von: Dr. Matthias Baltisberger
29. Juni 2018
Dr. Matthias Baltisberger, em. Professor an der ETH Zürich, las das Buch "Grundlagen der Feldbotanik" von Rita Lüder, erschienen im Haupt Verlag. Wir veröffentlichen seine Kritik als Gastbeitrag.
© Haupt Verlag
Mitte Juni 2018 sind im Haupt Verlag (Bern) drei Botanikbücher herausgekommen. Ich habe bis Montag 25. Juni 2018 etwa zwei Tage investiert, um in diese neuen Bücher reinzuschauen. Zuerst als Assistent, später (ab 1979) als verantwortlicher Dozent und Professor an der ETH habe ich während 40 Jahren (1975–2016) Unterricht in systematischer Botanik gegeben. In dieser Zeit habe ich mit Mitarbeitenden mehrere Lehrbücher, Unterrichts- und Lehrmittel sowie Elearningtools konzipiert und erfolgreich angewendet, viele davon sind immer noch in Gebrauch. Das Vermitteln von Artenkenntnis, die Feldbotanik und die Zertifizierung von botanischen Feldkenntnissen sind mir ein sehr grosses Anliegen. Da das zuerst erwähnte Buch als Grundlage und Lehrbuch für die Zertifikatsprüfungen angepriesen wird, ist es für mich wichtig, meine persönlichen Eindrücke hier bekannt zu geben:
„Grundlagen der Feldbotanik“ von Rita Lüder (Haupt Verlag)
Das Buch sieht toll aus. Es ist auf guter Papierqualität gedruckt und gut gebunden, deshalb ist es auch ziemlich dick und schwer. Es enthält viele Abbildungen und viele Fotos, die meisten von der Autorin selbst. Das Buch wird als Lehrmittel für die Zertifizierung angepriesen. Aber es enthält leider sehr viele Fehler, Ungenauigkeiten und Inkonsequenzen, und wichtige Dinge fehlen. Botanisch versierte Leute werden das auch sehr schnell merken, man muss aber aufmerksam und sorgfältig lesen, denn im schön gestalteten Text in gutem Deutsch überliest man leicht etwas. Im Folgenden ein paar wenige Beispiele:
- Das Buch enthält viel zu viele Informationen, ich schätze, dass etwa die Hälfte der Inhalte für das Zielpublikum (Zertifikatsprüfungen) nicht relevant ist (z.B. S. 52 mit drei Abschnitten, nur der kleinste ist prüfungsrelevant, die zwei etwas umfangreicheren Abschnitte über Asplenium ceterach sind nicht relevant).
- Ich habe als Test 4 Familien genauer angeschaut. Es gibt kaum eine Seite ohne fachliche Fehler, zudem ist vieles ungenau formuliert oder unvollständig aufgeführt.
- Viele Artbeispiele (oft dokumentiert mit hervorragenden Fotos oder Abbildungen) haben keinen Bezug zum Stoff der Zertifikate (z.B. die zwei Seiten 492 und 493 über Dentaria oder die sechs Bilder unten an der Seite 414 mit nicht prüfungsrelevanten Euphorbia-Arten).
- Familie Ranunculaceae, allgemeiner Teil (S. 232–239): Auf S. 235 steht ein kleiner Abschnitt (Zitat): „Bei einigen Gattungen wie Küchenschelle (Pulsatilla) und Windröschen (Anemone) gibt es ein Perigon, d.h., bei der Blütenhülle können keine Kelch- und Kronblätter unterschieden werden. Die allgemeine Blütenformel für diese Familie zeigt nur wenige konstante Merkmale:“ – und dann folgt die Blütenformel. Dazu Kommentare meinerseits:
- Neben Anemone und Pulsatilla haben noch weitere Gattungen (ich nenne nur solche mit prüfungsrelevanten Arten) ebenfalls ein Perigon, nämlich Caltha, Clematis, Helleborus, Thalictrum und Trollius. Die Blütenhülle Perigon ist in der Familie also häufig. Trotzdem steht direkt nach dem oben zitierten Abschnitt als allgemeine Blütenformel (Zitat): „K2–∞ C5–∞ A∞ G1–∞„, also Blütenhülle nur mit Kelch und Krone.
- Auf S. 238 stehen in grösserer Schrift und mit senkrechtem Balken als bedeutend hervorgehoben (Zitat) „Die wichtigsten Familien-Merkmale auf einen Blick“. Hier wird die Blütenhülle richtigerweise angegeben als (Zitat) „Häufig Perigon, oft 5 Kronblätter“; es ist aber irreführend, dass ein paar Seiten weiter vorne die allgemeine Blütenformel nur mit Kelch und Krone angegeben wird.
- In den Zertifikatsprüfungen werden nur wissenschaftliche Namen akzeptiert. Es ist nicht nachvollziehbar, dass im ganzen Buch immer zuerst und fett gedruckt die deutschen Namen angegeben werden, die lateinischen (wissenschaftlichen) Namen folgen (allerdings nicht immer) nachher und nur in Klammern.
- Verwechslungsmöglichkeiten werden oft tabellarisch einander gegenübergestellt. Das ist ein sehr interessanter Ansatz, aber die Sache ist völlig unbrauchbar ausgeführt (Darstellung, Menge, Auswahl der Taxa, Aussagekraft der Bilder und Kommentare; z.B. S. 668 oder S. 702).
- Auf den zwei sehr guten Abbildungen (S. 495), angeschrieben mit Thesium alpinum, ist sicher nicht diese Art zu sehen; wahrscheinlich handelt es um Thesium pyrenaicum.
- Auf der Einstiegsseite zu den Angiospermae (Bedecktsamer) wird dieser Name als Familie eingestuft (S. 86).
- Die allgemeinen Kapitel sind extrem kurz (zu kurz und zu stark vereinfacht), zudem lassen die Texte vermuten, dass die Autorin nicht vertraut ist mit den Verhältnissen in der Schweiz resp. in den Alpen; zwei Beispiele:
- Unter „Pflanzengesellschaften“ (S. 29; eine einzige Seite für das ganze Thema, erst noch mit zwei Bildern!) sind die zwei Bilder angeschrieben mit „Löwenzahnwiese“ und „Orchideenwiese“; das sind keine Pflanzengesellschaften, das sind volkstümliche Bezeichnungen.
- Unter „Höhenstufen“ (S. 27; wieder nur eine Seite für das ganze Thema) finden wir gleich ein paar Fehlgriffe:
- Hier steht der Satz (Zitat): „Die höchsten Erhebungen in den deutschen Mittelgebirgen sind … , in der Schweiz der Mont Tendre 1679 m) im Schweizer Jura“. Der Jura gehört sicher nicht zu den deutschen Mittelgebirgen! Und was ist mit den Alpen? Über diese dominante Bergregion steht kein Wort.
- Im schematischen Gebirge zu den Höhenstufen steht zur zweitobersten Stufe (Zitat): „Alpine Stufe (2000–3000 m): waldfreie Flächen mit Schuttvegetation, Polsterseggenrasen, Staudenfluren und Zwergstrauchheiden“. Kommentar meinerseits: Der häufigste Vegetationstyp „Rasen“ wird nicht erwähnt (Polsterseggenrasen ist eine Spezialvegetation), und Staudenfluren sind v.a. subalpin anzutreffen.
- Im schematischen Gebirge zu den Höhenstufen steht zur obersten Stufe (Zitat): „Nivale Stufe (>3000 m): ± das ganze Jahr über schneebedeckt…“. Das ist schlicht falsch.
Fazit: Das Buch ist, obwohl es sehr schön aussieht, absolut unbrauchbar für den beabsichtigten Zweck! Lernende wissen nicht, was unwichtiger Ballast resp. was sogar falsch ist, sie lernen also viel zu viel und erst noch fehlerhafte Informationen. Ich postuliere, dass Interessierte, die sich nur mit diesem Buch auf die Prüfung 600 vorbereiten, scheitern werden. Deshalb erachte ich es als meine Pflicht, diese meine Meinung auch kundzutun. Und ja, ich kann die oben erwähnten Punkte (und noch viele mehr) mit Fakten belegen.
Es ist für mich nicht nach vollziehbar, dass ein so renomierter und versierter Verlag wie der Haupt Verlag (spezialisiert auf naturwissenschaftliche Bücher) ein so mangelhaftes Buch wie die „Grundlagen der Feldbotanik“ herausgeben konnte. Da wurde offensichtlich zu wenig (wenn überhaupt) in einen Reviewprozess eingesetzt.
Dr. Matthias Baltisberger
Prof. em. ETH Zürich
Institut für Integrative Biologie
Email balti@ethz.ch
Das besprochene Buch:
Titel: |
Grundlagen der Feldbotanik |
Untertitel: |
Familien und Gattungen einheimischer Pflanzen |
Autor: |
Rita Lüder |
EAN: |
9783258080468 |
ISBN: |
978-3-258-08046-8 |
Format: |
Fester Einband |
Verlag: |
Haupt Bern |
Genre: |
Botanik |