von: Anja Berger
4. April 2015
© pd - Anja Berger
Sie sind alle so groß, denke ich. Die Häuser, die Bäume, die Menschen. Ja, auch die Menschen. Das sind rücksichtslose Riesen auf zwei Beinen. Was ihnen begegnet, überrennen sie. Sie ignorieren ihr Umfeld. Drängen und zwängen sich überall hindurch. Rempeln und schupsen sich gegenseitig an. Da, da kommt gerade so einer! Und der hat auch noch dieses Vieh auf vier Pfoten dabei. Ein Hund. Treuer Gefährte und Freund. Das mag schon sein, aber unrein sind sie. Auf ihnen wuselt das Leben. Ich weiß das genau, nur hört niemand auf mich. Außerdem heben sie überall ihr Bein, wo es ihnen gerade schmeckt. Sie pinkeln an Bäume, Steine oder Hauswände. Egal, wer oder was in der Nähe ist. Schamlos, so was. Und manchmal, ja manchmal trifft das Geschäft dann nicht unbedingt nur den anvisierten Gegenstand. Aber das kümmert weder sie, noch ihre Herrchen oder Frauchen. Also eigentlich sind Hunde genauso rücksichtslos wie ihre Besitzer.
Obwohl die sechsbeinige Bedrohung weiter auf mich zukommt, bleibe ich sitzen. Mal sehen, was passiert. Ob sie mich wahrnehmen. Ob sie aufpassen. Trotz sämtlicher schlechter Erfahrungen bin ich gerne bereit, jedem einzelnen aufs Neue eine Chance zu geben, es besser zu machen. Schließlich ist das Leben viel zu kurz, um sich zu grämen. Außerdem gibt es ja Ausnahmen. Ich habe schon ein paar erlebt. Sie warten, wenn ich ihren Weg kreuze oder sie umrunden mich. Sie grüßen mich manchmal sogar, sprechen mit mir. Sie bewundern mich teilweise. Ja, die, die auf mich aufmerksam werden, sind nett. Sehr nett. Mehr von denen wäre schön. Aber die meisten werfen stattdessen Abfall nach mir; ob absichtlich oder nicht, spielt keine Rolle. Abfall gehört in die Tonne und nicht in meinen Lebensraum. Darum geht’s. Früher war das noch besser, sagt man. Allerdings bin ich mir da nicht so sicher. Die Menschen trugen damals doch nicht wirklich mehr Sorge zu ihrer Umwelt, sonst wären wir auf dieser Welt kaum an diesem Punkt angelangt, an dem wir heute sind, oder? Ich sinniere noch ein wenig darüber nach, als ich ein Kitzeln am Körper spüre. Ich schaue auf und erschreck mich fast zu Tode: Direkt vor meinen Augen klatscht eine beige, pelzige Tatze auf den Boden. Er hat mich verpasst. Aber nur um Haaresbreite. Himmel, das war knapp!
„Pass doch auf du Trampel!“, rufe ich ihm aufgebracht nach. Aber er hört mich nicht. Oder er will mich nicht hören. Der Hund trottet friedlich bei Fuß weiter. Die Leine, die sein Herrchen in der Hand hält, baumelt locker hin und her. Sie wäre überhaupt nicht nötig gewesen. Das wandelnde Haarknäuel wäre ohnehin nicht von seiner Seite gewichen. Es scheint sich bei diesem Menschen wohl zu fühlen. Abgesehen davon: Wer trennt sich schon gerne von seiner Futterstation? Obwohl nicht beabsichtigt, kommt mir auf diese Frage prompt eine Antwort: Die, denen es trotz Futter nicht gut geht. Oder die, die glauben, irgendwo etwas Besseres zu finden, ohne zu merken, dass das Beste direkt vor ihrer Nase liegt. Da komme ich doch glatt wieder ins Grübeln. Was ist gut und was ist schlecht? Wie ist das zu definieren? Ich zum Beispiel. Ich habe Nahrung. Die Sonne scheint, der rasen ist sattgrün, es riecht nach Blumen. Ich lebe an einem herrlichen Ort. Eigentlich. Denn da sind eben diese Ignoranten, diese Rüpel, diese unangenehmen Situationen, wenn das Leben nicht ganz so spielt, wie man es gerne hätte. Aber ist das, was ich habe deswegen schlecht? Müsste ich jetzt darauf aus sein, etwas Besseres zu finden? Ist es Bequemlichkeit, wenn ich mir sage, dass woanders andere Hürden warten oder ist dieser Gedanke schlicht realistisch? Während ich hin und her überlege, kommen wieder vier Füße in meine Richtung. Einer schlurft in seinen Converse, der andere tänzelt geradezu in seinen schwarzen Tretern. Bürohengst oder Außendienstmitarbeiter, rate ich spontan. Da bleiben die beiden vor mir stehen. Ich ahne Böses. Vorsichtig schau ich auf. Oh nein, ihr wollt euch hier aber nicht hinsetzen, oder?
„Nicht euer Ernst!“, ruf ich aus. Ich schau sie drohend an, aber sie haben nur Augen für ihre weiße Papierverpackung, die sie in Händen halten. Essen vom Take Away auf der gegenüberliegenden Straße. Ich kenn die Tüten inzwischen.
„Hier ist besetzt!“, ruf ich noch einmal. Und als ich schon glaube, es war alles umsonst, mein Leben sei vorbei, beugt sich der eine zu mir hinunter. Er guckt mich an. Dann stupst er seinen Kumpel an. „Hei“, sagt er zum Converse-Typen, „ich glaub, wir suchen uns einen andern Platz. Der hier scheint schon besetzt zu sein.“
Sein Kumpel guckt erst etwas doof aus der Wäsche, doch dann verändert sich sein Ausdruck. Er hat mich entdeckt und sieht mich direkt an. „Himmel, den habe ich ja gar nicht gesehen!“
Sie machen beide einen Schritt zur Seite und setzen sich neben mich.
„Tolles Haus“, sagt der Bürohengst an mich gewandt.
„Ja, ein ganz hübsches Kerlchen, für ’ne Schnecke“, mischt sich der andere in unsere Unterhaltung ein.
Ich widerspreche ihm nicht. Warum auch, wenn es doch stimmt? Ich lasse die Herren ihr Mittagessen genießen, verkriech mich in den kühlen Schatten und philosophiere ein bisschen weiter: Wenn die guten Dinge, die schlechten überwiegen, und sei es auch nur ein klein wenig, dann ist man gut bedient, wenn man sich nicht dieser modernen Extremform des Strebens nach Mehr, Besser, Weiter, unterwirft. Dieses rasende Tempo, in dem sich alles entwickelt, ist ungesund. Die Menschen sollten wieder alles etwas ruhiger angehen. So wie ich. Aber was weiß ich schon, ich bin ja nur eine kleine, aber zufriedene Schnecke auf einem flachen Stein.
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