von: H. S. Eglund
11. April 2021

Dicker Daumen und blauer Planet

Am 12. April 1961 startete Juri Gagarin in den Kosmos, als erster Mensch überhaupt. Die Raumfahrt begann als Wettrüsten, war ein Kind des Kalten Krieges. Doch sie läutete das solare Zeitalter auf der Erde ein. Das steht sechs Jahrzehnte danach fest.

Dieses Foto von Juri Gagarin ging nach seinem Raumflug um die Welt. © Promo

„Es geht los! Alles normal. Verfassung gut.“

Ich schaute auf die Uhr. Es war 9.07 Uhr Moskauer Zeit. Ich hörte ein Pfeifen und immer stärker werdendes Heulen und fühlte, wie der Rumpf des gigantischen Schiffes erzitterte und sich langsam, ganz langsam von der Startvorrichtung löste. Das Heulen war nicht stärker als in der Kabine eines Düsenflugzeuges, aber es enthielt viele Töne, die noch kein Komponist in Noten gesetzt hatte und die man weder mit einem Musikinstrument, noch mit menschlicher Stimme hervorbringen konnte. Die mächtigen Raketentriebwerke ließen die Musik der Zukunft erklingen, erregender und herrlicher als die größten Schöpfungen der Vergangenheit.

Diese Zeilen stammen aus dem offiziellen Bericht, den Juri Gagarin nach seiner Rückkehr für die sowjetische Parteizeitung Prawda (Wahrheit) schrieb. In der DDR erschien der Report in dem Büchlein Unser Flug in den Kosmos, der auch die zweite Raummission mit German Titow darstellte.

Die Textpassage lässt das angestaubte Pathos erkennen, das den offiziösen Bericht durchtränkt. Gagarin war Offizier, gerade 28 Jahre alt. Der Sohn russischer Bauern verdankte der Partei Stalins und Chrustschows seinen kometenhaften Aufstieg zum Weltstar. Anders als beispielsweise in den Memoiren des Physikers Andrej Sacharow war bei Gagarin keine Rede von den Millionen Arbeitssklaven des Gulag, auf denen sich das sowjetische Wirtschaftswunder gründete.

Blutiger Weg zu den Sternen

Der Weg zu den Sternen war blutig. Unzählige Häftlinge aus Stalins Lagern mussten die geheimen Raketenschmieden der Sowjets aus dem Boden stampfen. Ebenso das berühmte Sternenstädtchen und den Startplatz in Kasachstan – Baikonur – wurden von hungernden Menschen aus der kargen Erde gegraben. Die Zahl der Opfer ging in die Hunderttausende.

Sacharow, der Erfinder der sowjetischen Wasserstoffbombe, hat Ende der 1980er Jahre darüber geschrieben – Gagarin nie. 1968, als Sacharow unter dem Eindruck der Invasion in der Tschechoslowakei zum Bürgerrechtler wurde, war der junge und hoch dekorierte Kosmonaut bereits tot: abgestürzt beim Übungsflug mit einer MiG-15.

Auf der Erde wollte man wissen, was unter mir zu sehen sei. Deutlich zeichneten sich die Gebirge, die großen Flüsse, die Waldmassive, die Inseln und die Küsten der Meere ab. Die Wostock flog über dem Sowjetland. … Als ich auf den Horizont schaute, bemerkte ich einen deutlichen, stark kontrastierten Übergang von der hellen Erdoberfläche zum vollkommen schwarzen Himmel. Die Erde erfreute das Auge durch eine bunte Farbenpalette. Sie war von einer zartblauen Aureole umgeben. Der Streifen wurde immer dunkler, türkisfarben, blau, violett und ging schließlich in kohlschwarz über. Dieser Übergang war ein sehr schöner Anblick.

Der Preis für den schönen Ausblick war brutal hoch, viel Blut war im Spiel, von Beginn an: Die ersten Versuchstiere für die Sputniks wurden bedenkenlos geopfert, wie die Moskauer Straßenhündin Laika, die in der Atmosphäre verglühte. Später wurde das sowjetische Raumfahrtprogramm immer wieder von Katastrophen heimgesucht, oft vermeidbare Unfälle.

Als General Nedelin verglühte

So geschehen im Oktober 1960, beim Test einer neuen Interkontinentalrakete in Baikonur. Der zuständige General Nedelin ignorierte die Warnungen seiner Techniker, trieb sie zur Eile an. Der Plan aus Moskau musste erfüllt werden, Chrustschow wollte den erfolgreichen Test zum Jahrestag der Revolution präsentieren. Zum Zeichen seines bedingungslosen Vertrauens in die sowjetische Ingenieurskunst ließ Neledin seinen Schreibtisch genau unter die Düsen stellen.

Ein Fehler in der Schaltung startete die Zündung zu früh ein, und der General verglühte innerhalb einer halben Sekunde. Mit ihm starben 106 Militärs und Techniker, Sacharow sprach gar von 190 Opfern. Bis zum Ende der 1980er Jahre, bis zu Gorbatschows Glasnost, blieben solche Verluste streng geheim.

Hitlers Waffenjunge baut US-Raketen

US-Präsident Eisenhower verließ sich auf die Expertise des Raketeningenieurs Wernher von Braun und seines Teams, das 1945 mit der Aktion Paperclip aus der amerikanischen Besatzungszone in die Staaten ausgeflogen worden war.

Ab 1959 baute von Braun die NASA auf, stieg ein Jahr später zum Chef des Marshall Space Flight Centers in Alabama auf. Er war es, der Präsident Kennedy davon überzeugte, eine Landung auf dem Mond zu planen. Und von Brauns Leute waren es, die die ersten amerikanischen Raumflüge planten und die erforderlichen Trägermittel konstruierten.

Auch von Braun hatte Blut an seinen Händen. Unmittelbar zum Kriegsende begab er sich in die Hände der Amerikaner, weil ihn die Briten möglicherweise vor ein Kriegsgericht gestellt hätten. Vor dem Krieg hatte er in Kummersdorf südlich von Berlin an damals noch unbekannten Flüssigkeitsraketen geforscht.

Während des Zweiten Weltkriegs baute er die Raketenschmiede in Peenemünde auf und ließ im Vorharz ein Werk für V1- und V2-Geschosse errichten. Tausende Briten fanden bei den Bombardements ihrer Städte – vor allem von East London – den Tod. Die Zahl der toten KZ-Häftlinge, die in Peenemünde und in Mittelbau-Dora die deutschen Vergeltungswaffen bauen mussten, sind bis heute nur grob zu schätzen.

Geschosse für den Kalten Krieg

Auf Eisenhowers Order baute von Braun nach dem Krieg immer größere Raketen. Denn der Wettlauf um die Geschosse war essentiell für den Kalten Krieg. Den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki waren sowjetische Zündungen in Semipalatinsk und auf Nowaja Semlja gefolgt.

Mitte der 1950er Jahre hatten beide Supermächte ein beträchtliches Arsenal an Uranbomben und neuartigen Wasserstoffbomben angehäuft – mit unvorstellbarer Zerstörungskraft. Im Jahr 1961 testete die UdSSR die damals größte Fusionsbombe mit 100 Megatonnen, von der Andrej Sacharow sagte: „Dies ist natürlich noch nicht das Maximum.“

Wie Chrustschow und Kennedy standen sich Physiker gegenüber: Robert Oppenheimer und Edward Teller in den USA sowie Igor Kurtschatow und Andrej Sacharow im Osten. Das Gleiche wiederholte sich bei den Raketen, denn atomare Waffen sind ohne Trägersysteme wertlos.

Das war der eigentliche Hintergrund des Rennens um den ersten Menschen im All: Die Demonstration der Stärke, größere Lasten – Sprengköpfe oder Kapseln – an jeden Punkt der Erde bringen zu können. Das Territorium des Gegners jederzeit überfliegen und ausspionieren zu können, unerreichbar für die Luftabwehr vor Moskau oder Washington. (gekürzt)

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