von: Jill Grey
2. Dezember 2021

„Dream Motel“ Roman von Jill Grey

Eine Textprobe exklusiv auf BERGLINK von Jill Grey.

Gelegentlich kommt es vor, dass sich Durchreisende auf die abgelegene Waldlichtung verirren und im Dream Motel stranden. Und dann spurlos verschwinden...
Die Einwohner von Collburn sind sehr darum bemüht, dass das schreckliche Geheimnis des Motels nie über die Berge hinaus gelangt, in welche ihre Kleinstadt gebettet ist. Auch wenn sie nicht wissen, warum diese entsetzlichen Dinge geschehen – eines wissen sie aus leidvoller Erfahrung:
Man darf das Motel nicht schließen. Man darf das Motel nicht niederbrennen. Denn sonst trifft das Grauen die ganze Stadt.
Und das Motel lässt es niemals zu, dass man Gäste zurückweist. Der junge Mann, der diese Bürde alleine tragen und das Motel betreiben muss, sehnt sich nach einem normalen Leben. Nur, was würde geschehen, wenn die düsteren Geheimnisse dieses alten Hauses ans Licht kommen...?

«Ein Horror Thriller, der sich liest, als hätte ihn Stephen King geschrieben.» – Nicole Selmi, Autorin


© Buchcover

Prolog

An einem warmen Junitag 1984 …

Erschöpft zog der junge Mann ein Taschentuch aus seiner Gesäßtasche und strich sich damit über die Stirn. Dann begutachtete er das Grab, welches er in den letzten zwei Stunden ausgehoben hatte. Skeptisch schweifte sein Blick zum Leiterkarren, auf dem Miss Rankings Körper lag. Die Frau musste an die zweihundertvierzig Pfund wiegen und der Umfang ihres Körpers begrub den kleinen Karren beinahe unter sich – der junge Mann brachte nicht einmal die Hälfte auf die Waage. Dementsprechend war der Weg, den er durch den Wald auf diese abgelegene Lichtung zurücklegen musste, sehr beschwerlich und kräftezehrend gewesen.

Er steckte das Taschentuch in seine Jeans zurück, legte die Schaufel beiseite und zog den Leiterkarren neben die Grube, wo er geraume Zeit in Gedanken versunken verharrte. Mit Bedauern kam er zum Schluss, dass er keine Kraft hatte, Miss Ranking standesgemäß in ihr Grab zu legen, er würde sie hineinstoßen müssen, in der Hoffnung, dass sie auf dem Rücken landete. Und wenn nicht? Er konnte sie unmöglich mit dem Gesicht nach unten beisetzen, das wäre nicht nur Blasphemie, es würde ihn zudem tagtäglich verfolgen. Nicht, dass er ein gottesfürchtiger Mann gewesen wäre, nichtsdestotrotz glaubte er an Gott, und kein Mensch sollte mit dem Gesicht nach unten beerdigt werden.

Mit einem Stöhnen hievte er den korpulenten Körper vom Leiterkarren. Er landete mit einem dumpfen Geräusch neben der Grube. Weitere Minuten verstrichen, in denen sich der junge Mann, der in allen Dingen stets akkurat handelte, darüber Gedanken machte, wie dieser Körper richtig fallen könnte. Seine Schlussfolgerung: er musste ihn von der anderen Seite hineinziehen.

Im schwachen Schein der Petroleumlampe begab er sich auf die andere Seite und zog Miss Ranking über den Rand, und wahrhaftig, ihr massiger Körper plumpste perfekt in das Grab. Nein, nicht ganz. Erschöpft rieb er sich den schmerzenden Nacken und stieg dann in die Grube – sehr darauf bedacht, nicht auf den Körper zu treten – und zog an ihrem linken Arm, der unter dem Gesäß eingeklemmt war. Anschließend legte er beide Arme behutsam auf ihre Brust, kletterte wieder nach oben und leuchtete mit der Lampe in das Grab. Er hatte Miss Ranking ein grün/rosa geblümtes Kleid angezogen, es war das einzige in ihrem Koffer, das ihm für diesen Anlass angemessen erschien, und sie sah ausnehmend hübsch darin aus.

Nach einem kurzen Gebet, welches er aus der Bibel las, schaufelte er die Grube zu, streute Grassamen darüber und trat danach die Erde fest.

Ein schwermütiger Seufzer entwich seiner Kehle, als er die Schaufel und die Decke, in welcher er den Leichnam eingewickelt hatte, auf den Leiterkarren legte, um den Heimweg anzutreten. Dieser würde ohne das Gewicht halb so lange und mühselig werden.

Gut eine Stunde später verstaute er den Leiterkarren und die Schaufel in der Scheune. Nachdem er das Tor hinter sich geschlossen hatte, glitt sein Blick zum Haus; im Mondschein war die Tafel, die über dem Eingang angebracht war, gut zu lesen – Dream Motel. Leider hatte sich für Miss Ranking der Traum in einen Albtraum gewandelt.

Niedergeschlagen schritt der junge Mann die Verandastufen hoch, streifte die Stiefel ab und schlüpfte in die Hausschuhe. Danach löschte er die Petroleumlampe und hängte sie an den Haken neben der Tür.

In der Küche, in der die Wanduhr die zwölfte Stunde schlug, machte er sich einen Tee, mit dem er ins Büro ging und den Plan von der Waldlichtung hervorholte, der unter einer losen Bodendiele versteckt war. Er breitete ihn auf dem Tisch aus und zeichnete an der Stelle, wo er Miss Ranking zur letzten Ruhe gebettet hatte, ein Rechteck, schrieb ihre Initialen hinein und flüsterte: »Mögen Sie in Frieden ruhen, Miss Ranking …«

 

1

 

Am nächsten Morgen fuhr Terry Bowden mit seinem alten Ford Pick Up nach Collburn, eine Kleinstadt, die kaum etwas zu bieten hatte, abgesehen von einem prachtvollen See, der in den Schoß der Berge eingebettet war. Und dieser See, der von Frühling bis Herbst Touristen anlockte, war der Grund, dass es in der Kleinstadt drei hübsche Hotels und einen Campingplatz gab – Selbstredend an den See angrenzend. Die Leute kamen hierher, um zu baden oder ein Boot zu mieten und sich im Angeln zu üben. Manche gingen auch in die Berge Wandern oder Jagen. Würde man die Stadt von weit oben betrachten, wäre sie das Herz eines vierblättrigen Kleeblattes. Die vier Blätter stellten die Großstädte dar, welche Collburn umschlossen, jede in gut zwei Stunden mit dem Auto erreichbar. Dazwischen war Niemandsland. Und in diesem Niemandsland gab es unzählige Abzweigungen, die wiederum ins Nichts führten. Viele Durchreisende kamen durch das kleine Städtchen, und manche verirrten sich auf Nebenstraßen, wollten sie zum Beispiel von der Großstadt Bronstown quer durchs Niemandsland in die Großstadt Sallville. Früher, als die Kohlegrube noch in Betrieb war, führten diese unzähligen Straßen zu den Hütten der Leute, die im Berg für einen Hungerlohn arbeiteten. Die Hütten, längst verfallen, das Bergwerk geschlossen, führten die noch Straßen vorhanden manch Durchreisenden in die Irre.

Und eine dieser Straßen führte zum Dream Motel.

Vor Brent Howarts Lebensmitteladen stellte der junge Mann seinen Pick Up ab und betrat den Laden, in dem es schön kühl war. Howart gab gerade einem Touristen Tipps betreffend der Köder, und wie es den Anschein machte, hatte dieser sich bereits für eine Angelrute entschieden. Jetzt warf er dem jungen Mann einen Blick zu und hob die Hand. »Hallo, Terry, brauchst du Vorräte?«

»Ja, ich habe eine Liste gemacht, ich lege sie dir auf den Tresen.«

»Musst du sonst noch Besorgungen machen?«

»Nein, ich gehe noch zum Friedhof.«

Augenblicklich entglitten Brent Howart sämtliche Gesichtszüge und er gab ein mürrisches »Verstehe« von sich. Dann schien er sich gefasst zu haben und sagte: »Okay, ich stell dir alles zusammen« und widmete sich weiter seinem Kunden.

Der nächste Stopp war der Friedhof. Dieses Ritual hielt der junge Mann eisern ein, wenn es geschehen war. Weshalb er das tat, konnte er nicht sagen. Womöglich, weil er sich nach einer solchen Nacht einsam fühlte. Er kniete vor dem Grab seiner Großmutter nieder, legte die Wiesenblumen, die er zu Hause gepflückt hatte, vor den Grabstein und sprach leise: »Es ist wieder geschehen. Ich habe die Frau würdig bestattet …« Sein Blick glitt über die Gräber, dann zur Inschrift des Grabes seiner Großmutter:

 

OLIVIA BOWDEN 1909 – 1979

 

Als seine Oma vor fünf Jahren starb, war Terry gerade siebzehn geworden. Das Dream Motel forderte seinen Tribut, Olivia hatte es von ihrem Vater geerbt und war darüber nicht glücklich gewesen. Sie sagte oft, wenn der Herr sie eines Tages zu sich nehmen würde, wäre das ein Segen für sie.

Eine halbe Stunde blieb Terry in Schweigen verharrend am Grab, dann fuhr er zurück zu Howart, der ihm half die Vorräte auf den Truck zu laden, wobei der Ladenbesitzer, der die Fünfzig überschritten hatte, nicht sehr gesprächig war, obschon das bei Brent nie der Fall war, machte Terry einen Abstecher zum Friedhof. Jetzt fragte der leise: »Wissen die anderen Bescheid?«

»Mhm …«, brummte Howart. Mit den anderen waren die Besitzer der drei Hotels und des Campingplatzes gemeint. »Hab angerufen. Sie wurde bei Franklin im Hotel Seeblick erwartet«, informierte der Ladenbesitzer und warf die letzte Kiste auf die Ladefläche. Dann standen sich die zwei schweigend gegenüber, Brent zog eine Rechnung aus der Brusttasche und überreichte sie dem jungen Mann mit den Worten: »McGinley war vorhin hier, hab ihm Bescheid gesagt. Na dann, ich muss zurück in den Laden.« Howart hob fahrig die Hand und ging in den Laden zurück.

Charles McGinley betrieb eine Autowerkstatt, die einzige in Collburn. Als Bowden vorfuhr, empfing er ihn schon und trat zum Fahrerfenster. »Terry …«

»Charles …« Sie reichten sich die Hände.

»Tut mir leid, Junge.« Charles war sechsunddreißig und Vater von zwei Mädchen, Zwillingen. Er schaute den jungen Mann an, wie ein Vater seinen Sohn ansieht, wenn dieser krank ist. Diesmal war es Terry, der ein »Mhm« von sich gab.

»Stell den Wagen nach Einbruch der Dunkelheit in die Ausbuchtung im Wald, ich hol ihn heute Abend ab.« Er klopfte an den Wagen. »Und pass auf dich auf.«

Auf der Rückfahrt sah der junge Mann noch immer McGinleys Gesicht vor sich, seinen mitfühlenden Ausdruck. Er mochte Charles sehr. Wie gerne hätte auch er einen Vater oder eine Mutter gehabt. Seine Eltern starben, da war er vier Jahre alt, und er konnte sich kaum an sie erinnern. Abgesehen vom letzten Abend. Sie kamen in sein Zimmer, waren ganz chic gekleidet, Terry konnte noch heute das Parfum riechen, welches seine Mutter an diesem Abend aufgetragen hatte. Sie wollten in die Oper und ein Teenagermädchen hatte auf ihn aufgepasst. Seinen Eltern entging nicht, wie betrübt er war und sein Vater versprach ihm, tags darauf etwas mit ihm zu unternehmen, was es war, sollte eine Überraschung sein. Terry hat es nie erfahren. Auf dem Heimweg drängte sie ein Auto bei einem Überholmanöver von der Straße, seine Eltern waren auf der Stelle tot.

Bis zu diesem Tag kannte der Junge seine Großmutter nicht, wusste nicht einmal, dass er eine hatte. Olivia Bowden nahm sich dem Knaben nur widerwillig an. Als die Sozialarbeiterin mit ihm durch den Wald fuhr, hatte er ein mulmiges Gefühl im Bauch, doch plötzlich öffneten sich die Tore des Waldes und eine kleine Lichtung kam zum Vorschein. Und auf dieser stand ein Haus in strahlendem Weiß, mit lila Fensterläden. Terry sah das erste Mal das Dream Motel und er war überwältigt, auch von der gedeckten Veranda, die sich über zwei Hauslängen erstreckte, inklusive Hollywoodschaukel und Sitzgruppe. An der Hausfassade hing ein großes Schild und darauf stand »Dream Motel«.

»Du lebst in einem Motel?«, fragte der Junge seine Oma beeindruckt.

»Wohl eher in der Hölle«, erwiderte sie humorlos.

»Aber auf dem Schild steht ›Dream Motel‹?«

Sie tätschelte ihm den Kopf und sagte ungerührt: »Ein Traum kann sich schnell in einen Albtraum verwandeln.«

Am ersten Abend lag Terry weinend im Bett, im Arm das gerahmte Bild seiner Eltern. Seine Oma kam ins Zimmer und versuchte ihm Trost zu spenden, wenn auch sehr unbeholfen.

»Wieso hat Mom nie von dir gesprochen?«, fragte er schniefend.

»Weil es besser war, dass sie gegangen ist.«

»Warum?«

»Warum, warum, dass ihr Kinder dauernd so viel fragen müsst. Werd erst mal trocken hinter den Ohren, das heißt, falls du morgen früh überhaupt noch hier bist.«

»Wieso sollte ich nicht mehr hier sein?«

»Weil …« Die Stirn der alten Frau runzelte sich, dann rang sie sich ein Lächeln ab und meinte: »Du wirst noch hier sein. Schlaf jetzt.«

Am Morgen, als seine Oma das Zimmer betrat, sah sie den Knaben am Fenster stehen und atmete erleichtert auf.

Nachdem Terry die Vorräte in der Kammer verstaut hatte, machte er sich ein Omelett. Behutsam faltete er es in der Pfanne zusammen und legte es dann auf den Teller, setzte sich damit an den gedeckten Küchentisch, breitete die Serviette auf seinem Schoß aus und strich einmal darüber. Eine Weile schaute er lustlos auf den Teller, es bereitete ihm wenig Freude, allein zu essen, vermutlich hatte er deshalb selten Hunger, die Mahlzeiten waren vielmehr ein Ritual, das er zweimal täglich einhielt. Am Morgen begnügte er sich ausschließlich mit Kaffee.

Nach dem Essen wollte er das Zimmer, in dem Miss Ranking genächtigt hatte, saubermachen. Er reinigte die Zimmer stets gründlich, sogar die Fenster putzte er nach jedem Gast. Manche Leute hatten die Angewohnheit, die Nase an die Scheiben zu pressen, wenn sie aus dem Fenster schauten, was kaum sichtbare Fettspuren hinterließ. Nein, der junge Mann hatte keine Zwangsneurose in Sachen Sauberkeit, er war einfach ordentlich und hatte nebenbei alle Zeit der Welt. Keine Verwandten, keine Freunde oder Bekannten, die ihn besuchten – oder die er besuchte – und er hatte noch nie eine Freundin gehabt, war noch immer Jungfrau.

Die Gästezimmer befanden sich im oberen Stock. Es waren fünf an der Zahl – drei Einzelzimmer und zwei Doppelzimmer. Jedes Zimmer hatte seinen eigenen Farbton. Die beiden Doppelzimmer waren das Rote, Nummer 2 und das Blaue, Nummer 3. Von den Einzelzimmern war das Grüne die Nummer 1, das Lila die 4 und das gelbe die 5. Zusätzlich gab es oben noch ein großes Badezimmer mit Wanne und zwei geräumige Wohnzimmer, zu denen ein gemütlicher Kamin gehörte.

Terry lebte jedoch ausschließlich im Erdgeschoss. Hier hatte er sein Schlafzimmer, Wohnraum, Küche, Bad und das Büro. Jedes der Zimmer war sehr geräumig, ebenfalls der Speiseraum, welcher von ihm nicht benutzt wurde, da er stets in der Küche seine Mahlzeiten zu sich nahm. Auch das Schlafzimmer seiner Großmutter war seit ihrem Tod ungenutzt. Das ganze Haus in Schuss zu halten, inklusive Garten, wo er Salate und Gemüse anbaute, war viel Arbeit. Und nicht zu vergessen die Obstbäume, die jedes Jahr so üppig abwarfen, dass er einen Teil der Ernte in der Stadt verkaufen konnte und dennoch genug für sich hatte. Stand ihm der Sinn nach Fleisch, erlegte er dann und wann ein Kaninchen. Zusätzlich verdiente er sich noch etwas Geld mit seinen Holzskulpturen, welche er schnitzte und die Sally Adams in ihrem Souvenirladen verkaufte. Und so wie es den Anschein machte, mochten die Touristen seine Schnitzereien.

Im oberen Stock angekommen stellte der junge Mann die Putzutensilien ab und durchstreifte die zwei Wohnräume und das Bad auf der Suche nach Gegenständen, die Miss Ranking zurückgelassen haben könnte. Er fand noch ein Buch und diverse Toilettenartikel. Vor dem grünen Zimmer blieb er geraume Zeit mit gesenktem Kopf stehen. Nein, er wollte es nicht sehen, dachte er, öffnete trotzdem die Tür und trat ein. Mitten im Raum stehend, spürte er den vertrauten kalten Luftzug und das Kribbeln im Kopf. Er konnte nicht sagen weswegen, aber jedes Mal, wenn es geschah und er die Person aus dem Zimmer gebracht hatte, wollte das Motel ihm zeigen, warum es diesen Menschen zum Tod verurteilt hatte. Terry selbst fand, dass die Vergehen mancher Menschen nicht so abscheulich waren, dass sie den Tod verdient hätten. Nur, das Dream war ein erbarmungsloser Richter, der keine Gnade kannte.

Was der junge Mann jetzt zu sehen bekam, war eine viel jüngere und schlankere Miss Ranking, die in einem Wohnzimmer auf der Couch hockte, auf ihrem Schoß lag ein großer Teller mit Speisen. Ihre Füße ruhten auf dem Clubtisch, und während sie genüsslich den Teller leerte, schaute sie sich etwas im Fernsehen an.

Ein Gewimmer war zu hören, da war ein Kleinkind in einem Laufgitter, es streckte die Ärmchen zu Miss Ranking aus, die, ohne das Kind anzusehen, maulte: »Fang ja nicht an zu flennen.« Aber genau das tat das Kind. »Verflucht, du hast schon wieder in die Windeln gekackt, ich kann die Scheiße bis hierher riechen!« In der Werbepause begab sie sich zum Laufgitter und zerrte das Kleinkind grob heraus. Sie wickelte es und fluchte dabei wie ein Bauarbeiter. »Ich geh in der Nacht beschissene Büros putzen, für einen verdammten Hungerlohn, und weil das Geld nicht reicht, hab ich jetzt noch dieses nervende Gör am Hals, das seine Mutter drei Mal die Woche bei mir ablädt. Und was tust du? Du kackst dir dauernd die Hosen voll und winselst in deinem Laufgitter herum!«

Später weinte das Kind erneut, und nachdem Miss Ranking es ein paar Mal angeschrien hatte und es noch lauter schrie, schüttelte und schlug sie es – jedoch nur auf die Windeln – um es danach in einen Schrank im Bad zu sperren. Dann setzte sie sich wieder vor den Fernseher, nahm den Teller auf den Schoß und nickte zufrieden, da das Weinen des Kleinkindes jetzt nicht mehr zu hören war.

Und da lag sie, Miss Ranking, im Bett von Zimmer eins, schien tief zu schlafen. Der junge Mann vermutete, dass dieser Teil der war, den die Menschen träumen. So träumte die Frau, dass das Kleinkind plötzlich vor ihr steht. Sie sagt im Traum: »Verflucht, wie bist du aus dem Schrank gekommen?«

Das Kind grinst sie teuflisch an und fängt an zu wachsen, wandelt sich zu einem überdimensionalen Kleinkind, das sich gleich einem Schatten über Miss Ranking ausbreitet. Diese starrt wie gelähmt zu dem Kind hoch, welches jetzt die volle Windel in der Hand hält und anfängt sie in den offenen Schlund der Frau zu stopfen.

Innert kürzester Zeit gehen ihre erstickten Schreie in ein Röcheln über, das Terry sagt, dass es bald vorbei sein wird. Und so ist es, mit starren, leeren Augen und ausgebreiteten Armen und Beinen sieht er Miss Ranking auf dem Bett liegen, ein Zipfel der Windel hängt noch aus ihrem Mund. Dann löst sich das Bild – oder eben der Albtraum, den diese Frau durchlebt hatte – auf.

Zugegeben, Miss Ranking war keine nette Person, dennoch hatte sie keineswegs den Tod verdient, dachte der junge Mann traurig und packte sorgfältig ihre Kleider in den Koffer. Diesen würde er in ihren Wagen legen und Charles McGinley, der ihn abholte, gab die Sachen jeweils dem Bestattungsunternehmer, Levi, der, so vermutete Terry, alles in seinem Ofen in Asche umwandelte. Charles hingegen nahm die Wagen auseinander und verwertete die einzelnen Teile wieder. So würde Miss Rankings Wagen durch die Touristen, brachten die ihren zu Charles in die Reparatur und zogen dann weiter, im ganzen Land verstreut.

Als Charles McGinley an diesem Abend nach Hause kam, wurde er von seinen zwei Mädchen mit Jubelrufen empfangen: »Daddy ist da! Daddy ist da!« Er nahm die fünfjährigen Zwillinge an die Hand und ging mit ihnen in die Küche, wo er sie an den Küchentisch setzte, auf dem ihre Malsachen ausgelegt waren.

»Habe ich euch nicht gesagt, ihr sollt die Malsachen wegräumen und den Tisch decken?«, tadelte seine Frau die Mädchen.

»Sei nicht so streng mit ihnen, Lisa.« Charles küsste sie, gleichzeitig glitt seine Hand auf ihren Po.

»Ich hoffe, du hast dir die Hände gewaschen, ich habe keine Lust Wagenschmiere aus meiner Hose zu schrubben.«

»Dad? Liest du uns heute eine Geschichte vor?« Die Mädchen schauten ihn erwartungsvoll an.

»Heute muss ich nochmal in die Werkstatt, aber morgen bringe ich euch ins Bett und lese euch eine Geschichte vor. Geht jetzt den Tisch decken.«

Ohne zu murren nahmen Anna und Susanna ihre Malsachen und gingen ins Wohnzimmer.

»Was ist los?«, fragte seine Frau.

»Ich muss heute Abend bei Terry einen Wagen abholen. Wir werden eine Nachtschicht einlegen, um ihn auseinanderzunehmen.«

Daraufhin knallte Lisa die Holzkelle in das Spülbecken und rief: »Nicht schon wieder!«

»Colly, die Aushilfe, kommt mit, dann sind wir vier Mann und werden bis morgen früh fertig sein.«

»Das meine ich nicht, Charles, und das weißt du!«

»Was willst du von mir hören? Soll ich meine Werkstatt verkaufen?«

»Nein, es würde nichts an der Tatsache ändern. Es ist nur, dieses Motel … und Bowden, ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich ihn sehe.«

»Der Junge kann nichts dafür.«

»Das musst du mir nicht sagen! Trotzdem, lade ihn nie mehr hierher ein. Ich will nicht, dass er mit den Kindern zusammen ist, ich will ihn überhaupt nicht sehen!«

Resigniert schüttelte Charles den Kopf. »Ist es zu viel verlangt, ein bisschen Mitgefühl aufzubringen?«

»Ja, das ist es! Mir ist bewusst, dass du den Jungen magst, und es tut mir leid, dass er da draußen leben muss, aber …«

»Aber was?«, fuhr diesmal Charles seine Frau schroff an. Worauf die sich wieder dem Kochherd zuwandte und monoton sprach: »Tag und Nacht werden sie gequält werden in Ewigkeit. Offenbarung 20,10.«

Nun wurde Charles laut. Er konnte diese Bibelsprüche nicht mehr ertragen. »Wie oft muss ich dir das noch sagen, es ist das Motel, nicht der Junge!«

»Schrei nicht so«, zischte Lisa. »Zudem bin ich nicht die Einzige, die das so sieht und Terry nicht in der Stadt haben will.«

Charles nahm seine Jacke vom Stuhl. »Ich bin es leid, endlos dieselben Diskussionen zu führen.«

»Wo gehst du hin?«

»Den Wagen holen.«

»Und das Essen?«

»Mir ist der Appetit vergangen.«

Gerade verstaute der junge Mann den letzten Koffer in Miss Rankings Fahrzeug, als ihm eine Sache auffiel. Wo war ihre Brieftasche? Er hatte keine gefunden. Müde ging er zurück ins Haus, stieg nochmals die Treppen hoch und betrat das jetzt gereinigte grüne Zimmer. Eine Weile stand er einfach da, sah sich um und überlegte. Sie hatte die Brieftasche bei sich gehabt, als sie das Zimmer im Voraus für eine Nacht bezahlt hatte. Und sie war nicht mehr zum Wagen gegangen, das hätte er gehört. Konnte es sein, dass die Dame befürchtet hatte, er würde sie bestehlen? Er ging zum Bett und hob die Matratze an, und da lag sie. Traurig schüttelte er den Kopf und verließ das Zimmer. Auf halber Höhe der Treppe setzte er sich und untersuchte den Inhalt. Keine Fotos oder sonstige persönliche Dinge, abgesehen von einem Ausweis. Die zweihundert Dollar Bargeld steckte er in seine Jeans. Anschließend ging er zu Miss Rankings Wagen zurück, stieg ein, legte die Brieftasche in das Handschuhfach, startete den Motor und fuhr bis zur Ausbuchtung im Wald, die eine Meile von der Hauptstraße entfernt lag. Dort würde Charles McGinley den Wagen später abholen.

Auf dem Fußmarsch zurück versuchte er die Bilder, welche ihm das Motel gezeigt hatte, hinter sich zu lassen. Im Haus angekommen machte er sich einen Tee, holte die alte Keksdose seiner Großmutter vom obersten Regal und steckte die zweihundert Dollar zu dem anderen Geld, das er darin aufbewahrte. So hatte es seine Oma schon gehandhabt.

Als Terry noch klein war, fragte er seine Oma einmal was sie in dieser Keksdose aufbewahre, er hatte des Öfteren beobachtet, wie sie etwas hineintat oder herausnahm. Sie antwortete: »Das ist der Notgroschen.«

Damit konnte der Knabe nun wirklich nichts anfangen und fragte weiter.

»Weißt du, manche Gäste lassen ihr Geld liegen, und dieses Geld bewahre ich dort für schlechte Tage auf.«

»Und warum lassen sie ihr Geld liegen?«, bohrte er nach.

»Kinder … euch gehen die Fragen wohl nie aus.« Geduld gehörte nicht zu Olivias Stärken. »Sie lassen es liegen, weil … na weil, das werde ich dir erzählen, wenn du älter bist, okay? Und jetzt hör auf mich weiter zu löchern!«

Terry liebte seine Oma und sie liebte ihn, wenn auch auf eine leicht verschrobene Art. Die Wahrheit war, sie konnte nicht viel mit Kindern anfangen und als sie von einem Gast ungewollt mit Terrys Mutter, Silvia, schwanger wurde, trug sie das Kind aus und zog es groß, doch dieses Muttergehabe war nie ihr Ding gewesen. Mutter und Tochter gerieten andauernd aneinander, was vorwiegend mit dem Motel zu tun hatte. Silvia fürchtete sich als Kind vor dem Haus, und später, als sie dessen Macht erkannt und miterlebt hatte, hasste sie es regelrecht. Kaum alt genug, zog sie aus und heiratete Vincent, Terrys Vater. Der Kontakt zu ihrer Mutter blieb bis zu ihrem Tod sehr lose. Da keine weiteren Verwandten vorhanden waren, blieb es an Olivia hängen, sich ihres Enkels anzunehmen.

Olivia Bowden war allzeit sehr wortkarg und in Sachen Kuscheln oder Schmusen war sie absolut die falsche Besetzung, dasselbe galt, wenn es darum ging, ihrem Enkel am Abend eine Geschichte vorzulesen. Anfangs vermisste der Junge die Nähe und die Gutenachtgeschichten, mit der Zeit fiel es ihm aber immer leichter, seine Oma mit all ihren Verfehlungen zu lieben. Das hatte zur Folge, dass auch er zu einem Eigenbrötler heranwuchs und sich unter Menschen unbehaglich fühlte, Mühe hatte ein Gespräch zu führen oder gar den Leuten in die Augen zu sehen.

Doch auch das war kein relevantes Problem, erkannte er bald. Begegneten die Einwohner von Collburn dem jungen Mann, waren wenig erpicht darauf, sich mit ihm in ein Gespräch einzulassen. Umso mehr überraschte es ihn, dass ein paar Leute nach dem Tod seiner Oma ihm ihr Beileid bekundeten. Charles McGinley war einer davon, er war sehr zuvorkommend und meinte, wenn er Hilfe benötige, könne er ihn jederzeit anrufen. Vor vier Monaten hatte er ihn sogar zu sich eingeladen. Es war nicht das erste Mal, doch diesmal hatte Terry zugesagt, was sich aber als Fehler herausstellte. Charles’ Frau war alles andere als begeistert. Er konnte spüren, wie sie ihn mit Adleraugen beobachtete, sprach er mit den Kindern, welche sich über seinen Besuch sehr gefreut hatten.

Nachdem Terry seinen Tee ausgetrunken hatte, blickte er ein letztes Mal auf die Keksdose. Sie war gefüllt mit Scheinen, die er nur in Notfällen anrührte, so wie im letzten Jahr, als ein Teil des Daches renoviert werden musste. Seine Oma sagte ihm später – nachdem er erfahren hatte, weshalb die Leute ihr Geld liegenließen – dass es nur recht und billig sei, wenn sie das Geld der armen Seelen behielten, konnten die im Jenseits ja nichts mehr damit anfangen. Und ganz nebenbei blieb es schließlich an ihnen hängen, die ganze Schweinerei zu beseitigen. Mit Schweinerei waren nicht die Toten gemeint, die sie begraben musste, nun ja, das auch, aber seine Oma meinte explizit die Hinterlassenschaft, wenn sich der Körper nach dem Tod entleerte.

Und da Olivia diesen Teil der Arbeit besonders hasste, übertrug sie ihn ihrem Enkel als dieser alt genug war. Nur, wie alt ist alt genug?

Das Klingeln des Telefons ließ den jungen Mann hochschrecken. Er ging zum Wandtelefon in der Küche, nahm den Hörer ab und gab ein schüchternes »Ja …?« von sich.

»Hallo, Terry, hier ist Pater Hamton. Wie geht es dir, mein Sohn?«

»Gut, danke.«

»Sehr schön. Ich habe von dem Zwischenfall gehört, es tut mir sehr leid.« Ein Seufzer, dann: »Welch schwere Prüfung Gott dir in deinem Leben auferlegt hat.« Diese Worte waren bei jedem Gespräch die Einleitung zu dem Standardrepertoire, das jetzt folgte. Der junge Mann hörte dem Priester höflich zu und nickte sporadisch, was der Gottesmann am anderen Ende der Leitung natürlich nicht sehen konnte. »Bist du noch dran, mein Sohn?«

»Ja, Pater.«

»Ich möchte dich einladen, morgen vorbeizukommen, dann kann ich dir die Beichte abnehmen und wenn dich etwas bedrückt, kannst du offen mit mir sprechen. Du weißt, alles was du mir anvertraust, bleibt unter uns – und Gott. Es ist wichtig, dass du deine Seele reinigst.«

»Ja, Pater«, wiederholte er.

»Gut, dann sehe ich dich morgen früh um neun?«

Terry sagte zu, wenngleich er nicht so recht wusste, warum er der Aufforderung des Priesters, der von seinem Vorgänger, Pater Holbrock, eingeweiht worden war, jedes Mal folgte. Doch wenn dieser meinte, er müsse seine Seele reinigen, würde es sicher seine Richtigkeit haben. Nicht, dass sich Terry nach dem obligaten Besuch, wenn es geschehen war, gereinigt fühlte. Zuweilen glaubte er vielmehr, dass es einzig dem Priester danach besser ging.

 

2

 

Um viertel vor neun am nächsten Morgen fuhr der junge Mann die Hauptstraße von Collburn entlang. An der Ampel vor Bettys Diner blieb er stehen und blickte kurz durch das Fenster. Das Lokal war gut besucht. Jackie Hunter, die zwanzigjährige Kellnerin, schaute kurz auf die Straße, und als sich ihre Blicke trafen, stieg Terry augenblicklich die Röte ins Gesicht. Die Ampel schaltete auf grün und er fuhr weiter.

Jackie ihrerseits ging zur Durchreiche der Küche und gab dem Koch die Bestellung durch. Dann fragte sie Milla, ihre Kollegin, die hinter der Kaffeebar stand: »Weißt du, wer vorhin in seinem alten Truck an der Ampel gestanden hat?«

»Na, wenn du so fragst, kann es bloß Bowden gewesen sein. Es geht das Gerücht um, dass Charles mit seinen Leuten eine Nachtschicht einlegen musste.«

»Demnach ist der Freak auf dem Weg zum Priester.« Und mit einem Grinsen fügte sie gedehnt hinzu: »Um die Beichte abzulegen.«

»Meinst du der macht das freiwillig?«

»Nö, was ich gehört hab fordert ihn der Priester jedes Mal dazu auf.«

Betty, die Inhaberin des Diners, kam aus der Küche, das weiße Haar wie gewohnt streng hochgesteckt. Nun schaute sie Jackie tadelnd an.

»Junge Dame, im Gegensatz zu Terry würde dir eine Beichte guttun!«

»Wüsste nicht, was ich zu beichten hätte, im Gegensatz zu dem.«

Ihre Chefin hob den Finger. »Hör endlich damit auf, über den Jungen herzuziehen. Er hat es weiß Gott schon schwer genug!«

Das Mädchen machte mit ihrem Kaugummi eine Blase, ließ sie platzen und meinte dann gleichmütig: »Kann ich ja nichts dafür, wenn es mir kalt den Rücken runter läuft, wenn ich den Totengräber sehe.«

Blitzschnell fuhr Bettys Hand nach vorne und griff nach Jackies Handgelenk. »Ich will auch nicht, dass du ihn Totengräber nennst!« Sie ließ das Handgelenk des Mädchens los. »Und nimm endlich diesen Kaugummi aus dem Mund!« Mit einem letzten strafenden Blick verschwand die alte Dame in der Küche und Jackie verdrehte die Augen, worauf ihre Kollegin sagte: »Ich kann sie verstehen, Betty war vermutlich die einzige Freundin, die Terrys Großmutter hatte. Das sagt zumindest meine Mom.«

»Freundin? Wenn man das so nennen will. Ich glaub der alte Drachen hatte gar keine Freunde. Die hat ihren Enkel ja nicht mal in die Schule geschickt, wahrscheinlich kann der Totengräber nicht mal lesen.«

»Kann er, sagt meine Mom, seine Großmutter hat ihn selbst unterrichtet.«

Einmal mehr rollte Jackie mit den Augen. »O Gott, Milla, was deine Mutter auch alles weiß. Ist das überhaupt erlaubt, ein Kind zu Hause zu unterrichten?«

Von hinten flog eine Walnuss aus der Küche und traf Jackie am Kopf. Betty streckte ihren Kopf aus der Durchreiche und schnauzte: »Unter gewissen Umständen ist es erlaubt, und jetzt hör auf zu tratschen und bring die Pfannkuchen zu Tisch neun, bevor sie kalt sind und ich damit nach dir werfe!«

Nachdem das Mädchen mit den Pfannkuchen davon gestöckelt war, wandte sich Betty dem Koch zu, Hall, mit dem sie seit über zwanzig Jahren verheiratet war. »Diese jungen Dinger bringen mich noch mal ins Grab.« Worauf der lächelnd erwiderte: »So leicht ist mein altes Mädchen nicht kleinzukriegen.«

»Zugegeben steigert sie den Umsatz mit ihren weiblichen, jungen Reizen, ansonsten hätte ich sie längst vor die Tür gesetzt. Ihr Mundwerk ist einfach nur gehässig.«

»Du reagierst vor allem so empfindlich auf ihr Geschwätz, wenn es um Terry geht.« Er breitete seine Arme aus. »Komm her und lass dich kurz drücken.« Er nahm seine Frau zärtlich in die Arme und küsste sie. »Geh einen Moment an die frische Luft, und vergiss das junge Ding, auch sie wird noch ihre Erfahrungen machen, die sie reifen lassen.«

»Deine Worte in Gottes Ohr.« Sie zwinkerte ihm zu und ging hinten hinaus in den Hof. Dort setzte sie sich auf die Holzbank und blinzelte in die Sonne, dachte an Terrys Großmutter, Olivia, die nun seit fünf Jahre tot war. Betty vermisste ihre Freundin an so manchen Tagen. Und sie erinnerte sich als wäre es gestern gewesen an den Tag, an dem die kleine Olivia eines Morgens mit der Lehrerin ins Schulzimmer der ersten Klasse gekommen war. Das Schuljahr hatte bereits begonnen, umso schwerer für Olivia, die überaus introvertiert war. Schon damals tuschelten die Kinder über dieses Mädchen, das allein mit seinem Vater – ihre Mutter starb im Kindsbett – draußen im Dream Motel lebte. Niemand wollte mit der kleinen Bowden zu tun haben, manche Eltern untersagten ihren Kindern sogar, überhaupt mit ihr zu sprechen. Nicht so Bettys Eltern, sie hatten, wie ihre Tochter, Mitleid mit dem Mädchen und ermunterten Betty, sie mal zu sich nach Hause einzuladen. Jedoch erlaubten sie ihrer Tochter niemals, bei Olivia zu übernachten, denn auch sie fürchteten sich vor dem Motel.

Und so wurden die beiden Mädchen beste Freundinnen. Dann, in der dritten Klasse, blieb Olivia plötzlich dem Unterricht fern. Ihr Vater war der Ansicht, dass es vollkommen ausreiche, wenn seine Tochter einigermaßen lesen, schreiben und rechnen könne, mehr brauche sie nicht für ihr zukünftiges Leben im Motel. Von diesem Tag an trafen sich die Mädchen nicht mehr so oft. Olivia musste zu Hause mithelfen, eigentlich musste sie fast alle Arbeiten übernehmen, da ihr Vater allmählich zum Trinker wurde. Insofern wurde die kleine Olivia Bowden viel zu schnell erwachsen und das kindliche Lachen, das einzig Betty zu Gesicht bekam, gehörte bald der Vergangenheit an.

Die alte Dame rieb sich fröstelnd die Arme, dachte an den Tag, als ihre Freundin sie anrief und ihr mitteilte, dass ihr Vater tot sei. Dieser Tag hatte sich für immer in Bettys Gedächtnis eingebrannt.

Pater Hamton empfing den jungen Mann mit seinem obligaten mitleidigen Blick und den Worten: »Mein Sohn, komm, setzten wir uns.« Sie ließen sich in der ersten Reihe vor dem Altar nieder, über dem Jesus an einem gewaltigen Kreuz hing. Terry schielte zu der Statue hoch und dachte nicht zum ersten Mal, dass er sich in seinem Leben so fühlte, wie Jesus aussah – ans Kreuz genagelt. Abermals fragte der Priester nach seinem Befinden und erneut antwortete er, dass es ihm gut ginge.

»Hast du denn auch ein Gebet am Grab dieser armen Sünderin gesprochen?«

»Ja, Pater.«

»Möchtest du mir sagen, welcher Sünde sie erlegen ist?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf und der Priester konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen. Bei jedem Besuch, wenn Pater Hamton ihn in die Kirche zitierte, wollte er ihn aushorchen, Terry indessen vertrat die Meinung, dass seine Seele kaum reiner werden würde, wenn er dem Priester die Vergehen der Opfer anvertraute. Und so verliefen diese Gespräche nahezu einseitig.

»Und du, mein Sohn, hast du etwas zu beichten?«

»Nein, Pater.«

»Wirklich nicht?«

Zweifellos fühlte sich Terry schuldig, wenn er das Geld an sich nahm, das in den Brieftaschen war. Als es das erste Mal nach dem Tod seiner Großmutter geschah, brachte der junge Mann das Geld mit zur Beichte und wollte es Pater Hamton für die Kirche geben, worauf der Priester abwehrend die Hände hob, so, als wolle Terry ihm die Pest persönlich überreichen. Vielleicht glaubte er, es sei so verflucht wie das Motel.

»Sie wissen, Pater, dass es lediglich eine Sache gibt, deren ich mich schuldig fühle.«

»Ja, mein Sohn. Doch deine Großmutter hat es schon so gehandhabt. Betrachte dieses Geld als Entschädigung, Gott wird dich deswegen nicht verdammen.«

»Weswegen dann?«, fragte der junge Mann arglos.

»Ich … nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich sollte«, hastig blickte der Priester auf seine Uhr, »ich sollte jetzt die Messe vorbereiten. Geh mit Gott, mein Sohn.« Er stand auf, bekreuzigte sich vor dem Altar und ging.

Terry hingegen blieb noch einen Moment sitzen, fragte sich, wozu er überhaupt hierherkommen musste, da Pater Hamton sich offenkundig, wie die meisten Bewohner der Kleinstadt, unwohl in seiner Gegenwart zu fühlen schien.

Nichtsdestoweniger waren die Bewohner von Collburn fortwährend bemüht, ihm zu helfen. Als Teile des Daches repariert werden mussten, schickte Marvin Burke, dem die Schreinerei gehörte, unverzüglich seinen Lehrling Peter zu ihm hinaus. Und dieser brachte ihm einen Korb mit Gebäck von der alten Mary mit, welche die Bäckerei betrieb.

Man war nett zu dem jungen Mann, beschenkte ihn mit Kleinigkeiten und machte sehr gute Preise für ihn, ließ ihn auch anschreiben oder vergaß ganz, eine Rechnung auszustellen. Alle waren sehr entgegenkommend, solange man nichts mit dem Dream Motel oder seinem Besitzer persönlich zu tun hatte. Peter, der ihm das Dach reparierte, sprach wenig, und auf Terrys Einladung, den Lunch bei ihm in der Küche einzunehmen, lehnte er dankend ab. Musste er sich erleichtern, ging er in den Wald.

Fielen Reparaturen im Haus an, die Terry nicht allein bewerkstelligen konnte, kamen die Leute stets im Doppelpack, erledigten die Arbeit in Windeseile, lehnten dankend den Kaffee ab, den Terry ihnen nach getaner Arbeit anbot und eilten anschließend fluchtartig von der Waldlichtung. Als seine Waschmaschine kaputt war, versuchte er mit den beiden Männern, die sie austauschten, ins Gespräch zu kommen, erklärte ihnen, dass sie nichts zu befürchten hätten, weil das Motel die Menschen ausschließlich nachts heimsuche. Der ältere der beiden glotzte ihn erst verständnislos an und meinte dann mürrisch: »Das ist mir schnuppe, Fluch bleibt Fluch, und dieses Haus ist verflucht!«

Von da an gab es der junge Mann auf, den Menschen begreiflich machen zu wollen, dass ihre Furcht unbegründet war, nächtigten sie nicht im Haus. Die undurchsichtige Geschichte des Dream Motels wurde von Generation zu Generation weitergegeben, und was genau da weitergegeben wurde, entzog sich seiner Kenntnis.

Was Terry jedoch sagen konnte, und das war unübersehbar: Die Menschen hatten panische Angst vor dem alten Motel. Und noch mehr fürchteten sie sich davor, was geschehen könnte, sollte sich Terry entschließen fortzugehen und das Dream sich selbst zu überlassen. Insofern war man darum bemüht, ihm jegliche Hilfe prompt zu gewähren. Nur, was geschah, wenn der junge Mann eines Tages starb? Terry Bowden hatte keine Nachkommen.

In dieser Nacht lag Betty Graham lange neben ihrem Mann wach im Bett. Bilder vergangener Zeiten holten sie ein, Erinnerungen an den Tag, an dem sie zusammen Walter Bowden auf der Waldlichtung vergraben hatten. Es war das Jahr, in dem Betty und Olivia siebzehn wurden.

Vollkommen aufgelöst rief Olivia in den Sommerferien an einem Morgen an und sagte nur einen Satz: »Betty, komm schnell, mein Dad ist tot.«

Umgehend stieg diese auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg zum Dream Motel, wo ihre Freundin auf der Veranda auf sie wartete. Zuerst schlossen sich die Freundinnen in die Arme, dann fing Olivia an zu erzählen.

Ihr Vater war am Abend zuvor wieder volltrunken gewesen. Sie hatte gerade geduscht, schob den Duschvorhang beiseite und da stand er, starrte sie mit glasigen Augen an. Das Mädchen verstummte und Bettys Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie leise fragte: »Wollte er …« Sie ließ den Satz unvollendet. Tränen rannen über Olivias Wangen, während sie traurig den Kopf neigte. »Er sagte, dass meine Mutter gestorben sei, weil sie mir das Leben schenkte, und dass er seit ihrem Tod keine Frau mehr besteigen konnte. Er sei dazu verdammt in diesem Haus mit mir zu leben und keine Frau in der Stadt würde ihn auch nur eines Blickes würdigen, wegen diesem verfluchten Motel. Oh Betty, er war so wütend und betrunken. Er packte mich, ich stieß ihn von mir, rannte in mein Zimmer und schloss mich ein. Nachdem er eine Viertelstunde an meine Tür gepoltert hatte, gab er auf. Ich traute mich aber erst heute Morgen aus meinem Zimmer und da fand ich ihn …«

Ihre Freundin presste schluchzend die Hände auf ihr Gesicht. Betty strich ihr zärtlich über das Haar, sagte kein Wort, bis sie weitersprach: »Er liegt da oben in seinem Bett und … und sein Penis …, der liegt daneben auf dem Boden.« Olivia sah auf und schaute in Bettys erstarrtes Gesicht.

Geraume Zeit saßen sie schweigend da. Dann stellte Betty leise die Frage, die ihr auf der Zunge lag: »Du meinst, er hat ihn sich selbst abgeschnitten?«

Olivia schüttelte den Kopf. »Das glaub ich nicht. Wieso sollte er das tun?«

»Dann denkst du, es war das Motel?«

»Wer sonst? Es bestraft doch jeden, der Unrecht getan hat.«

»Aber, kann man denn an einem abgeschnittenen Penis sterben?«, fragte Betty erst zaghaft, hielt sich dann die Hand vor den Mund, um ihr Schmunzeln zu verbergen, war die Sache doch viel zu ernst. Ihre Freundin empfand offensichtlich ebenso und plötzlich kicherten die beiden los. »Was weiß ich«, lachte Olivia, »ich hab keinen Penis.«

Betty wurde wieder ernst. »Aber du wirst es wissen, wenn dein Vater nicht mehr im Zimmer ist und du es sauber machst.«

Nun schaute Olivia sie traurig an. »Ich bezweifle, dass ich das kann. Wir sollten Pater Holbrock anrufen.«

»Dein Vater ist im Motel gestorben, dieser alte, sture Priester wird nie und nimmer kommen. Und er wird sich weigern, ihn auf dem Friedhof beizusetzen. Kein Mensch wird kommen, um ihn abzuholen.« Betty tat es unendlich leid, und sie schämte sich, dass sie ihrer Freundin das sagen musste, doch alle, die im Dream Motel starben, waren für Pater Holbrock Sünder und der alte Priester, so wie die Einwohner, wollten nicht, dass man die Leichen in die Stadt brachte, sie wollten gar nichts mit diesen Toten zu tun haben, aus purer Furcht, dass der Fluch dieses Hauses letztendlich noch auf ihre saubere Stadt übergreifen könnte.

Und so taten die beiden Freundinnen, was zu tun war. Sie trugen Olivias Vater aus dem Haus und luden ihn auf den Leiterkarren. Mit zwei Schaufeln bepackt zogen sie den Karren in den Wald und zur Lichtung. Plötzlich fragte Betty: »Hast du sein Ding mitgenommen?«

»Ja, es steckt in seiner Hemdtasche«, gab ihre Freundin trocken zurück.

Es war schon später Nachmittag, als sie mit dem leeren Karren zurückkehrten. Betty wusste, dass Olivia sich davor fürchtete, das Zimmer ihres Vaters zu betreten, weil das Haus auch ihr zeigen würde, warum über diesen Mann gerichtet worden war. Die beiden Freundinnen sahen sich lange in die Augen, dann nickten sie, fassten sich an den Händen und schritten entschlossen ins Schlafzimmer von Olivias Vater. Sogleich spürten die Mädchen einen kalten Luftzug und ein Kribbeln im Kopf.

Was sie dann zu sehen bekamen, sollte keines der Mädchen jemals vergessen. Walter Bowden starrte schwitzend auf ein Foto seiner noch jüngeren Tochter und legte selbst Hand an. Sein Atem ging keuchend und Speichel tropfte aus seinem Mund. Offenbar hatte sich Olivias Vater seit Jahren mit Hilfe von Fotos seiner Tochter befriedigt. Als das Mädchen älter wurde, schlich er sich regelmäßig in der Nacht in ihr Zimmer, zog die Decke von ihrem schlafenden Körper und befriedigte sich vor dem Bett. In der Nacht als er starb, tat er es auf seinem Bett sitzend, kaum gekommen sank er zurück und döste vor sich hin. Dann, plötzlich, setzte er sich auf und schien jemandem zuzuhören. Er neigte den Kopf zur Seite und griff entschlossen nach dem Messer, das er jederzeit unter seinem Kopfkissen liegen hatte. Man konnte sehen, dass er irritiert war, als wüsste er nicht, was er tat, als er mit einem stummen Schrei seinen Penis abtrennte. Anschließend warf er ihn auf den Boden, um nach dem Kissen zu greifen, und dieses presste er sich auf das Gesicht, während sein Körper sich unentwegt im Kampf windete. Betty und Olivia konnten sehen, wie sich seine Fingerknöchel weiß färbten, so fest presste er das Kissen auf sein Gesicht. Der Todeskampf dauerte für die beiden Mädchen unendlich lange, bis Walter Bowdens Körper endlich in sich zusammenfiel und reglos liegenblieb.

Sich weiterhin an den Händen haltend, starrten die Freundinnen mit offenen Mündern auf das jetzt leere Bett, um dann gleichzeitig geräuschvoll zu schlucken.

»Du solltest jetzt nach Hause gehen, deine Eltern werden sich Sorgen machen.« Olivias Stimme klang leise und heiser.

»Soll ich dir noch beim Saubermachen helfen?«

»Nein, das schaffe ich. Danke, dass du mit mir …«

»Du bist meine Freundin und ich werde immer für dich da sein.«

An diesem Tag sprachen sie nicht über das, was ihnen das Motel offenbart hatte. Es dauerte einige Zeit, bis die Mädchen den Mut aufbrachten, einander ihre Gedanken und Gefühle mitzuteilen, der Schock saß beiden tief in den Knochen.

Betty schmiegte sich an ihren Mann, versuchte einmal mehr die Bilder, die ihr das Motel gezeigt hatte, zu verdrängen.

 

Seit Miss Rankings nächtlicher Beisetzung waren fast drei Monate vergangen. Die Blätter der Bäume verloren allmählich ihr kräftiges Grün, und in ein, zwei Wochen würden sie anfangen sich zu färben.

Die Dämmerung setzte ein, als der junge Mann auf einer Leiter stand und das letzte Obst erntete. Die Bäume waren auch in diesem Jahr üppig bestückt und er würde einiges von den Früchten in der Stadt verkaufen können. Kaum den Gedanken zu Ende gedacht, hörte er ein sich schnell näherndes Motorengeräusch. Sogleich breitete sich Kummer in Terry aus, er stieg die Leiter herunter und öffnete den Ledergurt, an dem der Flechtkorb befestigt war. Den Korb im Arm schritt er Richtung Haus, wo soeben ein Kleinwagen vorfuhr. Nachdem der Motor verstummt war, wurde die Tür aufgestoßen.

»Verfluchte Scheiße, wo bin ich denn hier gelandet?« Eine junge Frau war ausgestiegen, blickte sich suchend um, bemerkte dann das Schild am Haus und kommentierte das gelesene: »Dream Motel? Na toll, wohl eher ein Albtraum!«

Der junge Mann trat hinter der Scheune hervor. »Ma’am, kann ich Ihnen helfen?«

Ein Aufschrei. Die Frau fuhr herum. »Herrgott, müssen Sie mich so erschrecken?«

»Es tut mir leid.«

»Was glauben Sie erst, wie es meinem Arbeitskollegen leidtun wird, der mir diese bescheuerte Wegbeschreibung gegeben hat!« Sie wedelte mit einem Fetzen Papier herum. »Ich muss mich morgen früh in Bronstown vorstellen und dachte, ich fahre heute los, komme am Abend dort an, besichtige ein wenig die Stadt und am nächsten Tag schnappe ich mir frisch ausgeruht den Job. Aber nein, wo lande ich stattdessen? In einem verfluchten Wald, der ins Nirgendwo führt! Womit habe ich das verdient?« Sie schaute ihn fragend an. Eine blonde Locke hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und umspielte ihre Wange. Terry, der bislang geschwiegen hatte, griff in den Korb, nahm einen Apfel heraus und streckte ihn der Frau entgegen. »Wollen Sie einen Apfel?«

Sie glotzte ihn ungläubig an. Ihr Mund öffnete sich und klappte wieder zu. Dann verwarf sie die Hände, stemmte sie anschließend in die Hüften und rief mit hoher Stimme: »Wo verflucht nochmal bin ich hier?«

»Außerhalb von Collburn, das liegt in der Mitte der vier Großstädte, eine davon ist Bronstown, wo Sie hinwollen.«

»Und wie weit ist es noch bis Bronstown?«

 


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