von: Urs Heinz Aerni
14. April 2015

Holy Shit – Eine Weltenreise von der Querschnittlähmung zum aufrechten Gang

Aus heiterem Himmel bricht Edith Gloor morgens zusammen – Diagnose »querschnittgelähmt«. Man gibt ihr eine Heilungschance von knapp fünf Prozent. Nur ein Jahr später steht sie dennoch wieder selbstständig auf ihren Füßen. Urs Heinz Aerni stellte der Autorin Fragen.

Scorpio Verlag ©

Der Beginn war ein Bandscheibenvorfall, dann kam die Lähmung. Nach dem Schock, dann die Behandlung. Wie kam der Wunsch auf, darüber zu schreiben?

Aus mir heraus kam gar nie der Wunsch, darüber zu schreiben. Meine ganze Konzentration während dieser 365 Tage war darauf fokussiert, zu genesen. Ein solches Unterfangen bedarf einer furorähnlichen Geistesgegenwart auf das, was gerade ist. – Ein Jahr nach dem Unfall wurde ich dann von einem Arzt dazu angeregt, darüber zu schreiben.
Sofort war das ganze Konzept bildhaft da und ich konnte am Tag darauf mit dem ersten Kapitel „Erwachen“ anfangen. Ich habe ein gutes Gedächtnis.

Also kein langes Nachdenken…

Die Erinnerung kam ohne Mühe, eher in einem stetig sich vorwärts bewegenden, sprudelnden Fluss in mein Bewusstsein. Ich habe also – auch – beim Schreiben viel gelacht und geweint.

Sie nehmen die Leserin und den Leser mit durch Ihre Geschichte. Worin liegt für Sie der Unterschied zwischen Erleben ohne und mit dem Schreiben? Oder anders gefragt, verschiebt sich das Erlebte wenn man es beschreibt?

Als Dramatikerin bin ich es gewohnt, Leben und Schreiben klar zu trennen. Bei „Holy Shit“, das man unter feuilletonistischer Prosa einordnen könnte, habe ich ebenfalls diese klare Trennlinie gezogen. Natürlich schöpfe ich beim Schreiben aus meinem Leben. Aber um dem, was ich sagen will, die zwingende ästhetische Form zu geben, benötige ich Distanz. Die Zeitverschiebung ist für mich wichtig. Tagebuchartig oder gar lebensbegleitend therapeutisch alles festzuhalten, was mir widerfährt, ist mir fremd. Dieses zeitgeistige Dokumentieren interessiert mich auch im übrigen Kunstbetrieb nur mäßig…

Warum?

Weil “persönliche Betroffenheit” ohne das Moment der Transformation und Reflexion, eitel, ja narzisstisch ist. Also würde ich sagen, dass sich das Erlebte durch die Beschreibung verschieben “muss” in etwas Absoluteres, Wahrhaftigeres und Demütigeres.

Sie hätten sich während der Genesungszeit von anderen Menschen zurück gezogen. Haben Sie in dieser Zeit auch gelesen, und wenn ja, was?

Der Rückzug war wichtig, um eine Innenwelt aufzubauen, anders ausgedrückt, um Bilder “aus einer andern Welt” zu mir ins Krankenhausbett hereinzuziehen. Ich habe also wenig gelesen, lediglich Literatur über Neurologie. Herausragend: „Hirnforschung und Meditation“, ein Dialog zwischen dem Neurobiologen und buddhistischen Mönch Matthieu Ricard und dem Neurophysiologen und Leiter des Max-Planck-Institut Wolf Singer. Außerdem zwei Bücher von Stefan Zweig. Die Erzählung „Auferstehung“ aus “Sternstunden der Menschheit” und „Magellan ein Mann und seine Tat“.

Und, tat die Lektüre gut?

Keine Trostliteratur; vielmehr Material, das mir Kraft, Mut und in einem gewissen Sinne männliche Energie vermittelt hat. Aber: Ich habe Bilder, Fabeln, Gleichnisse, einzelne Gedichtzeilen, Gebete, Musiksequenzen, Mythen und Symbole aus dem reichen Fundus der 2000jährigen Kulturgeschichte imaginiert. Diese aus meiner Erinnerung geschöpften Bildgebungen haben meine Verbindungen zwischen den Nervenzentren im Gehirn in jene entspannte, angstfreie Disposition gebracht, die nötig ist, um neue physiologiche Funktionen zu programmieren. Ein gestresstes Hirn ist unfähig, Neues zu lernen. Eines meiner Kapitel heißt deshalb: „Das Heilende in der Kunst“.

Wo sehen Sie rückblickend als Patientin der größte Handlungsbedarf in unserer medizinischen Grundversorgung und unserem Gesundheitssystem?

Zur medizinischen Grundversorgung: Mein Buch wird annonciert mit den Worten „Eine Verneigung vor der Schulmedizin und eine Ode an die Zuversicht“. Letzteres hat mit Eigenverantwortlichkeit zu tun und gehört ins Pflichtenheft des Patienten. Zu unserem Gesundheitssystem: Ich bin allgemein versichert bei der SWICA (Schweizer Krankenversicherung). Ohne zeitliches Limit wurden sämtliche Kosten für Spital, Reha und Nachbehandlung bezahlt. Ich bin dafür dankbar.

Wenn ich ein Bild malen müsste, mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen, wie müsste das aussehen?

Speisewagen der Bahn, Strecke Zürich nach Lugano. Auf dem Teller Safranrisotto mit Luganighe, dazu ein Glas Tessiner Merlot, Zabaione zur Nachspeise. Zwischen den einzelnen Kapiteln immer wieder der Blick aus dem Fenster: da liegt der selig sich ausbreitende Zürichsee, irgendwann kommt der Große Mythen, dann die langsam ansteigenden Höhenkurven mit dem Umkreiseln und Umschwärmen des Wassener-Kirchleins. Plötzlich befindet man sich vor dem Loch des Gotthardtunnels, ahnend, dass den zu durchfahren immer sehr viel länger dauert, als man möchte. Dann endlich das Tunnelende mit dem tröstlichen Licht; und man weiß, dass man jetzt in eine andere Welt eintritt, egal ob es in Airolo regent oder nicht.

Welche Projekte stehen für Sie nun an?

Zur Zeit arbeite ich mit dem Regisseur und Autor Leopold Huber an der „Saga Ittingen“, einer Auftragsarbeit von der Kartause Ittingen. Diese Revue durch Zeit und Geist wird im Februar 2016 uraufgeführt. Das andere Projekt für die kommenden zwei Jahre hat eben seine ersten Funken ausgesendet. Der Buchtitel: „Van Goyens Himmel“. Darin geht es wieder um jene ordnenden Kräfte aus den Tiefenschichten des kollektiven Kultur-Gedächtnisses, die mir helfen, immer wieder in den “Aufrechten Gang” zu kommen.

Das Buch: Edith Gloor: „Holy Shit – Meine Weltenreise von der Querschnittlähmung zum aufrechten Gang“, Scorpio Verlag

Edith Gloor wurde 1942 geboren, ist Autorin von Hörspielen, Theaterstücken und Filmdrehbüchern. Sie lebt in Wien und Zürich.