von: Urs Heinz Aerni
16. August 2013

„Die frohe Botschaft ist für alle“

Der Basler Till Hein entschied 2002 sich für Berlin als seine neue Heimat und in seinem Buch „Der Kreuzberg ruft!“ begibt er sich auf eine Art Gratwanderung durch die Kultstadt. Urs Heinz Aerni befragte ihn nach seinem Berlin-Gefühl...

© be.bra verlag

Urs Heinz Aerni: Vor kurzem fragte eine türkischstämmige Autorin im Facebook, warum es den Schweizern an Ironie und Satire fehle. Bei der Lektüre Ihres Buches wird mit humorigem Unterton nicht gespart. Sie sind doch Schweizer, oder?

Till Hein: Ich bin Basler. Und irgendwie sind wir Basler ja auch Schweizer. Wobei beispielsweise unser Verhältnis zu den Zürchern – Vielleicht haben Sie mal von dieser steinreichen, überschätzten Stadt am See gehört? – nicht ganz einfach ist. Fast so kompliziert wie das zum „großen Kanton“, wie wir Deutschland häufig nennen. Wahrscheinlich hat unsere Verachtung für Zürich nicht zuletzt damit zu tun, dass fast alle Basler früher oder später dort hin ziehen – wir sind eben Meister der Dialektik. Und vielleicht sind wir auch ein bisschen masochistisch veranlagt? Das glauben jedenfalls viele Schweizer, wenn ich ihnen erzähle, dass ich freiwillig in Berlin lebe. Aber mal im Ernst: Ich würde Ihrer türkischstämmigen Facebook-Bekannten Robert Walsers Romane empfehlen.

Aerni: Gute Idee…

Hein: Die sind doch ein wunderbar schweizerisches Beispiel für eine sehr melancholische, feine Art von Selbstironie und Humor! Was vielen Schweizern vielleicht nicht so liegt, ist aggressiver, schwarze Humor. Die „Schwoobe“ – so nennen wir in Basel alle Leute aus Deutschland, das seltsame „Schwaben-Problem“ mancher Ur-Berliner können wir daher nur schwer verstehen – sind darin oft ganz gut: Wenn etwa das Satiremagazin Titanic – als Parodie auf den den Spiegel – reißerisch titelt: „Schrecklicher Verdacht: War Hitler Antisemit?“

Aerni: In der Tat, gewagt. Sie kommen aus Basel am Rhein und sind seit 2002 in Berlin an der Spree. Es dauerte doch seine Zeit, bis Sie sich für ein Buch über Ihr Berlin entschieden haben. Aufkommendes Bedürfnis der Vergangenheitsbewältigung oder woran liegt es?

Hein: Ich bin generell nicht der Schnellste. Die Schwoobe behaupten, das liege an meinen Schweizer Wurzeln. Und ich brauchte wohl tatsächlich Zeit, um den Kulturschock hier im kuhfladenflachen Berliner Großstadtgebirge zu verarbeiten. Vor allem aber habe ich Angst vor leeren Blättern und Bildschirmen. Ein klarer Rahmen hilft mir: feste Arbeitszeiten, klare Abgabetermine – so spießiger Kram halt. Und ich hatte das Glück, dass ich einige Jahre lang für den Berliner „Tagesspiegel“ eine Neuberliner-Kolumne schreiben durfte. Dann wurde das Format leider eingespart. Und als Trotzreaktion hab ich mir gedacht: Jetzt probiere ich es einfach mit einem Neuberlinerbuch! „Der Kreuzberg ruft!“ ist also auch ein Unterhaltungsroman gegen die Krise der Printmedien.

Aerni: Einerseits könnte es auch als eine Art Liebeserklärung an Ihre Wahlheimat gelesen werden, andererseits könnte es Berlinerinnen und Berliner die Neugier nach Basel und die Schweiz wecken. Was sagen Sie denen, die noch nie in Basel waren?

Hein: Es soll ja tatsächlich Menschen geben, die noch nie in Basel waren. Kaum zu glauben! Ich hingegen vergleiche fast alles mit Basel. Denn dort habe ich meine ersten und prägendsten Erfahrungen gemacht. Ich mag Basel sehr. Dennoch fällt es mir nicht leicht, der Touri-Guide, den Touristenführer, zu machen. Wobei wir natürlich den tollsten Zolli [zu deutsch Zoo, Anmerkung der Red.] der Welt haben und das Theater und die Kunstmuseen erfunden. Am wohl schönsten ist Basel aber, wenn man sich im Sommer vom Birsköpfli aus den Rhein runter treiben lässt bis ins St. Johann-Quartier. Das kann selbst Berlin nicht bieten.

Aerni: Berlin ist wie jede Stadt voller Klischees; die Kreativen in Neukölln und Kreuzberg, die Neureichen und Karrierefreudigen in Prenzlauer Berg, die Gentrifizierungs-Opfer in Wedding und Marzahn, die Langweiligen in Dahlem und Spandau oder die Nostalgiker in Köpenick. Was ist an dieser Auswahl falsch?

Hein: Ein schwieriges Thema. Noch vor wenigen Jahren zogen Gentrifizierungs-Flüchtlinge aus dem Prenzlauer Berg wieder nach Kreuzberg zurück. Jetzt aber breiten sich die Reichen und Erfolgreichen auch hier langsam aus und alles wird immer teurer: „Uschi und Hermann werden als mobiler Doppelkopf durch alle Projekte schwirren!“ – „Und ich?!“ – „Du übernimmst die Karl-Marx-Straße. Wir müssen Dich da natürlich noch ein bisschen hincoachen, aber ich bin sicher: In der Karl-Marx wirst Du so richtig durchstarten.“ Solche Gespräche kann man jetzt schon mal beim Zmörgele, beim Frühstücken, in einem Café am Nachbartisch belauschen – und aus Kreuzberg fliehen die ersten Romantiker nach Treptow oder nach Moabit. Ausgerechnet nach Moabit, ins „Tal der abgehackten Hand“…

Aerni: Sie nehmen Bezug auf die Hand in Stahl, die dort beim Hansaplatz zu sehen ist…

Hein : ja, wo ich meine ersten dunklen Monate in Berlin verbracht habe. Damals gab es dort aus kulinarischer Sicht in erster Linie den „Warmen Otto“. Das war nicht etwa eine Schwulensauna, sondern eine Einrichtung der Berliner Stadtmission, wo man ein kostenloses Süppli bekam. An eine weitere Kneipe kann ich mich noch erinnern. Da war einmal „Schweizer Woche“ und auf der Karte stand Fondue für nur fünf Euro. Als ich das Gericht bestellte guckte die Kellnerin, als müsse sie sich gleich übergeben. „Is awa nich jut!“ Das vermeintliche Fondue sah dann eher wie Caramellsauce aus, aber die Qualitätseinschätzung der Kellnerin stimmte aufs Wort. Die Berliner sind eben ehrliche, herzliche, schonungslos offene Zeitgenossen. Was für eine Befreiung nach Jahrzehnten der falschen Freundlichkeit in der Schweiz.

Aerni: Sie studierten in Basel Geschichte, Germanistik und Russistik und ließen sich beim österreichischen Magazin „Profil“ zum Journalisten ausbilden. Welche der gelernten Inhalte half Ihnen am Besten um mit Berlin klar zu kommen?

Hein: Wissen ist Macht. An der Uni Basel habe ich zum Beispiel mal eine Vorlesung zur „Deutschen Geschichte in Ost und West“ besucht. Der Dozent stammte aus Bayern und nannte Berlin immer voller Ehrfurcht „diese geteilte, also Stadt“. Das wirkte natürlich sehr kompetent. Als ich dann nach Berlin zog war die Mauer allerdings schon abgerissen. Dafür waren meine Russischkenntnisse von der Uni hilfreich – theoretisch.

Aerni: Warum?

Hein: Der Berliner Stadtteil Charlottenburg wurde in den 1920er Jahren „Charlottengrad“ genannt. So viele russische Emigranten soll es dort gegeben haben. Ich aber bin in den Nullerjahren in Charlottenburg keinem einzigen Russen begegnet. Dafür lief ich in einer Bar in Mitte beinahe in Wladimir Kaminer, den berühmtesten Russen Berlins. Mutig sprach ich ihn an, machte ihm Komplimente und betonte, wie lustig seine Bücher seien. Kaminer sagte: „Ich weiß.“ Immerhin. Dann drehte er sich weg. Am meisten geholfen hat mir letztlich sicher die journalistische Ausbildung beim Österreichischen Nachrichtenmagazin.

Aerni: Wieso das?

Hein: Der österreichische Journalismus ist ja weltberühmt, ähnlich wie das britische Essen. „Interessiert das den Zahnarzt in Kufstein?“, fragte der Chefredakteur immer, wenn ihm meine Themenvorschläge mal wieder zu abseitig vorkamen. Sehr lehrreich. Vor allem aber eröffnete mir diese Ausbildung – auch als Basler – automatisch die Mitgliedschaft in einem erlauchten Kreis: dem Berliner Ösi-Medien-Stammtisch. Die meisten Stammtisch-Kollegen arbeiteten als Korrespondenten und wussten immer, wo es auf Pressekonferenzen kostenlos Wein und belegte Brötli gab.

Aerni: Mit Vergnügen liest sich Ihr Buch, mit Ihren Streifzügen, Beobachtungen und Reflexionen des eigenen Lebens. Was machte Berlin aus Ihnen, dem Till Hein aus der Schweiz?

Hein: Manchmal stelle ich bei mir und meinen alten Basler Freunden inzwischen eine gewisse Bräsigkeit und Schlappheit fest: Wir haben in rund vier Jahrzehnten halt schon einiges gesehen und mitgemacht auf den Schlachtfeldern der Arbeit, der Liebe, der Politik und der Transzendenz. Aber Berlin hat mich recht gut auf Trab gehalten. Wo sonst trifft man Menschen, die Hühner leasen, in der Burka joggen gehen oder in einer Mülltonne eine Rolex finden? Manche Gewissheiten muss man hier allerdings hinterfragen.

Aerni: Zum Beispiel?

Hein: Ich bin zum Beispiel ein großer Freund der „multikulturellen Gesellschaft“. In ein paar Jahren könnte es aber nun sein, dass unser Kleiner in eine Klasse kommt, in der die Mehrheit kaum Deutsch spricht. „Gschech nüt schlimmers!“, hätte ich früher gesagt. Hier in Berlinistan fühlt sich das jedoch irgendwie weniger entspannt an als in Basel. Aber vielleicht geht die Gentrifizierung ja weiter und Kreuzberg wird – eine andere Horrorvorstellung von mir – immer stärker wie die Schweiz ohne Berge.

Aerni: Liebäugelt man mit einer neuen Stadt?

Hein: Nicht wirklich.

Aerni: Weshalb nicht?

Hein: Es gibt doch diesen berühmten Spruch: „Wer es in Basel schafft, der schafft es überall!“ Und ich habe mich ja dort fast 30 Jahre irgendwie durch geschlängelt vor meinem Umzug zu den Schwoobe. Ich muss mir also nichts mehr beweisen. Und welche Stadt ist schon so abgründig und unterhaltsam wie Berlin? London oder New York? Ach was. Die haben dort doch nicht einmal einen Kreuzberg!

Aerni: Wenn ich ein Bild malen müsste, mit einem lesenden Menschen mit Ihrem Buch in den Händen, wie sollte es aussehen?

Hein: Ich träume davon, dass eines Tages jemand eine Dissertation zum Thema „Die Bergmetaphorik im Werk von Till Hein“ schreiben wird. Nein. Toll wäre ein ganzes Trämli oder eine ganze U-Bahn voll mit Menschen, die „Der Kreuzberg ruft“ lesen. Auf einer Lesungen in Bern wurde ich neulich gefragt: „Wollten Sie in erster Linie ein Buch für Schweizer oder für Deutsche schreiben?“ Also ich war da immer völlig offen. Die Österreicher mag ich zum Beispiel auch. Männer, Frauen, Kinder, ja sogar Zürcher: Alle dürfen das Buch kaufen. Und Nationalstaaten werden sowieso überschätzt. Die frohe Botschaft ist für alle!

 

 

Das Buch:

Till Hein: Der Kreuzberg ruft! – Gratwanderung durch Berlin, Verlag Be.bra, 978-3-8184-0194-0