von: Katja Hachenberg, Karlsruhe
27. Dezember 2018

„Die Melancholie ist weiblich und hat Flügel.“

Buch-Tipp zu Martin Kunz: Die stille Erotik der Melancholie. Erwägungen und Improvisationen. Bucher Verlag, 2018, ISBN 978-3-99018-476-9

© Bucher Verlag

Erwägungen und Improvisationen lautet der Untertitel zu Martin Kunz’ Buch Die stille Erotik der Melancholie, das im österreichischen Bucher Verlag unlängst erschienen ist, illustriert von Jeanine Osborne, einer interdisziplinären Schweizer Künstlerin, mit der Kunz seit Jahren arbeitet. Auch der Autor bewegt sich an den Schnittstellen verschiedener Disziplinen — Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Literatur und Kunst —, an den Übergängen von Denken, Poetisieren und musikalischem Gestalten. Kunz lehrte als Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich und führt ein Atelier für Kunst und Philosophie in Zürich.

Sowohl der Titel des Buchs als auch die feine Gestaltung lassen aufmerken und innehalten, ein pianissimo angeschlagener Ton in der Kakophonie der gesellschaftlichen und politischen Gegenwart. Wie schon die Dichter der Romantik wussten, liegen in dem „dunklen Temperament“ melancholia Verzweiflung und Genialität, Traurigkeit und Süße nur allzu nah beieinander. Nach Galen, griechischem Arzt, Chirurg und Philosoph (2. Jh. n. Chr.), lassen sich die Menschen auf Grundlage der antiken Vier-Säfte-Lehre in vier Persönlichkeitstypen einteilen: die Phlegmatiker, die Choleriker, die Sanguiniker und eben die Melancholiker, die an einem Überschuss „schwarzer Galle“ leiden und als Künstlernaturen gelten, oft heimgesucht werden von Traurigkeit und Angst.

Kunz zufolge ist die Melancholie weiblich und hat Flügel. Sie scheine beides zu sein: „Chance des Überfliegens und Überdenkens und immense Versunkenheit“. Für Kunz ist sie aber eines nicht: Depression. Es sei ein Fehler Freuds gewesen, Melancholie und Depression zu vermengen, denn Melancholie könne „das Ausbrennen und den Absturz in die Schwärze, in die totale Abwesenheit“, gerade verhindern. Mitten in der Melancholie sei etwas Widerständiges am Werk, sie verschränke Rückbesinnung und Vorausschau, Stille, sinnlichen Impuls und Vision. In ihr verdichte sich die Zusammengehörigkeit von Grandiosität und Trauer. Kunz will der Melancholie „etwas von ihrer Schwärze nehmen“ und spricht ihr eine eigene, stille, Erotik zu. Sie sei das wertvolle Gefühl des Unzulänglichen.

In sechzehn Gelegenheitstexten, die kurze Titel wie „Erfahrung“, „Sonntag“, „Aber“ oder „Respekt“ tragen, umkreist Kunz denkend-schreibend wesentliche Begriffe und Entwicklungen der Kultur- und Geistesgeschichte sowie aktuelle Phänomene aus Kunst und Gesellschaft. Der Gestus des Betrachtens, Erwägens und Improvisierens schließt seine Texte an die Tradition des literarisch-philosophischen Essays an, der ja bereits in seiner Bezeichnung die Momente des (Ab-)Wägens und Versuchens enthält (frz. essayer: versuchen, lat. exagium: Wägen/Abwägen). So ist Kunz’ Texten etwas Tastendes, Nachspürendes zu eigen, das zu Entschleunigung und Hinfühlung anregt.

Wenn ich mir den idealen Ort für eine Lektüre dieses Buches vorstelle, sehe ich ein kultiviertes Café vor meinem inneren Auge, in Feuilletons schmökernde, elegant gekleidete Caféhaus-Besucher, Kellner in schwarzen Westen und mit wadenlangen weißen Schürzen, eine Atmosphäre, in die der Geist sich gerne zurückzieht aus Lärm und Unbilden des Alltags. Hier, in diesem geistig-sinnlichen Klima, kann sich die sanfte Klanglichkeit und Tonalität der Texte wesensgerecht entfalten. Denkbar auch ein Gesprächsformat beziehungsweise Kommunikationssystem wie das des literarischen Salons.

„Ich muss ja nicht mehr, muss nur noch, was ich muss“, bemerkt Martin Kunz in dem von Urs Heinz Aerni geführten Interview, das den Texten vorangestellt ist. Diese Haltung des Nicht-mehr-Müssens prägt das Erscheinungsbild der von Kunz dargelegten gedanklichen Zusammenhänge inhaltlich wie formal. Es ist ein Flanieren durch Gebiete und Atmosphären, ein Sich-Umschauen, ein Nach-Denken, auch hierin dem Essay oder einer Form wie den Denk-Bildern Walter Benjamins verwandt. Die Texte, bemerkt der Autor, seien aus bestimmten Erlebnissen heraus entstanden. Der Romantiker in ihm wolle, dass Philosophie, Mythos, Kunst und Logos eins würden, die Welt sich re-romantisiere; der Melancholiker bedaure schmunzelnd, dass dies nicht gelinge.

Und auch der Aufklärer erhält im Text eine eigene Stimme: Die Anliegen des Projekts Aufklärung seien noch nicht erfüllt und könnten wohl kaum je erfüllt werden, sinniert Kunz. Und obschon das Ich dem Unbewussten abzuringen sei, sei der Mensch als ein zur Vernunft, zu Freiheit, Mündigkeit und Würde fähiges Wesen anzusehen: „Pluralismus, Freiheit, Solidarität und Toleranz — diese Grundsätze ließen als gelebte die Menschheit menschlicher werden. Sie müssen politisch erkämpft (…) werden.“

Die stille Erotik der Melancholie ist ein lesenswertes Buch, ein Buch, das man gern in die Hand nimmt und das sich perfekt einfügt in den Kosmos eines feinsinnig geführten Disputs. Hier liegt zugleich ein Angriffspunkt verborgen: In aller Stimmigkeit und ästhetischen Geschlossenheit mag sich der Leser an mancher Stelle etwas anderes wünschen: Bruch oder Riss, Irritation, Verzerrung oder Störung. Etwas, das den perlenden Fluss der Rede und Gedanken unterbricht, etwas Unerwartetes, Plötzliches. Etwas wie ein falsch gesetzter Ton, auf den es ankommt, damit das Schöne nicht seines wesentlichen Merkmals beraubt wird: der Doppelbödigkeit. Denn wie wir durch Rilkes „Duineser Elegien“ wissen, ist das Schöne „nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“

von Dr. Katja Hachenberg, Autorin, Karlsruhe (www.katja-hachenberg.de)   

Berglink befragte die Autorin Katja Hachenberg zu ihrem Schreiben und ihr Verhältnis zu Sprache und Bücher. Die Antworten finden Sie hier…