von: Urs Heinz Aerni
27. Mai 2019

„… eine Nische der Schonung im Trubel der Zeit“

Wir fragen Schreibende nach ihrem Verhältnis zur Sprache, zur Arbeit und zu Büchern. Jetzt mit Urs Faes.

© Foto: Ekko von Schwichow

Urs Heinz Aerni: Die Kraft der Sprache ermöglicht…

Urs Faes: …dass sich das ereignet, was man das Wunder des Literarischen nennen könnte: dass aus Buchstaben, Wort um Wort, in meinem Kopf eine Welt entsteht, die meiner eigenen verwandt ist, aber ihren ganz eigenen Ton, ihren unverwechselbaren Klang hat, und eine Geschichte erzählt, die auch meine eigene sein könnte…

Aerni: Mein Lieblingsschreibort ist:

Faes: … kein fester, sondern immer ein vorläufiger, aber ein Ort, an dem die Wörter und Worte so allmählich hervorkriechen, zu summen beginnen, zu einem Rhythmus sich finden und in ein Erzählen, das fortträgt…

Aerni: Der Lesende darf meine Bücher…

Faes: …nicht nur immer mal wiederlesen, sondern gern auch einem andern vorlesen; einander vorlesen schafft Nähe und Sinnlichkeit und einen gemeinsamen Rhythmus, der über die Alltagswelt hinausführt; es muss nicht in den „siebten Himmel“ sein, aber vielleicht in eine Nische der Schonung im Trubel der Zeit.

Aerni: Eine Welt ohne Bücher würde…

Faes: …seinwie ein Morgen ohne Kohlmeisengesang und Spatzengeklimper, ohne das Licht über den Dächern, ohne Glyzinienduft, der herüberweht, ohne Kinderstimmen im Hinterhof, ein Ort also, wüst und leer, wie die Erde vor der Schöpfung oder nach der Apokalypse…

Aerni: Die Fähigkeit des Lesens ermöglicht…

Faes: …das Lesen in uns selbst und in den andern, das Buchstabieren von Gesichtern und Landschaften; lesend versetzen wir uns in andere, lesen ihre Geschichten als unsere eigene, wärmen unser fröstelndes Leben an dem der Protagonisten: die unerfüllte Liebe, den Verrat, das seltene Glück. Einer meiner Protagonisten (im Buch Ombra) sagt es so: „Nirgends sind wir so sehr bei uns wie im Lesen und Schreiben; die Sprache kann das Entfernte, das nur Gedachte und Geträumte, uns nahe bringen und mit dem verbinden, was uns aus der Gegenwart erreicht; lesend übersetzen wir Gegenwärtiges in Zeichen, gewinnen wir aus Zeichen Gegenwart…“

Aerni: Die Arbeit mit Sprache und Geschichten bedeutet für mich…

Faes: …dass im Lesen und Schreiben eine andere Welt entsteht, die uns packt und entführt; das Tröstliche daran ist, dass sie dadurch unsere alltägliche Welt als nur eine von vielen möglichen entlarvt, also als zufällig erscheinen lässt.

 


Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman Paarbildung stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.
„Behutsam und zart, zugleich strichsicher und ohne ein Wort zu viel.“ Hans Ulrich Probst, SRF

Anbei sehen Sie eine Auswahl seiner Werke und hier können Sie die Homepage besuchen…