von: Katja Hachenberg
6. Dezember 2022
© Katja Hachenberg - Pressebild
„Nun weiß ich auch, wie es war, wenn Maman die kleinen Spitzenstücke aufrollte“, heißt es in Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. „Da kamen erst Kanten italienischer Arbeit, zähe Stücke mit ausgezogenen Fäden, in denen sich alles immerzu wiederholte, deutlich wie in einem Bauerngarten. Dann war auf einmal eine ganze Reihe unserer Blicke vergittert mit venezianischer Nadelspitze, als ob wir Klöster wären oder Gefängnisse. Aber es wurde wieder frei, und man sah weit in Gärten hinein, die immer künstlicher wurden, bis es dicht und lau an den Augen war wie in einem Treibhaus.“
Aus feinster Stofflichkeit entsteht hier, vor den Augen des kleinen Malte wie vor dem inneren Auge des Lesers, die textile Welt des Textes, entstehen Gärten, Klöster und Gefängnisse aus Worten, entsteht ein Treibhaus aus Buchstaben.
Das ist das Geschenk, das die Literatur uns macht: Sie stellt Orte zur Verfügung, Orte, in die wir eintauchen und in denen wir uns, fernab von der Realität des Alltags, einrichten können. Ihr Material ist leicht und gewichtig, flüchtig und beständig zugleich.
Die Literatur schenkt uns auch eine andere Zeit: Wer hat noch nicht Stunde und Tag vergessen bei einer spannenden Lektüre? Wer hat noch nicht mit einem Helden imaginäre Landschaften durchwandert, Abenteuer bestritten und nur schwer wieder zurückgefunden in das eigene Zimmer?
Literarische Räume erscheinen in mannigfaltigen Gestalten und Maskeraden: Als Räume des Lesens und des Lesers; als fiktive Räume ‚in‘ der Literatur; als Räume ‚für‘ die Literatur (wie beispielsweise Literaturhäuser oder Literaturmuseen); schließlich als Räume des Schreibens, bewohnt und belebt von Autoren, als Gartenhaus, Café oder Hotel — in jedem Fall aber als jenes „Zimmer für sich allein“, das Virginia Woolf in ihrem Essay über Frauen und Fiction forderte: „Eine Frau muss Geld haben und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Fiction schreiben will“.
Wenn es um literarische Räume geht, gibt es nichts, das es nicht gibt, gibt es nichts, das nicht möglich ist: Aus einer Handvoll Worte entsteht im Hier und Jetzt ein Etwas, das in der Zeit weit zurückreichen und über die Zeit weit hinausweisen mag: der Text.
Texte: Sie lassen alles möglich sein, auch und gerade das Undenkbare, das Ungeheure. Nichts kann Welten schaffen wie die Literatur.
Wer schreibt, webt. Wer liest, kann sich behaglich in einem Maschenwerk einnisten. Der Text ist ein Gewebe, wie er ein Gebilde ist — im konkreten Sinne des Wortes: „Ge-bild“, „Ein-bildung“, jenes „Ich stelle mir vor“ aus Max Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein. Wenn wir „Imagination“ buchstäblich übersetzen, schreibt Frisch in seiner Poetik-Vorlesung Schwarzes Quadrat, bedeutet es „Einbildung“. Auch hat Imagination eine klangliche Interferenz: „magisch, Magie“. Damit ist Imagination „ein magischer Akt. Nicht herstellbar durch Intelligenz“.
Imagination ist ohne Ideen, ohne Träume nicht denkbar. Und in den Träumen sind die Räume schon enthalten wie die Orte in den Worten.
Die Wahl des Ortes, bemerkte Peter Stamm einmal in einem Interview, sei für eine Geschichte entscheidend und stehe ganz am Anfang der Arbeit. Da jeder Ort andere Möglichkeiten biete, gelte es abzuwägen, denn wenn der Ort einmal gewählt sei, beginne er, die Geschichte zu beeinflussen, so wie Orte auch unser Leben beeinflussen. Der Ort transportiert etwas — aus sich selbst heraus.
Wer erzählen will, schreibt Umberto Eco in seiner Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, „muss sich zunächst eine Welt erschaffen, eine möglichst reich ausstaffierte bis hin zu den letzten Details“.
Mit dem Erzähl-Beginn wird der Leser in diese fiktionale Welt hineingezogen: In der Haut eines Gregor Samsa erwacht er eines Morgens in einem kleinen Menschenzimmer, auf dessen Tisch eine auseinander gepackte Musterkollektion von Tuchwaren ausgebreitet ist; reitet an einem ganz stillen, toten und tiefherbstlichen Tag allein durch einen Landstrich von einzigartiger Ödnis, um schließlich in den Umkreis des melancholischen Hauses Usher zu kommen; nimmt im fahlen Licht des Mittags im hinteren Hof von Pelayos Haus die jammernde, sich bewegende Gestalt eines alten Mannes wahr, der mit dem Gesicht im Schlamm liegt und sich nicht aufrichten kann, weil ihn seine riesengroßen Flügel daran hindern.
Inneres wie äußeres Geschehen eines Textes entfalten sich in atmosphärischen Räumen: Man denke an das hohe und weitläufige Zimmer des alten Schlosses, in das Heinrich von Kleist sein Bettelweib von Locarno versetzt, oder an das Urnekloster des Malte Laurids Brigge, das so, wie Malte es in seiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfindet, kein Gebäude ist: Es ist „ganz aufgeteilt“ in ihm, „da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang“. In dieser Weise ist alles verstreut in ihm, die Zimmer, die Treppen und „andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern“.
Zimmer und Säle sind im Herzen des Protagonisten erhalten geblieben, sind zu Körperräumen geworden.
Imagination, Atmosphäre und Magie, Beschwörung und Zauber: Sie sind die notwendigen Ingredienzien fiktionaler Räume. Sie laden uns ein, Platz zu nehmen am überreich gedeckten Tisch der Literatur. Sie lassen uns Gast sein beim exklusiven Diner der großen Künstlerin Babette, die Tania Blixen unvergesslich gemacht hat: Wir sind geladen zu feinstem Amontillado, zu Cailles en Sarcophage, zu Trauben, Pfirsichen und frischen Feigen. Babette hat ihr Äußerstes, ihr Allerbestes gegeben — und damit alle Anwesenden, einschließlich uns, vollkommen glücklich gemacht.
Die Räume der Literatur sind sprachliche Räume voller Sinnlichkeit: Gerüche, Geräusche, Bewegungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen durchziehen sie und geben ihnen ihr unnachahmliches Gepräge. Der Geschmack der Äpfel aus Katharina Hagenas Roman über das Erinnern und Vergessen liegt dem Leser auf der Zunge wie der Geschmack des in Lindenblütentee getauchten Gebäckstücks der berühmten Madeleine-Episode aus Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Beide Male wird das sinnliche Erlebnis mit dem Phänomen der Erinnerung verknüpft. Und beide Male sind Räume konstitutiv für das Erleben wie für das Erinnern: Iris, die das alte Haus ihrer Großmutter erbt, in dem sie als Kind in den Sommerferien mit ihrer Kusine Verkleiden spielte, streift durch die Zimmer und den Garten, eine aus der Zeit gefallene Welt, in der rote Johannisbeeren über Nacht weiß, und als konservierte Tränen eingekocht werden; in der ein Baum gleich zweimal blüht, Dörfer verschwinden und Frauen aus ihren Fingern Funken schütteln. Während sie von Zimmer zu Zimmer läuft, tastet sie sich durch ihre Erinnerungen und ihr Vergessen: „Der Geruch des Eingangsflurs betäubte mich, es duftete noch immer nach Äpfeln und alten Steinen, die geschnitzte Aussteuertruhe meiner Urgroßmutter Käthe stand an der Wand“. Links und rechts daneben stehen die Eichenstühle mit dem Familienwappen: ein Herz, von einer Säge zerteilt.
Der Körper ist, wie der Raum, für das Erinnern unabdingbar, denn das Erlebte hat auch im Körpergedächtnis Räume bezogen: So beschreibt das erzählende Ich in Swanns Welt einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen im Rückgriff auf Körper- und Raumbilder: Noch zu steif, um sich zu rühren, sucht der Körper je nach Art seiner Ermüdung sich die Lage seiner Glieder bewusst zu machen, um daraus die Richtung der Wand, die Stellung der Möbel abzuleiten und die Behausung, in der er sich befand, zu rekonstruieren: „Sein Gedächtnis, das Gedächtnis seiner Seiten, seiner Knie und Schultern bot ihm nacheinander eine Reihe von Zimmern, in denen er schon geschlafen hatte, an“. Währenddessen kreisen rings um ihn her die unsichtbaren Wände im Dunkel und wechseln ihren Platz je nach der Form des vorgestellten Raums. Und bevor das Denken des Protagonisten die Wohnung durch ein Vergleichen der Umstände eindeutig feststellen kann, erinnert der Körper sich „von einem jeden an die Art des Bettes, die Lage der Türen, die Fensteröffnungen, das Vorhandensein eines Flurs, gleichzeitig mit dem Gedanken, den ich beim Einschlummern gehabt hatte und beim Erwachen wiederfand“.
Aus den Körperhaltungen tauchen die dazu gehörigen Erinnerungen auf: Das Ich erkennt bald das eine, bald das andere der Zimmer, die es in seinem Leben bewohnt hat, wieder, winterliche Zimmer und sommerliche Gemächer, „in denen man sich gern eins fühlt mit der lauen Nacht“.
Das Zusammenspiel von Körper, Wahrnehmung, Gedächtnis und Raum findet sich nicht nur in der Beschreibung literarischer Interieurs, sondern ebenso in der literarischen Imagination von Außen- und Stadt-Räumen: Man denke an den niederländischen Fotografen Arthur Daane, der mit der Filmkamera durch Berlin im Schnee zieht, auf der Suche nach Bildern für sein ewiges Projekt, seinen Film. Aus einer Beobachtung, einem Klang, einem aufgeschnapptem Wort, der Anordnung von Büchern im Schaufenster einer Buchhandlung erwachsen Erinnerungen und Reflexionen, baut sich das Geschehen des Nooteboom’schen Allerseelen-Romans auf. In der Gegenwartsliteratur wird die literarische Figur des Flaneurs wiederentdeckt, werden ihre Wahrnehmungstechniken und Denkstrukturen schreibend ausgelotet. Flanierende Texte (Matthias Keidel) werden aus Gehbewegungen heraus organisiert, die Füße strukturieren Gedankengänge und Geschriebenes.
Das Schreiben selbst vollzieht sich in immobilen wie mobilen Räumen: Es sind die gelebten Räume der Autoren, ihre Schreib-Räume, aus denen heraus fiktionale Räume entstehen.
In einem Haus, schreibt Marguerite Duras, ist man allein. Und nicht außerhalb, sondern innerhalb des Hauses: „Was ich sagen kann, ist, dass die Einsamkeit von Neauphle von mir gemacht worden ist. Für mich. Und dass ich nur in diesem Haus allein bin. Um zu schreiben. Um zu schreiben, nicht wie ich es bis dahin getan hatte. Sondern um mir noch unbekannte und noch nie von mir beschlossene und nie von irgendjemand beschlossene Bücher zu schreiben.“ Ihre Bücher seien aus diesem Haus hervorgegangen.
Der Schreibort: sehr weit weg von allem, ein einsamer Ort. Eine Nische. Ein Stuhl in einem für jedermann zugänglichen Raum, einer Bibliothek zum Beispiel oder einem Café. Der Autor beansprucht, ja okkupiert dieses Stück Raum für sich — und es wird (s)ein genuiner Schreibort. Joseph Roth schrieb im Lesezimmer des Pariser Hotels Foyot, in dem 1827 Hegel, 1920 und 1925 Rilke abgestiegen waren. Peter Altenberg im Café, wo er seinen Bezirk mit einem großen Pappschild markierte, das er an die Stuhllehne hängte: „Ich bin heute ausnahmslos für Niemanden zu sprechen“. „Hier alles TABU“, schrieb Friederike Mayröcker, gegen Einbrecher und Freunde gleichermaßen gerichtet, an ihre Tür.
Schriftsteller zu sein, davon war Tennessee Williams überzeugt, bedeute die Freiheit, fluchtartig Hotels zu verlassen, glücklich oder traurig, hemmungslos und ohne großes Bedauern. Blaise Cendrars betonte, er werde nicht ruhen, bevor er nicht in jedem Pariser Hotel geschlafen und jeden Zoll kennengelernt habe. Es scheine eine Affinität zu bestehen zwischen der schreibenden Zunft und diesem Raum, der die Anonymität ebenso zulasse wie das gesellschaftliche Leben, heißt es in dem von Lis Künzli herausgegebenen Bildband Hotels. Ein literarischer Führer. Das Hotel stehe für das Wechselbad zwischen Öffentlichkeit und Zurückgezogenheit am Schreibtisch, mit dem es jeder Schriftsteller berufsbedingt zu tun hat. Für die einen ersetze es die Heimat, oft notgedrungen, die anderen fänden im Hotelpersonal eine Wahlfamilie, zu der das Verhältnis ebenso herzlich wie unverbindlich bleibe. Max Dauthendey spürte im Hotelzimmer die Kälte wie einen „einäugigen Greis“ sitzen, der nach seiner „Haut“ schielte. Für Hemingway spielte sich, wenn er von einem späteren Leben im Himmel träumte, immer alles im Ritz ab, und für Brecht bot das Hotel die Möglichkeit, ein Leben wie im Roman zu führen.
Die Lektüre des literarischen Hotelführers macht Lust, auf den Spuren von Autoren wie Thomas Mann, Graham Greene, Claire und Yvan Goll zu wandeln und Orte wie das Waldhotel in Arosa, das Hotel Nacional in Havanna, L’Hotel in Paris und viele andere Hotels rund um den Erdball zu besuchen — vorausgesetzt, sie existieren noch — und jenem Geist nachzuspüren, der die Schreibenden inspirierte; vielleicht auch „sich ins Bett seines Lieblingsdichters“ zu legen und über „die Einwirkungen der Realität auf die erdichtete Welt“ (Lis Künzli) nachzudenken.
Dem Schreibort und den Schreibutensilien der Schriftsteller wie dem Schreibakt selbst haftet auch heute noch, in unserer virtualisierten und entzauberten Gegenwart, der Nimbus des Außergewöhnlichen, Erhabenen, Originären und Geheimnisvollen an gleich Relikten aus magischen Zeiten. An literarischen Gedenkorten und in Literaturausstellungen wird bewusst jene Authentizität inszeniert und zelebriert, die einzustehen hat für das „Echte“, „Originale“: „Hier schrieb Schiller den Wallenstein 1798“, „Arbeitsraum mit Bibliothek im Studio Arnold Zweigs“ oder „Der Schreibtisch von Elias Canetti“, wird der Betrachter in Kenntnis — und in die Aura eines anderen Ortes, einer anderen Zeit — gesetzt. Im Lübecker Buddenbrookhaus verwischen die Ausstellungsmacher die Kategorien des Realen und des Fiktiven: Nachgestellt werden die Romanräume der Buddenbrooks als für Besucher begehbare Räume; im Hintergrund, aus dem Off, klappern Pferdehufe über Kopfsteinpflaster: Heraufbeschwören einer authentischen Situation, Geh-Hilfe für träge Besucherfantasien.
Der Raum des Schreibens kann auch ein Raum des Umher-Ziehens, des Nomadischen sein. So beschreibt die argentinische Schriftstellerin Maria Negroni ihren Beruf als mit der Idee „of being displaced“ verknüpft, „as a sense of loss“. Und nicht allein die Protagonisten Cees Nootebooms gehören zu den großen literarischen Flaneuren und Nomaden, sondern ebenso ihr Autor selbst.
Zwischen Ruhe und Bewegung oszillieren die Schreibenden, zwischen Haus und Welt, Schreibtisch und Zelt. Immer ist es die Welt, über die man schreibt, sagt Nooteboom: zum Schreiben gehört die Unersättlichkeit des Schauens. Geselligkeit ist nur möglich auf die eigene Bedingung, Abstand halten ist notwendig wie das sich Einwühlen und das sich Eingraben — in fremde Leben, ferne Räume, die Texte anderer, früherer und zeitgenössischer, Autoren. Der Schriftsteller ist „der Hüter der Verwandlungen“ (Elias Canetti), und dies in einem zweifachen Sinn: Indem er versuche, seinen Mitmenschen ein so hohes Maß an Empathie entgegen zu bringen, dass er im Stande sei, zu jedem zu werden, auch zum Kleinsten, zum Naivsten, zum Ohnmächtigsten; und indem er sich das literarische Erbe der Menschheit zu eigen mache. Das Gilgamesch-Epos, die Odyssee und die Metamorphosen des Ovid sind wesentliche Bezugspunkte dieses unerschöpflichen, sich immer weiter fortschreibenden Fundus.
Wer schreibt, baut — in Satzklammern und Satzteilen, in Verbgefügen und Schachtelsätzen, in Spannungsbögen und Attributen — mit am Gedächtnis der Menschheit, schafft ein (kleines) Museum für den Rest der Welt. Die Verbindung zwischen Gedächtnis und Raum ist so unverbrüchlich wie die zwischen Literatur und Raum. So besteht der Kern der „ars memorativa“ aus der Kopplung von „imagines“ und „loci“. Von dieser topologischen Qualität, bemerkt Aleida Assmann in ihrer Schrift Erinnerungsräume, sei es nur ein Schritt zu architektonischen Komplexen als Verkörperungen des Gedächtnisses.
Auch die Orte haben, wie die Körper, ein Gedächtnis: Orte können zu Subjekten und Trägern der Erinnerung werden und „womöglich über ein Gedächtnis verfügen, das weit über das der Menschen hinausgeht“ (Aleida Assmann). Schon in Ciceros Schrift De finibus bonorum et malorum heißt es: „Groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt“. Orte können als Generationen-Orte, heilige Orte wie als Gedächtnis- und Gedenkorte Zeit zu Raum verdichten. In Schauerromanen werden die Gebäude zu Orten eines Gedächtnisses, das die Menschen, die es verloren haben, wieder einholt, zu Schauplätzen, an denen die Wiederkehr des Verdrängten literarisch inszeniert wird.
Zugleich ist der Raum das mit Atmosphären und Qualitäten hoch aufgeladene, mit Bedeutungen und Kontexten versehene Behältnis der Dinge, die beschreibend inventarisiert werden können: Ein eindringliches Beispiel hierfür ist der Siegertext Inventuren. Phänomenologische Felder des Literaturwettbewerbs Wartholz 2011 von Regina Dürig. Abstraktes und Konkretes werden dem Leser hier als eine Momentaufnahme des Dinglichen vor Augen gestellt: „Die Gärten gibt es. Es gibt Rabatten, Spaliere und Beete. Es gibt Gärten, die nicht betreten werden dürfen, und solche, die nicht betreten werden können […] Die Angst gibt es. Die Angst vor dem Alleinsein und dem Bereuen gibt es […] Die Angst vor den eigenen Wurzeln gibt es […] Niemanden gibt es. Niemand ist da, niemand hat gekocht, niemand ruft an […] Die weggeworfenen Dinge gibt es […] Die Spiele gibt es […] Das Aufgeben und das Weiterspielen gibt es.“
Die Räume der Literatur und des Schreibens sind erlebte, von Phantasmen bevölkerte Räume. Die Räume unserer ersten Wahrnehmung, unserer Träume, unserer Leidenschaften, schreibt Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raums, enthalten in sich gleichsam innere Qualitäten: es ist ein „leichter, ätherischer, durchsichtiger Raum, oder es ist ein dunkler, steiniger, versperrter Raum […] es ist ein Raum, der fließt wie das Wasser; es ist ein Raum, der fest und gefroren ist“.
Räume des Schreibens und der Literatur sind Andere Räume in jener Weise, die Michel Foucault in seinem gleichnamigen Aufsatz skizziert hat, in dem er sich mit Utopien (Platzierungen ohne wirklichen Ort) und den von ihm so benannten Heterotopien (Orten außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können) beschäftigt. Foucault kennzeichnet seine Epoche (der Text datiert auf 1967) als eine Epoche des Raums, des Simultanen, des Neben- und des Auseinanders. Bordelle, Kolonien und Schiffe stellen für Foucault die extremsten Typen der Heterotopie dar: Orte ohne Ort, die in sich das größte Imaginationspotenzial enthalten: „Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin. In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume“.
Die Literatur trägt ihre Leser wie ein Schiff seine kostbare Fracht von einem Ort zum anderen, selbst ortlos, doch angefüllt mit Träumen. Der Raum des Lesers: ein Raum außerhalb und innerhalb von Raum und Zeit; ein Raum des Schweigens und der Stimme(n). Der Akt des Lesens: ein Akt der Intimität. Bildende Kunst und Fotografie zählen diesen acte intime zu ihren bevorzugten Sujets.
Der Bildband Célébration de la lecture von Colette Nys-Mazure präsentiert ein Plateau von Beispielen aus der Kunstgeschichte, die sich der Lektüresituation gewidmet haben: Von Rembrandts „La Mère de Rembrandt“ (1631), das die Mutter des Künstlers mit einer großen aufgeschlagenen Bibel in ihrem Schoß zeigt, deren Seiten sie sacht mit den Fingern berührt, bis zu Picassos „La Lecture“ (1934), das zwei Frauen beim Lesen inszeniert, von Sir John Laverys „Jeune fille en robe rouge lisant près de la piscine“ (1887), in dem ein junges Mädchen in rotem Kleid mit rotem Hut lesend am Strand sitzt vor den im Hintergrund Badenden, bis zu Edward Hoppers „Chambre d’hôtel“ (1931), das eine Dame in einem anonymen (Hotel-)Zimmer auf dem Bett sitzend in die Lektüre eines Briefes vertieft zeigt, wird der Bogen der Betrachtung gespannt.
Als Leserin von Büchern, schreibt Siri Hustvedt in ihrem Essay Being a Man, sei sie davon überzeugt, dass Wörtern die nahezu magische Kraft innewohne, nicht nur weitere Wörter zu erzeugen, sondern flüchtige Bilder, Gefühle und Erinnerungen: „Manche Romane und Gedichte hatten die Kraft, rohe, unbekannte Teile von mir aufzudecken, spiegelten etwas, wovon ich vorher nichts gewusst hatte. In jedem Buch fehlt der Körper des Schreibers“. Diese Abwesenheit mache die Buchseite zu einem Ort, an dem wir „wirklich frei sind, dem Mann oder der Frau zuzuhören, die spricht“. Wenn sie ein Buch schreibe, so Hustvedt, höre sie auch zu: Sie höre die Figuren sprechen, als wären sie außerhalb von ihr statt in ihr.
Aus der Flächenhaftigkeit des geschriebenen Textes heraus entfaltet sich die Vieldimensionalität einer imaginären Raum-Zeit, die sich in ein Unendliches hinein erstreckt. Problemlos können Handlungen gerafft oder gedehnt, große Zeiträume mit ein paar Worten übersprungen werden. Literarischen Räumen eignet jene synästhetische Qualität, die Michel Serres in seiner Philosophie der Gemenge und Gemische: Die fünf Sinne beschreibt: Sie gleichen Passagen, Durchgängen, Übergängen; Zwischenräumen, Übergangsschichten; Membranen, Hüllen, Häuten, in denen sich Austauschvorgänge (zwischen realer und fiktiver Welt, Autor, Erzähler und Leser) vollziehen. Der literarische Raum ist ein „gemischter Ort“, der nicht durch-eilt, sondern durch-wandert werden will: Denn es sind vor allem die ungeraden, nichtökonomischen Wege, die Umwege, die ihm gemäß sind.
„Irren Sie umher wie ein Gedanke“, schreibt Serres, „lassen Sie Ihren Blick in alle Richtungen schweifen, improvisieren Sie … Sehen Sie in der Unruhe Reichtum, in der Sicherheit Armut. Verlassen Sie den Gleichgewichtszustand, die sichere Spur des Pfades, streifen Sie über die Wiesen, von denen die Vögel auffliegen … débrouillez-vous, befreien Sie sich aus dem Gewirr“.
Räume gibt es. Literatur gibt es. Beide sind unauflöslich miteinander verbunden. Literatur ist ohne Räume schlechterdings undenkbar, sie lebt in diesen und durch diese. Der Raum seinerseits ist ohne die ihm ewig Angetraute kaum mehr als eine leere Schachtel, seelenlos und ohne Leben.
Katja Hachenberg
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Literatur:
Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999
Bachelard, Gaston, Poetik des Raumes. Aus dem Französischen von Kurt Leonhard. Frankfurt a. M. 1994
Blixen, Tania, Babettes Gastmahl. In: Dieselbe: Schicksalsanekdoten. Aus dem Englischen von W. E. Süskind, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 19-53.
Canetti, Elias, Der Beruf des Dichters (Münchener Rede, Januar 1976). In: Derselbe: Das Gewissen der Worte. Essay. München und Wien 1976 (2. Auflage), S. 257-267.
Dürig, Regina, Inventuren (Text für den Literaturpreis Wartholz), 2011
Duras, Marguerite, Vorwort zu Dichter und ihre Häuser, hg. von Erica Lennard und Francesca Premoli-Droulers, München 1999
Eco, Umberto, Nachschrift zum ›Namen der Rose‹. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München 2016 (12. Auflage)
Foucault, Michel, Von anderen Räumen (1967). In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel. Frankfurt a. M. 2006, S. 317-329.
Frisch, Max, Mein Name sein Gantenbein. In: Derselbe: Romane, Erzählungen, Tagebücher. Mit einem Nachwort von Volker Hage. Frankfurt a. M. 2008, S. 891-1162.
Derselbe, Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen. Hg. von Daniel de Vin unter Mitarbeit von Walter Obschlager. Mit einem Nachwort von Peter Bichsel. Frankfurt a. M. 2008
Hagena, Katharina, Der Geschmack von Apfelkernen. Köln 2009 (30. Auflage)
Cees Nooteboom, Allerseelen. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Frankfurt a. M. 1999
Hustvedt, Siri, Being a Man. Essays. Deutsch von Uli Aumüller. Reinbek bei Hamburg 2007 (3. Auflage)
Keidel, Matthias: Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion, Würzburg 2006
Künzli, Lis (Hg.), Hotels: ein literarischer Führer. Frankfurt a. M., 1996 (2. Auflage)
Negroni, Maria, Gespräch im Literaturhaus Stuttgart (Mitschrift der Verfasserin), 23.09.2010
Nys-Mazure, Colette, Célébration de la Lecture. Bruxelles 2005
Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (In Swanns Welt), Frankfurt a. M. 2000
Rilke, Rainer Maria, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, hg. von Manfred Engel, Stuttgart 1997
Serres, Michel, Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1998
Woolf, Virginia, Ein Zimmer für sich allein. Mit einigen Fotos und Erinnerungen an Virginia Woolf von Louie Mayer. Frankfurt a. M. 1999 (18. Auflage)