von: Urs Heinz Aerni
30. Juli 2015
© Droschl Graz
Urs Heinz Aerni: Frau Rakusa, kürzlich ist Ihr Buch „Aufgerissene Blicke“ erschienen, eine Art Berlin-Tagebuch. Berlin boomt, und zwar so, dass Paris schon eifersüchtig ist. Im Vorwort erwähnen Sie, dass Berlin Sie schon immer angesprochen habe. Woran liegt es?
Ilma Rakusa: Berlin ist für mich bis heute ein Scharnier zwischen Ost und West. Und es zeigt die Wunden einer Geschichte, die auf Schritt und Tritt sinnfällig wird. Ich selber stamme aus dem Osten, habe Slawistik studiert und ein Jahr in Leningrad (heute St. Petersburg) verbracht. Wenn ich im Scheunenviertel, in der Großen Hamburger Straße, an Fassaden Einschusslöcher entdecke und im Winter Braunkohlegeruch einatme, wenn Russisch und Polnisch an mein Ohr dringt, ist mir das seltsam vertraut. Seit über zehn Jahren habe ich eine Wohnung im alten jüdischen Viertel Berlins und fühle mich dort auf eine besondere Weise zu Hause. Keine Frage, vieles tut weh, die Vergangenheit wirft lange Schatten bis in die Gegenwart. Doch das Regenerationsvermögen der Stadt ist unglaublich. Soviel Umbruch und Erneuerung wie hier ist mir sonst nirgends begegnet. Man laboriert an Widersprüchen und vollbringt zugleich kleine Wunder. Als künstlerischer Mensch bin ich von der Lebendigkeit Berlins rundum fasziniert.
Aerni: Wir hätten ja auch zum Beispiel Hamburg, Marseille, Prag oder Genf. Warum steht gerade Berlin immer mehr im Fokus?
Rakusa: Berlin ist groß, großzügig und im Vergleich zu anderen europäischen Städten noch immer erstaunlich billig. Vor allem die kreative Szene findet hier günstige Lebensmöglichkeiten und reichlich Anregung, aber auch andere zieht es unwiderstehlich an die Spree. Berlin steht für Experiment, Wandel – und Erschwinglichkeit. Zurzeit hört man in den Straßen auffallend viel Spanisch.
Aerni: Sie zitieren in Ihren sehr persönlich gehaltenen Notizen den in Saarbrücken geborenen Künstler Max Neumann: „Berlin ist eine Lebensart, nicht eine Stadt.“ Hat Ihre Wohnstadt Zürich auch eine?
Rakusa: Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten. Lebt man sehr lange in einer Stadt, entwickelt man eine gewisse Blindheit gegenüber ihrer Eigenart. Zürich ist heiterer und weltoffener geworden, das fällt mir positiv auf. Das zwinglianische Erbe ist etwas in den Hintergrund getreten. Doch könnte die Atmosphäre von mir aus gerne noch lockerer werden, dann brauchte es vielleicht weniger psychologische Praxen.
Aerni: Ist es tatsächlich so, dass sich der Berliner allzu sehr vom Zürcher unterscheidet? Wie steht es um den „Berliner“ aus Ihrer Sicht?
Rakusa: Um ehrlich zu sein: Ich kenne kaum waschechte Berliner. Fast alle meine Freunde sind zugezogen, leben seit zehn, zwanzig oder dreißig Jahren in Berlin, sind geblieben, weil sie die Stadt mögen und weil sie hier problemlos aufgenommen wurden. Ich sagte schon, Berlin ist großzügig und auch unkompliziert. Anders als in München oder Zürich herrscht wenig Bürgerliches, die Kommunikation zwischen den sozialen Milieus ist relativ locker, im Theater muss man eher darauf achten, dass man nicht overdressed ist. Diese Lässigkeit wirkt angenehm. Freilich bin ich im ehemaligen Osten Menschen begegnet, denen man die DDR-Sozialisierung deutlich anmerkt. Das äußert sich in einer gewissen missmutigen Verklemmtheit, auch in Misstrauen. Von Weltoffenheit ist da wenig zu spüren. Was den Zürcher ausmacht, wüsste ich schwer zu sagen. Gibt es ihn überhaupt? Auch in Zürich verkehre ich mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit schweizerischen Japanern, Kasachen, Ungarn, Serben, Israelis usw. Sie alle tragen zur Vielfalt Zürichs bei, die mir gefällt.
Aerni: Die einen schätzen sie, die anderen haben ihre liebe Mühe mit ihr, der berühmten „Berliner Schnauze“. Wie ist es mit Ihnen?
Rakusa: Ich kenne die ruppige Art mancher Berliner, sie ist durchaus gewöhnungsbedürftig. Andererseits hat Direktheit manchmal auch ihr Gutes. Es gibt ja auch eine spontane Offenheit, die zunächst überrascht und dann sehr erfrischend wirkt. Zum Beispiel wenn in der Bäckerei eine Verkäuferin, die mich nur wenig kennt, meinen Armreif lobt. Nie ist mir derlei in der Schweiz passiert, dabei hätte ich mir schon zigmal gewünscht, dass die altbekannte Postangestellte am Zürcher Toblerplatz einen netten „überflüssigen“ Satz zu mir sagt.
Aerni: Wie erleben Sie als bewusste Beobachterin die Unterschiede zwischen der Floskel- und Höflichkeitskultur der beiden Städte Berlin und Zürich?
Rakusa: In Zürich begegnet man eindeutig mehr Höflichkeit als in Berlin. Das kann wohltuend sein, schafft aber auch Distanz. Mitunter ist mir die spontane Berliner Art lieber. Man redet mehr, wozu auch Floskelhaftes gehört, doch bleibt dabei immer Raum für ein freundliches Pingpong. Da mache ich gerne mit, ich mag es, in Gespräche mit Bahnangestellten, Kellnern, Schuhmachern, Buchhändlern, Galeristen verwickelt zu werden.
Aerni: Wie erleben Sie die beiden Städte, wenn man nicht den Dialekt oder den Kiez-Kodex beherrscht?
Rakusa: In Zürich ist es zweifellos von Vorteil, den Dialekt zu beherrschen, wie ich ihn seit langem beherrsche, denn er transportiert nicht nur Inhalte, sondern auch Gefühle. Um das Erlernen eines Kiez-Codes aber habe ich mich nie bemüht. Ich wüsste nicht einmal, worin er genau besteht. In jedem Kiez leben so viele unterschiedliche Menschen, dass es illusorisch wäre, eine „Zugehörigkeit“ anzustreben. Auch wenn ich meinen Kiez schon lange kenne und mit etlichen Kiez-Bewohnern befreundet bin, bleibe ich doch eine Fremde. Das stört mich im Übrigen keineswegs, denn die innere Verbundenheit ist da.
Aerni: Ihr Flanier-Journal lässt in der Tat den Blick auf Details im Berliner Alltags- und Kulturleben „aufreißen“, gemäß Buchtitel, mit entzücktem Unterton. Wo spüren Sie noch die Schwere der historischen Last in der Stadt?
Rakusa: Im Grunde auf Schritt und Tritt. Kaum verlasse ich das Haus, erinnern mich auf dem Gehsteig „Stolpersteine“ an die einstigen jüdischen Bewohner, die zumeist in den Gaskammern endeten. Auf dem Koppenplatz, in der Großen Hamburger Straße – überall finden sich Mahnmale für ermordete Juden. Und gehe ich die Ackerstraße entlang Richtung Bernauerstraße, erinnern mich Reste der Mauer an den Wahnsinn des geteilten Berlin. Dabei spreche ich nur vom Radius meiner normalen Spaziergänge.
Aerni: Sie besuchten auch Museen…
Rakusa: Ja, in meinem Buch beschreibe ich mehrfach das Deportationsgleis 17 im Bahnhof Grunewald und sehr ausführlich den Besuch im „Deutsch-Russischen Museum“ in Berlin-Karlshorst. In diesem Gebäude wurde in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unterzeichnet. Der Saal ist unverändert, im Garten reihen sich sowjetische Panzer. Und zahllose Vitrinenexponate rufen die Greuel des Krieges wach. Selten hat mich ein Museumsbesuch so erschüttert. Mir war, als fiele ich in ein Zeitloch, tiefer und immer tiefer. Dagegen ließ mich die berüchtigte Villa der Wannseekonferenz, wo in einem museumstechnisch avancierten Ausstellungsparcours die Geschichte der nazistischen Judenvernichtung vorgeführt wird, eher kalt. Der Genius loci sprach nicht mehr. Nun, ganz Berlin ist ein Mahnmal. Ob man will oder nicht, die Geschichte holt einen überall ein.
Aerni: Wie geht man als Gast mit diesem Erbe um? Wie „übersetzt“ man es in die eigene Sprache, den eigenen Text?
Rakusa: Ich weiß nicht, ob man sich auf einen Gast-Status herausreden darf. Mich erschüttert diese Geschichte, auch wenn ich nach dem Krieg und in Rimavská Sobota zur Welt gekommen bin. Und das merkt man meinem Journal an. Ich schreibe nicht nur oft, sondern mit einer gewissen Betroffenheit von Orten, wo Berlin seine Schrecken und Wunden herzeigt. Das hat nichts mit Sentimentalität zu tun, vielmehr mit dem Bedürfnis, mir selber Klarheit zu verschaffen – durch genaues Hinschauen und durch eine präzise Schilderung des Gesehenen und Empfundenen.
Aerni: Wie übersetzt man überhaupt, wenn man neu in einem anderen Sprach- und Kulturraum ist? Neigt man eher zur Einschönung oder eher zur Kritik?
Rakusa: Der touristische Blick neigt eher zu Stereotypen und zur Verklärung. Kritik setzt in der Regel dann ein, wenn man länger an einem Ort ist und den Alltag kennenlernt. Was mein Verhältnis zu Berlin betrifft, so bin ich zwar mit dem Alltag und seinen lästigen Seiten vertraut, dennoch gelingt es der Stadt, meine Neugier wachzuhalten und mich immer neu zu verführen. Nennen wir es eine Liebesgeschichte, die seit über zehn Jahren dauert. Mit Moden und Trends hat sie nichts zu tun.
Aerni: Man hat manchmal den Eindruck, gerade unter Schweizer Autoren finde eine Art Exodus nach Berlin statt. Erlauben Sie mir die kritische Anmerkung, dass die CH-Optik auf Berlin vielleicht etwas zu wohlwollend ausfällt. Über Zürich oder Genf haben schließlich die wenigsten Immigranten Loblieder angestimmt.
Rakusa: Auch Berlin bekommt Kritik ab, keine Sorge. Viele bislang in Berlin ansäßige Autoren ziehen weg, nach Leipzig oder aufs Land, weil sie von der hippen Hauptstadt genug haben. – Dass sich einige Schweizer Schriftsteller nach Berlin orientieren, sei ihnen nicht verargt. Sie finden dort eine ungeheuer vielfältige Kulturszene vor, allein das Theaterangebot verschlägt einem den Atem. Das ist anregend. Ebenso anregend ist es, täglich mit der deutschen Sprache als Umgangssprache konfrontiert zu werden. Wo lernt man diese in der Schweiz? Es gibt also genug Gründe, Berlin zu mögen. Oder auch nicht zu mögen. Jedem das Seine.
Aerni: Einige Stichworte: Bevölkerungsumschichtung durch Gentrifizierung, baufällige S-Bahn, Flughafen-Debakel oder mangelndes Engagement der Behörden im Bereich Sozialwohnungen laut Bericht des Bundesbauministeriums im August. Kann die literarische Liebe auch etwas blind machen? Oder: soll sie es sogar?
Rakusa: Die Gentrifizierung spreche ich in meinem Buch mehrmals kritisch an. Auch die Missstände bei der S-Bahn. Das Flughafen-Debakel aber kam später. Ich finde es eine Schande, was sich Berlin da leistet. Es gibt nichts schönzureden. – Blind bin ich gegenüber Berlins Schwächen keineswegs, auch wenn ich seine sogenannten Problembezirke, wo schlecht integrierte Jugendliche aus Migrantenkreisen oder solche mit rechtsradikalen Tendenzen ihr Unwesen treiben, mehr vom Hörensagen kenne. Doch möchte ich hier klarstellen, dass mein 2010/2011 in Berlin entstandenes Journal nicht in erster Linie ein Buch über Berlin ist, sondern über das, was ich dort während eines Jahres erlebt habe. Es geht um Begegnungen, Lektüren, Theaterbesuche, Debatten, auch um private Befindlichkeiten. Wer anderes erwartet, liegt falsch.
Aerni: Wie bricht sich für Sie die Wahrnehmung durch die Wiedererzählung? Andere fotografieren, Sie schreiben; wo liegt für Sie der Vorteil des sprachlichen „Wiederkaufens“?
Rakusa: Schreiben ist für mich unumgänglich, um mich meiner selbst und der Welt zu vergewissern. Ein spannender Prozess, der nicht nur Erkenntnis generiert, sondern als künstlerischer Vorgang überraschende Perspektiven eröffnet. Schreibend erfahre ich vieles neu, unter der Hand verwandeln sich Wahrnehmungen und Erlebnisse, gehen unerwartete Zusammenhänge ein. Das ist beim Fotografieren anders, wobei ich auch gern mit der Kamera unterwegs bin. In „Aufgerissene Blicke“ finden sich mehrere Fotos von mir, als visuelle Stenogramme. In meinem Wesen aber bin ich ein Mensch des Wortes, arbeite mich ständig daran ab, den Transfer vom Geschauten zum Geschriebenen zu leisten. Zu den geduldigen „Übersetzern“ bzw. Erzählern gehöre ich freilich nicht. Vom Temperament her Lyrikerin, mag ich die knappe, suggestive Evokation von Eindrücken und Erlebnissen. Ob mir das in meinem Berlin-Journal gelungen ist, möge der Leser beurteilen. Nur soviel noch: das Wort steht nicht in Konkurrenz zum Bild, es ist ein eigenes Medium mit eigenen Möglichkeiten. Und es steht auch nicht in Konkurrenz zum cinéma vérité. Von „Vorteil“ möchte ich daher nicht reden. Persönlich allerdings drängt es mich, Erlebtes zu verschriftlichen, durch die „Wiedererzählung“ eine subjektive Sichtweise und eine spezifische Intensität zum Ausdruck zu bringen. Das ist mein Beruf oder, wenn man so will, meine déformation professionnelle.
Aerni: In welche nächste Stadt würden Sie gerne fürs nächste Journal geschickt werden?
Rakusa: Ich möchte mir diese Stadt selber aussuchen. Zum Beispiel St. Petersburg oder Sarajevo.
Das Buch: Ilma Rakusa „Aufgerissene Blicke“, Droschl, ISBN: 9783854208365, Euro 16,00