von: Urs Heinz Aerni
10. Mai 2016
© Buchcover
Urs Heinz Aerni: Brigitte Schorr, Sie befassen sich professionell mit Menschen, deren Nervensysteme auf äußere Reize empfindlicher reagieren als der Durchschnitt. Die Rede ist von Hochsensibilität, kurz HSP. Wo beginnt denn diese im Vergleich zur Normalsensibilität? Wo gibt es dazu Anhaltspunkte im Alltag?
Brigtitte Schorr: Natürlich sind alle Menschen der Wahrnehmung fähig, ob hochsensibel oder nicht. Hochsensible nehmen aber im Gegensatz zu Normalsensiblen alles viel stärker und intensiver wahr – so kann bereits das schrille Geräusch des rasselnden Weckers das Nervensystem nachhaltig in Aufruhr bringen. Alltägliche Geräusche oder Gerüche können gar das innere Gleichgewicht belasten.
Aerni: Kann diese hochsensible Veranlagung auch in eine Stärke umgewandelt werden? Im Beruf zum Beispiel oder generell im Leben?
Schorr: Zur Stärke wird die hohe Wahrnehmungsfähigkeit dann, wenn sie nutzbringend und lebensfreundlich bewusst in die Persönlichkeit integriert wird. Solange der oder die Betroffenen noch dagegen ankämpfen, wird die Hochsensibilität als Feind und Belastung betrachtet.
Aerni: Was geschähe, wenn mehr HSP in die Politik und in die Wirtschaft eingebracht würde?
Schorr: Ich kann mir vorstellen, dass es ethischer, ruhiger, nachdenklicher und vielleicht auch langsamer zuginge. Durch ihre in der Regel hohen Ansprüche an sich selber und andere hätten Hochsensible sicher das Potential, Konflikte zu entschärfen, Konsens zu suchen und eine nachhaltige und bewusste Politik zu verfolgen. Durch ihre Verletzlichkeit suchten sie wahrscheinlich mehr das Gespräch und den Austausch.
Aerni: Sie beraten, geben Vorträge und bilden Fachpersonen aus. Was hat sie motiviert, für die Hochsensibilität aktiv zu werden? Wo sahen Sie, dass ein Handlungsbedarf besteht?
Schorr: Eigentlich wollte ich mich einem Netzwerk anschließen – ich dachte, es müsste doch schon Fachpersonen geben, die sich mit dem Thema beschäftigen und sich darauf spezialisiert haben. Das war aber nicht der Fall. Gleichzeitig erlebe ich, dass das Bedürfnis bei den Betroffenen sehr groß ist, mehr darüber zu erfahren. In einer Zeit der Unruhe und des schnellen gesellschaftlichen Wandels sind es wohl vor allem zunächst die Hochsensiblen, die da nicht mehr mithalten können oder wollen.
Aerni: Wenn man bei sich selber Verdachtsmomente ausmacht, die Indizien für eine Hochsensibilität sein könnte, was sollte getan werden? Was wären die nächsten Schritte?
Schorr: Zum Einordnen der eigenen Beobachtungen können Fragebogen zum Thema eine gute Hilfestellung sein, sie helfen, das mögliche Bild einzukreisen. Danach könnte man an sich selbst genauer beobachten und sich fragen, wie sich meine hochsensible Veranlagung bemerkbar macht. Oder in welchen Bereichen bin ich besonders empfindlich, in welchen nicht? Wenn der Leidensdruck sehr groß ist, kann das Gespräch mit einer Fachperson hilfreich sein, die sich auf das Thema spezialisiert hat.
Aerni: Wie schuldig ist die Gesellschaft, dass HS zunehmend ein Thema wird? Oder fördert der Zeitgeist dahinter?
Schorr: Ich spreche nicht gerne in Begriffen wie Schuld – das ist ein sehr großes Wort. Allerdings gibt es Verantwortung und da kann man in unserer Gesellschaft allerdings beobachten, dass die Verantwortung sensiblen Menschen gegenüber nicht genügend wahrgenommen wird. Hochsensible haben oftmals ein seismografisches Gespür für das, was nötig ist. Wenn zum Beispiel normalsensible Politiker oder Manager lernen würden, Hochsensible bewusst in ihre Entscheidungen miteinzubeziehen, wäre so eine Katastrophe wie die Finanzkrise wahrscheinlich nicht passiert…