Scharp schien sich fast zu überschlagen. Er hob beide Arme und drehte sich zu den Zuschauern.

„Meine Damen und Herren“, rief er. „Thomas hat die richtige Antwort gegeben. Wir haben einen Gewinner, liebe Zuschauer. Herzlichen Glückwunsch, Thomas.“

Anstatt den Sieger zu beklatschen, sprangen vereinzelte Zuschauer auf, deuteten in Richtung Podium und riefen Unverständliches. Verena stiess ebenfalls einen spitzen Schrei aus. Edgar Scharp fuhr herum.

Thomas war auf die Tischplatte vor ihm gesunken. Der Glückwunsch des Quizmasters und der Tumult um ihn herum erreichten ihn nur noch aus der Ferne.

 


 

Stephanie Gränicher, 1958 im Raum Köln-Bonn (D) geboren und aufgewachsen, lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Zürich. Seit sie lesen und schreiben kann, dreht sich ihr Leben um Sprache und Literatur. So studierte sie Englisch, Spanisch und Publizistik an den Universitäten Bonn, Bristol, München und Zürich. Es folgte eine Zeit mit Priorität auf die Familie und Teilzeitpensen als freie Mitarbeiterin bei Zeitungen und als Kursleiterin für Englisch und Deutsch. Später leitete sie 7 Jahre lang die Gemeindebibliothek Spreitenbach und widmet sich seit 2010 dem Schreiben. Neben dem Besuch verschiedener Kurse absolvierte sie die M-Art Schreiben Grundstufe und erwarb das Diploma ECTS der ZHdK. An der „Late Night Show Lesen“ stellte sie eine ihrer Kurzgeschichten vor und hat im Juni 2016 ihren ersten Roman vollendet. Ihr erster Roman „Foodparadies“ ist im Bucher Verlag erschienen.