von: Heiko Schwarzburger
12. Februar 2014
Sowjetische Speznaz-Truppen verhören einen afghanischen Gefangenen. © E. Kuvakin
Am 12. Februar 1989 ging eine Nachricht um die Welt: Kreml-Chef Michail Gorbatschow ordnete den Rückzug der Sowjetarmee aus Afghanistan an. Ein Jahrzehnt lang hatten die Russen versucht, die Mudschaheddin zu besiegen. Doch mit militärischer Hilfe aus den USA und aufgrund der unzulänglichen Bergregionen behielten die Taliban die Oberhand. Ihre Erfahrungen in asymmetrischer Kriegsführung setzten sie später gegen den Westen ein.
Nach dem Abzug der Russen kamen die Amerikaner und die Deutschen. Denn dem Weißen Haus war die fanatisierte Guerrilla um Osama Bin Laden ein Dorn im Auge. Die muslimischen Fundamentalisten wiegelten Glaubensbrüder im ganzen Osten auf, bedrohten die Ölbasis des Westens. Und sie wiegelten die christlichen Fundamentalisten in Washington und Berlin auf, die endlich wieder einen Kreuzzug entfachen konnten. Willkommen im Mittelalter, willkommen im Zeitalter von Öl und Stahl.
Gorbatschows Entscheidung war das erste Signal, dass der Kalte Krieg zu Ende geht. Die Menschen im Ostblock schöpften die Hoffnung, dass sich Gorbatschow künftig aus innenpolitischen Krisen heraushalten könnte. Beispiel Polen, Beispiel Ungarn, zum Beispiel in Ostberlin.
Der Schriftsteller H.S. Eglund war damals als Student in Dresden, wo im Sommer und im Herbst 1989 die Wende ins Rollen kam. Aufmerksam verfolgte er die Ereignisse. 2009 schrieb er den Roman „Die Glöckner von Utopia“, in dem er auch Gorbatschows Befehl aufgreift.
Dormhagen trank sein Glas aus. Er bestellte ein neues, auch Fred orderte ein Bier. Im Radio hinterm Tresen dudelte Musik, ein Zeitzeichen piepste. Ein verworrener Wortschwall folgte, waberte über den Tresen, mischte sich mit dem Gurgeln der Zapfanlage und den Geräuschen aus der Küche. … hervorragende Leistungen der Werktätigen zum bevorstehenden vierzigsten Jahrestag unserer Republik … bekräftigte … Tagung des Zentralkomitees … Ablehnung. Die Stimme wechselte, jetzt sprach der Parteichef: Unser Land wird an dem eingeschlagenen Weg einer erfolgreichen Politik zum Wohle des werktätigen Volkes unbeirrbar festhalten. Seine Worte gingen im Geklirr der Gläser unter, die sich auf dem Tresen stapelten. Mürrisch hievte sie die Kellnerin ins Spülbecken. Dormhagen sagte zu Fred:
„Das geht nicht ewig so weiter. Die da oben in Berlin können nicht mehr lange ignorieren, dass sich die Welt dreht.“
„Sie verfügen über die Polizei, die Armee und den Geheimdienst. Sie haben Leute wie Lauterbach. Sieht aus, als säßen sie ziemlich fest im Sattel.“
„Vergessen Sie nicht, dass sowohl das Politbüro als auch das Zentralkomitee von Greisen beherrscht werden. Es ist eine ähnliche Situation wie vorm Tode Breschnews. Zwar vermochten die Stalinisten zwei Nachfolger auf den Thron zu heben, aber es war das letzte Aufflackern einer verlöschenden Kerze. Es gab keine Alternative zu den Reformen, Gorbatschow war der Mann der Stunde. Auch bei uns könnte es plötzlich sehr schnell gehen.“
„Solange die Russen ihre schützende Hand über die Clique in Berlin halten, wird nichts passieren. Niemand riskiert einen Aufstand, der ausgeht wie sechsundfünfzig in Budapest oder achtundsechzig in Prag.“
„Oder neunundsiebzig in Kabul“, ergänzte der Dozent. „Nehmen Sie spaßeshalber an, Gorbatschow ließe die sowjetische Besatzungszone fallen. Sagen wir, weil der Westen mit Milliarden winkt. Gorbatschow ist kein Idiot.“
„Als im Dezember im Kaukasus die Erde bebte, hat er humanitäre Hilfe aus dem Westen angenommen. Das könnte Ihre Theorie stützen.“
„Quatsch, von wegen stützen. Sie müssen nur zwei und zwei addieren. Bush und Gorbatschow würfeln eine neue Weltordnung aus. Erst vor wenigen Wochen haben die Russen die Mongolei geräumt. Die Sowjets gaben ihren strategischen Puffer gegen China preis, und keiner hat es gemerkt.“
Die neue Bestellung kam auf den Tisch. Fred schmeckte kühles, frisches Bier:
„Sind Sie Kommunist oder nicht?“
„Nennen Sie es, wie Sie wollen. Ich glaube, die Sache hat einen guten Kern, und man muss aufpassen, dass der Moder in der Schale nicht seine Substanz zerstört.“
„Hoffentlich kommen Sie damit nicht zu spät.“
„Und Sie? Was ist mit Ihnen?“
„Ich bin nichts. Außer ratlos. Wohin ich blicke, stellen die Leute Ausreiseanträge.“
Nachdenklich hörte Dormhagen zu. Schließlich sagte er:
„Machen wir uns nichts vor! Gorbatschow hat ein Fass aufgemacht, und es ist nicht erwiesen, dass es nicht die Büchse der Pandora gewesen ist.“
Die Glocken der Kreuzkirche schlugen zwei Uhr. Die Cafétür öffnete sich. Dieses Mal war es Anne. Ohne Verzug eilte sie an den Tisch.
„Eh, ihr, ihr werdet es nicht glauben!“, stieß sie atemlos hervor.
„Was glauben?“, fragte Fred.
Sie plumpste auf den Stuhl, auf dem Lauterbach gesessen hatte.
„Die Russen. Also die Russen … die räumen Afghanistan!“