von: Martin Kunz
3. Juni 2017
© uha
Ähnlich könnten Zahnärztinnen oder Psychologen oder irgend Berufstätige darlegen, wie sie im Verlaufe ihrer Tätigkeit allmählich zu einer sicheren Haltung und zu grosser Vertrautheit mit den Zusammenhängen in ihrem Tätigkeitsfeld gelangt sind. Sie müssen nicht dauernd in einem Theoriebuch nachlesen, was zu tun ist. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings heute gross, dass einmal erworbenes Wissen und damit auch gewisse Erfahrungen veralten. Deshalb sollten wir alle lebenslänglich offen bleiben für sinnvollen Wissenszuwachs. Viele sind stolz darauf, selber immer wieder etwas herauszufinden, das sie erfolgreich umsetzen können. Andere bleiben innovationsskeptisch, wollen nichts wissen von neuen Theorien. Dass Praxis immer Praxis im Lichte einer Theorie ist, wollen sie gar nicht wissen. Die neue Theorie ist ja vielleicht tatsächlich nicht erhellend. Oder sie ist uralt – in der sprachlichen Gestalt modischer Gegenwart.
Vieles tun wir nicht abgestützt auf bewusst zur Kenntnis genommene Fakten oder Theorien, sondern aufgrund von Bauchgefühlen. Was immer das sein soll – es ist oft hilfreich. Diese Bauchgefühle sind existentiell wichtig. Wir wählen unsere Freunde, unsere Vorlieben kaum aufgrund rationaler Überlegungen. Wir verlieben uns jenseits aller Vernunft, entwickeln Passionen und Obsessionen. Diese Bauchgefühle können uns aber bekanntlich auch täuschen. Wir vertrauen beispielsweise „instinktiv“ meinungsbildenden Persönlichkeiten und wählen manchmal auch Politiker so: Sie scheinen authentisch zu sein, also sind ihre offenbar aufrichtig geäusserten Aussagen auch wahr. Das ist ein Bauchgefühlfehlschluss. Aber wir vertrauen trotzdem auf die guten Erfahrungen, die wir mit unseren Intuitionen gemacht haben.
Es gibt aber noch andere Dimensionen von Erfahrung. Eine Erfahrung in einem tieferen Sinn ist gerade ein Ereignis, das meine bisherige Erfahrung sprengt. Junge Menschen scheinen begierig zu sein, Erfahrungen zu machen, die das überschreiten, was man ihnen im Elternhaus und in der Schule vermittelt hat. Sie wollen radikale Erfahrungen machen. Das gehört zur emotionalen Kraft junger Menschen, dass sie über die Schnur hauen, dass sie Sprengsatzgelüste haben und für extreme Ideologien sich begeistern. Sie sind der Gegenpart zu den Altersmilden. Manchmal ist es aber in unserer destabilisierten Spätmoderne gerade umgekehrt: Die Jungen dösen und die Alten experimentieren ins Weltoffene hinein …
Was mich am meisten aufwühlt, sind sogenannte innere Erfahrungen. Erlebnisse, die mit Menschen zu tun haben. Fantastische Gespinste, die mir die Liebe beschert. Erlebnisse, die ich der Kunst und Musik verdanke, etwa die Entdeckung der Musik Gustav Mahlers oder Erschütterungen, die ich dank popkulturellen Durchkreuzungen meines verbildeten Geistes erfahren habe. Oder halt Goethe – ein paar Sätze von ihm, und ich bin wie frisch geduscht. Und immer wieder die Gedichte Trakls … Blaue Blume / die leise tönt in vergilbtem Gestein … Aber es muss gar nicht hohe Kunst sein. Eine doofe Daily Soap kann zu einem weiterführenden Ereignis werden, indem sie mich inspiriert zu einem Eintrag in mein Werkstattbuch, zu ein paar lyrischen Zeilen. Oder ich setze mich ans Klavier und improvisiere.
Merkwürdig, dass wir sagen: Ich habe eine Erfahrung g e m a c h t. Eine Erfahrung ist etwas, das ich nicht machen kann. Sie ist ein Widerfahrnis. Und zwar eines, das über alles bloss Erlebte hinaus Bedeutung hat. Etwas trifft mich, will mir zu verstehen geben. Will ausgelegt werden. Blosse Erlebnisse verdunsten. Eine wirkliche Erfahrung ist ein Wahrnehmen, das zu einem Gewahren wird, zu einem Innewerden. Die intensive Erfahrung öffnet. Man kann Erfahrungen nicht herbeiführen, aber man kann sie verhindern. Es stimmt einen traurig, wenn man Menschen begegnet, die zu sind. Oder ist es so, dass auch der Stumpfste Momente hat, in denen er offen wäre für etwas Entspringenlassendes (Martin Heidegger)?
Ermöglicht das am Ende die Religion? Man mag bedauern, dass viele Menschen, auch gebildete, nicht mehr Bescheid wissen über das Verschlungensein der jüdisch-christlichen Stränge mit der abendländischen Geschichte und Politik bis in den Materialismus und Kapitalismus der Moderne hinein. Vom Nichtwissen, was andere Mono- oder Polytheismen betrifft, gar nicht zu reden. Was aber vielleicht wichtiger ist: Junge Menschen suchen, bei allem Desinteresse an Kirchlichem, nach wie vor so etwas wie religiöse Erfahrungen.
Das Zeitalter des Glaubens ist vorbei. Wo Glaube auftaucht, ist er meist Fratze. Was aber nicht versiegt, ist das Lechzen nach Erfahrungen, für die wir noch keine Sprache haben. Der Fromme von morgen wird einer sein, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein, schrieb Karl Rahner, ausgerechnet ein Theologe,
schon 1966.
Es ist geradezu eine Kompetenz der Jungen – aber auch vieler Enttäuschter meiner Generation – wider den erstarrten Glauben aufbrechen zu wollen in einen noch kaum bestimmbaren Erfahrungs- und Frageraum, in eine Tiefendimension hinein, die selbst noch mit einem vorletzten Frage- und Ausrufezeichen versehen ist. Diese Tiefenerfahrung können wir göttlich nennen oder auch nicht. Ist das wichtig?
Mir drängt sich in diesem Zusammenhang die Frage auf: Wie, wenn Gott selber uns mitteilen würde: Siehe, es hat mich nie gegeben? Für mich die Frage einer erfahrungsprengenden Erfahrung.
Martin Kunz
Martin Kunz ist Philosoph, Künstler und Autor. Besuchen Sie hier seine Website…