von: Giorgio Avanti
8. Dezember 2017
Der Chevrolet Bel Air ist ein Halbautomat, hat ein rotes Dach und ist beige, mit Weisswandreifen. Jahrgang 1953. Ein richtiger Strassenkreuzer. Zwei freche Blechbrüste, auf der vorderen Stossstange.
Jakobs Vater kauft in der Konditorei Müller die sonntägliche Kirschtorte. Mutter liebt Kirschtorten, so schön genässte.
Vater legt die Torte behutsam auf den Fahrersitz. Rotes Leder. Von Hand genäht. Gegen Aufpreis.
Der Chevrolet parkt unter vollblättrigen Platanen, hundert Meter vom Restaurant Altmünchen entfernt. Also geht Jakobs Vater zu Fuss, frühlingsbeschwingt. Dort wartet Ida, die Serviertochter und zeitweilige Geliebte, im feschen Münchner Dirndl, im Ausschnitt wölben sich lieblich rosa Hügel. Schwarze Haare, volle Lippen, rundliches Gesicht, grüne Augen. Wie Bernstein, denkt Jakobs Vater.
Er küsst Ida, bestellt Bier und Schweinswürstchen, mit Meerrettich, ohne Senf. Am Stammtisch klopfen Vaters Freunde einen Jass ins blanke Holz, hie und da fluchend. Einer lacht, zeigt ein Ass, gewinnt. Zum Ärger seiner Jasskumpane. Ida plaudert, streicht den Rock glatt. Willst noch ein Bier? Vater nickt, Ida zapft. Vater nimmt drei grosse Züge, leckt sich den Schaum von den Lippen, putzt sich die Nase. Ein Klaps auf Idas Hintern, sie gluckst wie eine Ente. Am Wasser. Die Jasser erzählen Witze, nicht die brävsten. Vater hält dagegen. Ida zapft. Vom Jasstisch winden sich schmutzige Lacher zur verrauchten Decke. Vater zündet eine Brissago an. Das vierte Bier schwebt auf den Tisch, wie von Zauberhand. Vater blickt in Idas Ausschnitt, Ida lächelt. Vater denkt an den Chevrolet, die Blechbrüste, und die festen Schenkel von Ida, ihr Bäuchlein mit dem Wundernabel.
Polizist Huonder setzt sich zu Vater, grüsst und bestellt. Ida, das Gleiche bitte.
Ida zapft. Und zapft.
Trick Siebenundsiebzig. Vater gibt Huonder unter dem Tisch einen gelben Briefumschlag. Ein paar Hunderter darf der Ablass schon kosten, wenn man künftig Straffrei bleibt. Huonder trägt Nazistiefel und einen getrimmten Schnauz, fühlt sich als Führer, wenn er auf seiner BMW durch die Strassen braust, hie und da Strafzettel verteilt, mit starrem Gesicht, Hüter der Ordnung, streng und aufrecht, national, durch und durch. Vater hat er noch nie gebüsst, dem Briefumschlag, dem jährlichen sei Dank. Und so duzen sie sich jetzt, Huonder und der Vater.
Ida zapft.
Vater schnauft ins Bierglas, das sechste. Jetzt nehmen wir noch einen Schnaps, sagt Huonder, winkt Ida, spreizt zwei Finger. Huonder leert sein Glas, hustet, spritzt Bier von schmalen Lippen. Ida bringt die Schnäpse. Die machen durstig, meint Vater, leert zwei Stamperl. Durst, liebste Ida, Durst.
Ida zapft.
Vater steht auf, schwankt, Augen aus Glas. Huonder greift ihm unter den Arm, Ida hilft. Es ist Mitternacht. Am Jasstisch singen sie „Hoch auf dem gelben Wagen sitz ich beim Führer vorn“. Vater kotzt. In den Garten des Altmünchen. Ida geht rechts, Huonder links, schleppen den Vater ab, zum Chevrolet. Huonder greift in Vaters Kittelsack, nimmt die Schlüssel, öffnet die Tür. Sie schieben Vater auf den Fahrersitz. Ein schmatzendes Geräusch. Huonder sagt, das war ein Frosch.
Vater fährt. Langsam. Ein Rauschen im Gehirn. Er findet nach Hause, stoppt vor der Garagentür, der Motor läuft. Vater hupt. Und hupt. Der Chevrolet wird zum Dampfer, umbrandet von ungenannten Meeren, inselt in einem Lichtblitzstrom. Mutter schreckt hoch, die Bigoudis in ihren Haaren klirren. Ein Murmelspiel. Sie ruft: Helen, Hilfe! Helen, das Dienstmädchen, schläft im oberen Stock, wacht auf, seufzt ins Dunkle. Es hupt. Mutter und Helen, in rosa Nachthemden, beide, laufen zur Garage, Vater schläft. Mutter keift. Helen lacht. Das alte Lied. Mit vereinten Kräften zerren sie Vater aus dem Chevrolet. Dann kotzt er wieder, auf die Blechbrüste.
An Vaters Hosenboden klebt sie, die Kirschtorte.
Giorgio Avanti
Die Zuger Kirschtorte ist eine Spezialität aus Zug, einem Schweizer Kanton.