von: Nadja Pecinska
9. Juli 2013

Ein leeres Schwimmbecken gefüllt mit 10.000 geweinten Tränen

Auf Einladung unseres Korrespondenten in der Schweiz Urs Heinz Aerni berichtet die Journalistin Nadja Pecinska vom Literaturfestival in den Walliser Alpen.

© Quelle: Nadja Pecinska

Gastbeitrag zum 18. Internationalen Literaturfestival Leukerbad von Nadja Pecinska

Leukerbad – Zum 18. Mal, 29 Autoren, 3200 Besucher (Rekord!), an 9 verschiedenen Spielorten; das sind die trockenen Zahlen zur diesjährigen Austragung des Literaturfestivals in Leukerbad. Aber es waren andere Zahlen, die für Gänsehaut-Momente des am letzten Wochenende in Leukerbad stattgefundenen Literaturfestivals sorgten: 900 zu überwindende Höhenmeter zur Mitternachtslesung auf die Gemmi, 51°C heisses, überall aus dem Gestein quellendes Wasser, 35 Meter über der Dalaschlucht wackeldne Hängebrücken, die auf literarischen Spaziergängen zu überwinden waren, 10‘000 geweinte Tränen von Zuhörern der Lesung von Connie Palmen. Die holländische Schriftstellerin las im leeren Schwimmbecken des Rehabilitationszentrums Leukerbad aus ihrem neuesten Buch „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ (Diogenes). Hätte sie das ganze Buch gelesen, wäre das Becken am Ende wieder zur Hälfte gefüllt gewesen…

Warum vorlesen?

Der nächste prominente Gast des Festivals folgte nach Connie Palmen. Jonathan Safran Foer, der Autor des Wunderbuches „Extrem laut und unglaublich nah“ (Fischer), über das aber kein Wort verloren wurde. Auch hörte man keine Zeile aus dem für unsere hypercarnivore Gesellschaft so wichtige „Tiere essen“ (Fischer). Er las aus seinem Erstling „Alles ist erleuchtet“ (Fischer), tja, schade eigentlich. Wobei die Betonung auf „las“ gelegt werden muss. Denn an der diesjährigen Ausgabe des Festivals wurde vor allem eines: gelesen, vorgelesen. Eine drei- bis fünfminütige Einführung zum Autor, dann las dieser die verbleibenden 35 Minuten aus seinem Oeuvre. Wäre es nicht interessanter, die Autoren zu und nicht aus ihren Werken zu hören? Lesen können die Leser ja selbst, und sollen sie auch, die Autoren leben nicht nur von Luft allein, auch wenn es sich in dem Fall um beste Bergluft handelt. So sagte Foer bei seiner zweiten Lesung, er verstehe nicht, weshalb er aus den USA um die halbe Welt fliegen soll, nur, um aus seinen Büchern vorzulesen. Lesen, das können die Autoren meist sowieso nicht. Nach dieser Ansage wachten auch die letzten, durch monotone Lesestimmen eingelullten Anwesenden auf und es wurde engagiert diskutiert.

Diskutiert wurde auch intensiv über den Mythos Afrika und die Schuld und Verantwortung der weissen Kolonialbevölkerung Afrikas für das Geschehene. Unter dem Titel „L’Afrique n’existe pas“ lud Raphael Urweider, das Arbeitstier unter den Moderatoren am diesjährigen Festival,  Helon Habila, Antjie Krog und David Van Reybrouck zum Gespräch. Nicht ganz so weit weg, durch ein altes Land nach Marienbad führt Roger Monnerats neuester Roman „Das Marienbadspiel – und ein Mercedes für Marjampole“ (Bilger). Darin wird uns vor Augen geführt, dass es nicht immer ganz einfach ist, wenn man sich in einen von zwei eineiigen Zwillingen verliebt.

Auf dem Gipfel um Mitternacht

Nichts für schwache Nerven war die Mitternachtslesung auf der Gemmi (2314 m.ü.M.). Gut, man musste den Aufstieg, den man sich, blickt man aus dem Dorf die fast 1000 Meter hohe Felswand empor, nur schlecht vorstellen kann, nicht zu Fuß zurücklegen. Ab 23 Uhr nahm die Gemmi-Bahn für die Festivalgäste wieder ihren Betrieb auf. Nur gut, war es dunkel, sonst hätte sich das Bergrestaurant wohl kaum bis auf den letzten Platz gefüllt – erst am Tag wird sichtbar, wie hoch über dem Abgrund diese Bahn emporschwebt. Wenn es nicht alle Gäste in die Gondel schaffen, haben die Veranstalter ein kleineres Problem. Wenn aber der Autor, der die Mitternachtslesung geben soll, schon Stunden zuvor kreideweiss auf dem Dorfplatz sitzt, haben sie ein größeres. Irgendwie hat sich aber Arno Camenisch, seines Zeichens ein Schweizer Autor aus den Bündner Bergen, doch noch auf die Gemmi gequält und es zusammen mit Nora Gomringer geschafft, die anwesenden Gäste vom immensen, überwältigenden Sternenhimmel über ihnen loszureißen und zu später Stunde nochmals in ihren Bann zu ziehen.

Ein nicht minder Herzklopfen evozierendes Erlebnis hatten die Teilnehmer des literarischen Spazierganges durch die Dalaschlucht. Über in den Fels geschlagene Gitter, Leitern und Hängebrücken führte der Weg, schwindelnd und schwankend über die Schlucht hin zu einem Meer aus  Alpenblumen und einer Lesung der Ukrainischen Schriftstellerin Tanya Malyarchuk aus dem Buch „Einen schweren Schuh hatte ich gewählt … Lesen und wandern rund um Leukerbad“ (Dörlemann).

Mit schweren Taschen, voller neuem Lesestoff und leichten, durchlüfteten frisch inspirierten Köpfen machten sich die Festivalbesucher am Sonntagnachmittag die kurvige Straße wieder hinunter in ihre Städte, ein Strauss voller Alpenblumen in der Hand, um die Schönheit des Wochenendes noch so lange wie möglich festhalten zu können.

Erwähnt wurden nun erst neun der 29 anwesenden Autoren, für die vollständige Liste gehen Sie auf die Website des Festivals www.literaturfestival.ch, und besuchen Sie es im nächsten Jahr (4. bis 6. Juli 2014).

 

Nadja Pecinska im Auftrag von BERG.LINK Berlin