von: Martin Kunz
11. Februar 2017
© Urs Heinz Aerni
Die Melancholie ist weiblich, sie hat Flügel. So bei Lucas Cranach dem Älteren. Sie drückt nicht nieder, sie beflügelt. Bei Edvard Munch dagegen ist sie ein Bild der Trübnis. Sie scheint offenbar beides zu sein: Chance des Überfliegens und Überdenkens und immense Versunkenheit. Aber etwas ist sie nicht: Depression. Es war ein Fehler Freuds, Melancholie und Depression zu vermengen. Melancholie kann das Ausbrennen und den Absturz in die Schwärze, in die totale Abwesenheit gerade verhindern. In der reflexiven Melancholie keimt ein anderes Wissen, die Sehnsucht; in der skeptischen Introversion schlummert die Möglichkeit eines Überschreitens ins Ungeahnte.
Aber wir wollen dieses bewegte Innehalten nicht. Wir wollen kein reculer pour mieux sauter. Regression ist immer falsch. Sitzen und sinnen ist lächerlich. Schon das Kind muss lernen, gruppentauglich mitzuklatschen. Und dennoch fragt es immer wieder, als kämen die Fragen ganz woanders her. Wer hat die Bäume gemacht? Warum wird es immer wieder Nacht? Warum gibt es mich? Wie sollen die Erwachsenen darauf reagieren? Wissenschaftlich? Melancholie ist der Raum, der sich auftut, nachdem die Fragen wissenschaftlich beantwortet sind.
Das Nachhallen eines ewigen Traums breitet sich in meinem Körper aus, hier am einsamen Strand. Ein Schlingern und Dümpeln, ein dumpfes Wallen. Es regt sich etwas zwischen Auftrieb und vollkommener Ruhe. Ich werde in zuerst diffuse, dann allmählich deutlichere Erwägungen hineingezogen. Keine Gewissheiten mehr. Provisorische Gottlosigkeit. Kontemplation? Melancholie ist Betrachtung, aber nicht Meditation: Sie will nicht frei von Gedanken sein, es gären zu viele verlockende Metaphern in ihr.
Melancholie ist etwas Drittes.
Warum aber fürchten wir sie? Weil wir vorwärtsstürmen. Weil das Wozu im Fortschreiten und Vernetzen liegt. Weil wir das Immer-Mehr anbeten. Weil wir die Gestaltung unseres Lebens bewältigungstechnisch missverstehen. Wir vermeiden die Attacken und die Wollust der Wehmutswonne. Stets müssen wir etwas, wollen sogar freiwillig, was wir müssen. Sind stolz auf die vollen Agenden. Wir schützen uns vor Dünnhäutigkeit. Wollen nicht porös sein für das Hineinwehen eines verstörenden Windhauchs, der, wer weiss, vielleicht Entstörung ermöglichen könnte.
Mitten in der Melancholie ist etwas Widerständiges am Werk. Kein grosser Gedanke, kein Weiterüben an der Ästhetik der Existenz, keine Öffnung zum Du und zum Ganzen hin ohne bittersüsse Momente. Plötzlich stockt das Leben, wird zum mysteriösen Puppentraum, unsere weltanschaulichen Gebäude erscheinen als metaphysische Kulissen. Aber: Noch in diesem Stau wirkt ein untergründiger Sog und Zug darüber hinaus … Die Bilder de Chiricos fallen mir ein.
Wer Melancholie zulässt, findet sich mit dem unverbundenen Nebeneinander, mit der Dualität, nicht ab. Er träumt davon, dass der Lauf der Welt ein Fest ist, ein erotisches Gebet und ein Kunstwerk. Und er weiss, dass wir nicht dahin kommen werden. In der Melancholie verschränken sich Rückbesinnung und Vorausschau, Stille, sinnlicher Impuls und Vision. In ihr verdichtet sich, dass Grandiosität und Trauer zusammengehören.
Die Melancholie weiss um das Unverfügbare. Es geht um etwas, das grösser und kleiner, erhabener und nichtiger ist, als was Menschen einzufangen versuchen. Es ist Mauerblüte, blaue Musik, Nebelschwade und Nymphenreiz. Es ist das gekräuselte Meer, an dem ich zur Zeit sitze. Es ist das Es im Satz Es nieselt.
Martin Kunz
Martin Kunz ist Philosoph und betreibt in Zürich ein Atelier für Philosophie und Kunst.