von: Urs Heinz Aerni
23. Juni 2019

„ … eine enorme Erweiterung des eigenen Horizonts.“

Wir befragen Schreibende zu ihrem Verhältnis zur Arbeit, zur Sprache und zu Büchern. Jetzt mit Evelina Jecker Lambreva.

© Evelina Jecker Lambreva - © Alexander Jecker - Braumüller Verlag

Urs Heinz Aerni: Die Kraft der Sprache ermöglicht…

Evelina Jecker Lambreva: Unabhängig davon, ob man spricht, liest, selber schreibt, oder alles zusammen: die Kraft der Sprache ermöglicht eine tiefe Reflexion über das Mensch-Sein und insbesondere über das eigene Mensch-Sein in seiner Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen. Sie ermöglicht auch den profunden Einblick in das Leben und ins innere Erleben anderer. Sie begünstigt Überwindung von Grenzen, sie macht Fremdes vertraut. Sie ist die Brücke aus Worten zwischen dem Ich und dem Du, ein tragender Balken zwischen dem Individuum und der Gesellschaft in der Geschichte der Menschheit. Im weiteren Sinn ermöglicht die Kraft der Sprache auch eine Linderung von Leiden und sogar Heilung. Man denke dabei nur an die Behandlungsansätze der Psychoanalyse oder an den wirkungsvollen therapeutischen Effekt der Bibliotherapie.

Die Kraft der Sprache kann aber auch zerstörerisch einschlagen, sie kann fundamental verletzen und tiefe Wunden aufreissen, sie kann Hass salonfähig machen und Krieg, ja sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gang setzen. Die Kraft der Sprache ermöglicht es, sie – die Sprache – als Waffe zu (miss)brauchen, sei es zum Angriff oder zum Schutz.

Aerni: Mein Lieblingsschreibort ist:

Jecker Lambreva: Momentan meine Praxis in Luzern und zwar am ganz frühen Morgen. Aber er wechselt immer wieder: ich schreibe gern in unserem Landhaus in den bulgarischen Bergen, in unserer Wohnung direkt am Schwarzen Meer, in meinem Büro zu Hause in Holzhäusern, in der Natur, in einem liebgewonnenen Hotel, im Zug, am Flughafen. Ein jeder Schreibort – auch der unmöglichste – kann zu meinem Lieblingsschreibort werden, sobald mich eine Idee packt, die danach schreit, in Worte gefasst, entwickelt und niedergeschrieben zu werden. Kein Lieblingsschreibort sind für mich nur diejenigen Orte, an denen ich noch nie geschrieben habe: z.B. in einer Cafeteria, in einem Restaurant, im Badezimmer oder auf dem WC.

Aerni: Der Lesende darf meine Bücher…

Jecker Lambreva: … auch schrecklich finden. Hauptsache ist, er kann sich auch nach Jahren an sie erinnern.

Aerni: Eine Welt ohne Bücher würde…

Jecker Lambreva: … untergehen in Dunkelheit, Leere, Unwissenheit und schliesslich in Sinnlosigkeit.

Aerni: Die Fähigkeit des Lesens ermöglicht…

Jecker Lambreva: … eine enorme Erweiterung des eigenen Horizonts.

Aerni: Die Arbeit mit Sprache und Geschichten bedeutet für mich…

Jecker Lambreva: … alles in meinem Berufsleben als Psychiaterin und echtes Vergnügen, wenn ich selbst literarische Texte verfasse, die meistens inspiriert sind von den zentralen Themen des Lebens, die auch meine Patientinnen und Patienten ins Gespräch bringen.


 

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband „Niemandes Spiegel“ sowie der Erzählband „Unerwartet“ vor. „Unerwartet“ erschien bei Pro Libro und bei Braumüller: „Vaters Land“ (2014), „Nicht mehr“ (2016) und „Entscheidung“ (2019).