von: Walter Rüegg, Endingen (Schweiz)
13. März 2021

Fukushima, die Alpen und der Feinstaub

In den Alpen oder in Rom ist die Strahlendosis höher als in den Sperrzonen von Fukushima und Tschernobyl. Ein Dilemma.
Ein Gastbeitrag von Dr. Walter Rüegg aus Endingen (Schweiz).
Gastbeiträge müssen sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken, sondern zum Nachdenken und Dialog anregen.


© Walter Rüegg - Pressebild

Wie gefährlich sind radioaktive Strahlen?

Wie giftig (oder gesund) etwas ist, hängt von der Dosis ab. Bei radioaktiven Strahlen wird diese in Sievert (Sv) gemessen, 1 mSv = 1/1000 Sv.  Mehr als 5 Sv, oder 5000 mSv, auf einen Schlag sind tödlich. Bei kleinen Dosen ist die Wirkung nicht so klar ersichtlich. Unsere beste Wissensquelle sind die gründlichen Untersuchungen der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki. Insgesamt erwies sich die Strahlung als vergleichsweise wenig krebsfördernd. Sie verursachte rund 3% mehr Krebsfälle als in der unbestrahlten Vergleichsgruppe. Ab etwa 100-200 mSv zeigen sich erste Langzeiteffekte: 1% Erhöhung der Krebsrate im Alter. Ab rund 1000 mSv leidet man vorübergehend unter der Strahlenkrankheit, mit Symptomen ähnlich wie bei einer starken Chemotherapie. Was kein Zufall ist, in beiden Fällen werden die gleichen Zellen angegriffen. Eine Erhöhung der Missgeburtenrate konnte nie nicht festgestellt werden. Diese Erkenntnisse gelten nur eine kurze, heftige «Schockdosis», z.B. während einer Kernwaffenexplosion.

Wird die gleiche Dosis über eine längere Zeitspanne verteilt sind die Effekte wesentlich kleiner, um wieviel ist stark umstritten. Auf jeden Fall erfreuen sich die Bewohner des beliebten Kurortes Ramsar/Iran einer völlig normalen Gesundheit, obwohl sie einer Gesamtdosis (Lebensdosis) von teilweise weit über 5000 mSv (der tödlichen Schockdosis) ausgesetzt sind. Der Boden dieser Stadt ist reich an Natururan und Radium und bestrahlt die Bewohner von der Wiege bis zur Bahre. Auch in der Schweiz hat es viel Uran im Boden – besonders im Granit der Alpen. Entsprechend ist die Lebensdosis 2-3 mal höher als in Gegenden mit wenig Uran. Sie beträgt gemäss BAG 350 mSv, in den Alpen steigt sie oft über 400 mSv, mit Spitzen von um 1000 mSv.

Verursacht diese Strahlung mehr Krebsfälle? Es ist praktisch unmöglich dies eindeutig festzustellen. Der Grund: Solche zeitlich verteilten Dosen haben nur einen schwachen (oder gar keinen) Einfluss auf die Krebsrate. Diese wird von vielen anderen Faktoren bestimmt: Lebensstil, Nahrung, Umwelt, Bewegung, Psyche, Alter und Gene. Etwa jeder vierte stirbt an Krebs. Selbst innerhalb der kleinen Schweiz variiert die Krebsrate um typisch 10-30%, bei den einzelnen Krebstypen sind die Unterschiede noch viel grösser. Entsprechend widersprüchlich sind die unzähligen Studien über die Wirkung von kleinen bis mittlere Strahlendosen. Klar ist nur: Solche Strahlendosen sind, wenn überhaupt, nur schwach krebsfördernd.

Heute vertreten die Strahlenschutzbehörden, streng gemäss dem Vorsorgeprinzip, die Hypothese, dass auch die kleinste Dosis schädlich sein kann. Dies erleichtert die Regulierung, ist aber auch ein Blankoscheck für beliebig tiefe Grenzwerte und ausufernde Bürokratie (reguliert wird ab 0. 01 mSv/Jahr!). Und die Hypothese mutiert schnell zur Meinung, dass eine kleine Dosis gefährlich oder gar tödlich ist. Und so kommt es, dass der Grenzwert von 350 mSv (1936) auf 1 mSv pro Jahr gesunken ist (= 80 mSv Lebensdosis). Die natürliche Strahlung (350 mSv Lebensdosis) ist heute strenggenommen völlig illegal. Im Übrigen akzeptieren auch tiefgrüne Kreise, dass kein Unterschied zwischen «künstlichen» und «natürlichen» Strahlen besteht.

 

Das Evakuationsdilemma

Die WHO hat nach den Ereignissen in Tschernobyl eine Lebensdosis von 350 mSv als Evakuationslimite empfohlen – gerade so viel wie die durchschnittliche natürliche Lebensdosis in der Schweiz. Inzwischen haben die Ängste vor der Strahlung epidemische Ausmasse angenommen. Entsprechend empfiehlt heute die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) eine Evakuation ab einer Lebensdosis von 40 mSv – 60 mSv. Führende Fachleute haben die Evakuationen bei solchen Werten nicht nur als völlig unsinnig, sondern sogar als gefährlich kritisiert.

Der 2011 verstorbene Professor Zbigniew Jaworowski, der ehemalige Präsident der UNO-Behörde zur Erforschung der Strahlung UNSCEAR stellte im Zusammenhang mit Tschernobyl fest: “The most nonsensical action, however, was the evacuation of 336’000 people…“. Der renommierte japanische Strahlenmedizinier Professor Shunichi Yamashita aus Nagasaki, der im Auftrag der WHO über zwei Jahrzehnte lang in Tschernobyl geforscht hatte, forderte 2011 eine Heraufsetzung der zulässigen Jahresdosis auf 100 mSv, welche eine sofortige Rückkehr praktisch aller Evakuierten von Fukushima erlaubt hätte. Die Folge war ein Shitstorm, Yamashitas musste zurücktreten.

In Fukushima umfasst die am stärksten vom radioaktiven Fallout betroffene Zone etwa 100 km2. Ein Bewohner dieser Zone müsste mit einer mittleren Lebensdosis von rund 400 mSv rechnen. In den angrenzenden Zonen wurde teilweise bereits ab etwa 60 mSv evakuiert. Im direkten Vergleich dazu sind die Lebensdosen in weiten Teilen der Alpen höher. Das Dilemma: Konsequenterweise müsste man diese Teile sofort evakuieren und absperren. Und zwar für ewige Zeiten, denn die natürliche Strahlung nimmt nicht ab. Zumindest nicht in menschlichen Zeiträumen, Uran hat eine Halbwertszeit von über 4 Milliarden Jahre.

Die gleichen Überlegungen gelten auch für viele andere Gebiete mit erhöhter natürlicher Strahlung. Diese findet man im Schwarzwald, im Erzgebirge, im Piemont, im Massif Central, aber auch in Städten wie Rom oder Hongkong. Ganz zu schweigen vom bereits erwähnten Kurort Ramsar oder der Stadt Guarapari/Brasilien (Beiname: «Die gesunde Stadt»). Überhaupt fällt auf, dass die meisten Kurorte eine deutlich erhöhte Strahlung aufweisen. Könnte gar am Ende eine sanfte Bestrahlung gesund sein?

 

Feinstaub und Fukushima

Feinstaub ist die von der Öffentlichkeit am meisten unterschätzte Umweltgefahr. Ab einer PM10-Konzentration von 20 µg/m3 können epidemiologisch einwandfrei negative gesundheitliche Effekte nachgewiesen werden. In der Schweiz muss man im Mittelland oft mit 20 µg/m3 rechnen, längs den Verkehrsachsen und in den Städten können es auch bis 100 µg/m3 sein. Eine für das Jahr 2015 aktualisierte Studie des Bundesamts für Raumentwicklung ARE kommt zum Ergebnis, dass wegen der Luftverschmutzung durch PM10 in der Schweiz jährlich rund 2’200 Personen vorzeitig sterben (vorwiegend an Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs). Ein schwacher Trost: Bei unseren Nachbarn in Norditalien und in grossen Teilen Deutschland ist die Feinstaubbelastung noch grösser.

Eine Radioaktivitäts-Dosis von etwa 400 mSv hätte ähnliche Auswirkungen, gerechnet mit den heutigen von den Strahlenschutzbehörden benutzen Risikoformeln. Die überraschende Schlussfolgerung: Die Luftbelastung im schweizerischen Mittelland und ganz besonders in den Städten ist ein ähnlich grosses (und wesentlich besser belegtes) Gesundheitsrisiko wie die Strahlenbelastungen in der Kernzone von Fukushima. In der Schweiz müssten mehrere Dutzende Fukushima-Katastrophen gleichzeitig geschehen um vergleichbare gesundheitliche Schäden zu verursachen wie durch die aktuelle Luftverschmutzung.

Eine weitere brisante Schlussfolgerung: Fliehen die Bewohner der Fukushima-Evakuationszone (ein Gebiet mit relativ guter Luftqualität) nach Tokyo oder in eine andere Grossstadt, kommen sie vom Regen in die Traufe: Die Luftverschmutzung in solchen Städten ist gesundheitsmässig wesentlich schlimmer als die Strahlung. Auf diesen frappierenden Umstand wurde – im Zusammenhang mit Tschernobyl – bereits 2007 von Prof. J. Smith, einem der führenden Umweltwissenschaftler, in einer wissenschaftlich fundierten Arbeit (mit Peer-Reviews) hingewiesen[1].

Weltweit fordert der Feinstaub mehrere Millionen Todesopfer pro Jahr.

Fürchten wir uns vor dem Richtigen?

 

Walter Rüegg


 

[1] http://www.biomedcentral.com/1471-2458/7/49. Jim T Smith. Are passive smoking, air pollution and obesity a greater mortality risk than major radiation incidents? BMC Public Health 2007, 7:49, 3 April 2007

 

Walter Rüegg ist Kernphysiker und  ehemaliger Chef-Physiker Schweizer Armee. Dieser Text wurde zuerst in der Zeitung DIE BOTSCHAFT publiziert.

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