von: Urs Heinz Aerni
26. März 2019
© © KOPF & KRAGEN Fotografie - Doris Wirth
Urs Heinz Aerni: Die Kraft der Sprache ermöglicht…
Doris Wirth: Im Wohnzimmer in die Ferne und in den Zeiten zu reisen. Tief berührt zu werden von nicht selber erlebten Ereignissen, Geschichten, Gedanken – oder nur vom Klang einzelner Sätze oder Worte. Alles um sich herum zu vergessen. Entdeckungen. Eintauchen. Fliegen. Im besten Fall: tiefes Verständnis für sich und die Welt, Heilen, Frieden – Glück.
Aerni: Mein Lieblingsschreibort ist:
Wirth: Mein kleines Atelier im Funkhaus in Berlin. Ein Raum mit Tisch, selbstabgezogenen Dielen, Teekocher und ohne Netz. Mit Blick auf Stromleitung, altes Riesenrad und den gelben Flaum der schon keimenden Bäume.
Aerni: Der Lesende darf meine Bücher…
Wirth: 1. Kaufen! 2. Verschlingen! 3. Weiterempfehlen…!
Und natürlich lieben oder hassen. Aber Hauptsache erstmal entdecken und dann lesen.
Aerni: Eine Welt ohne Bücher wäre…
Wirth: milliardenfach ärmer und kleiner, eine Welt, in der das Tor zur vierten Dimension, zu den Welten zwischen den Buchdeckeln, zu den Geschichten, zu den Schätzen, zu den treuen Begleitern, zu den Tröstern und Helfern, den Zeitvertreibern und Augenschmeichlern, zu so viel Wissen und Schönheit, zu all den Abgründen, Abenteuern, dem Normalen und dem Langweiligen, dem Seltenen und dem Dramatischen, dem Lichten und dem Dunklen, dem ganzen Abbild der Welt und ihrer milliardenfachen Spiegelung, dem, was zurück und über die Welt hinausführt, was uns erdet und erhebt, was uns rät und beglückt, was uns erhellt und begeistert, komplett fehlte. Eine Welt, in der Bücher sofort erfunden werden müssten.
Aerni: Die Fähigkeit des Lesens ermöglicht…
Wirth: Allem voran sich zurechtzufinden in der Welt, im Alltag, sich selbständig bewegen zu können (das sage ich als Lehrerin in Alphabetisierungskursen). Dann natürlich: selbständig Geschichten zu erlesen, mit Taschenlampe unter der Bettdecke, ohne auf die Eltern angewiesen zu sein. Sie ermöglicht, sich zu informieren und auszuwählen: welchen Quellen ich Glauben schenke und was ich für wichtig halte, wovon ich mehr wissen möchte. Sie ermöglicht: sich dem Genuss von Texten hingeben zu können. Dem erhebenden und kribbelnden Gefühl von Lyrik, die mich erreicht – dem Singsang von guter Prosa, der sich anfühlt wie Heimkehren – und auch dem intellektuellen Futter von Sachliteratur. Sie ermöglicht die Sucht und sie ermöglicht das zweite Leben: das Leben in den Büchern.
Aerni: Die Arbeit mit Sprache und Geschichten bedeutet für mich…
Wirth: Eine Art Geheimkammer, in die ich hinabsteigen kann und auf die ich Zugriff habe, egal, was um mich herum passiert, ein Schatz und Refugium, die keiner mir nehmen kann und die im Notfall überlebenswichtig werden. Das wär zwar vielleicht eher eine Antwort auf die Frage „Schreiben bedeutet für mich…“
Die „Arbeit“ mit Sprache bedeutet mir viel: es ist eine schöne Arbeit, eine Arbeit, die ich machen möchte und die mich tief erfüllt, eine Arbeit, mit der und um die ich allerdings auch immer wieder ringe. Einerseits auf der zeitlichen Ebene: überhaupt Raum und Zeit und Geld dafür zu haben, schreiben zu können. Dann auch auf der ideellen Ebene – kann ich schreiben, traue ich mich zu schreiben, gestehe ich es mir zu, nehme ich es für mich in Anspruch? Egal, was andere davon halten und ob ich mir damit etwas verdiene oder nicht?
Letztlich bedeutet die Arbeit mit Sprache dann auch: Fleiß, Durchhaltevermögen, Mühseligkeiten, geheime Freude, Einsamkeit, Genügsamkeit, Routine und Disziplin. Geschichten sind dann im besten Fall das, was aus der Arbeit mit Sprache herauskommt, ihr Produkt. Geschichten sind sehr wichtig für mich, auch als Lehrerin, als Schreibwerkstattleiterin und als Mutter: sie machen mir Freude, sie entspannen…
Doris Wirth wurde in der Nacht zum zweiten August 1981 in Zürich geboren. Sie wuchs in einer Blocksiedlung zwischen Friedhof und Kunsteisbahn in Effretikon auf. Ihr erster Berufswunsch war Hundecoiffeuse. In ihrer Jugend füllte sie fünfzehn Tagebücher mit Schnurschrift und Zeichnungen. Seit Ende der Schulzeit schreibt sie Geschichten. Sie studierte Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie in Zürich und Berlin. Während des Studiums verdiente sie Geld als Verkäuferin, Bademeisterin und Kellnerin. Danach arbeitete sie beim Schweizerischen Komitee für UNICEF. Den Sommer 2010 verbrachte sie schreibend im Künstlerhaus NAIRS am Inn. Dann zog sie nach Berlin, wo sie seither als freie Autorin lebt. Im Herbst 2012 wohnte sie als Stadtschreiberin im Bischöflichen Konvikt in Rottweil. Ihre Texte wurden in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien abgedruckt und bei Wettbewerben ausgezeichnet. „Ausgekippt im All“ ist ihr erster Erzählband.